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Großartiges Debüt

"Hamburger Hochbahn" ist der erste Roman des Kunstkritikers Ulf Erdmann Ziegler. Er überrascht durch seine ebenso komplexe wie kompakte Struktur. Gesättigt an gesellschaftlicher Wirklichkeit und reich an individuellen Erfahrungen zeichnet er das Porträt einer Generation.

Von Detlef Grumbach |
    Thomas Schwarz ist um die 40. Aufgewachsen im beschaulichen Lüneburg, hat er es über das Studium der Architektur in Braunschweig zum Manager für Kommunikation in einem großen Hamburger Architekturbüro gebracht.

    "Ich hatte ja gefürchtet, dass jemand sagt, das ist ein Bildungsroman. Es ist ein Gesellschaftsroman."

    Der Roman erzählt von Vorbildern und Träumen, vom ersten Sex und zwei großen Lieben, von einer großen Bewegung aus der Provinz in die Großstadt. Er erzählt von Thomas Schwarzens Jugendfreund und Grünen-Politiker Claes Philip Osterkamp, von seinem Studienkollegen Nader Serdani - ein Schelm, wer dabei nicht an Hamburgs Star-Architekten Hadi Teherani denkt.

    "Es ist auf keinen Fall ein Schlüsselroman, obwohl er bisweilen mit der Idee spielt, dass er das sein könnte."

    "Hamburger Hochbahn", der erste Roman des 1959 geborenen Kunstkritikers Ulf Erdmann Ziegler, überrascht durch seine Fülle an Stoff und seine ebenso komplexe wie kompakte Struktur. Gesättigt an gesellschaftlicher Wirklichkeit und reich an individuellen Erfahrungen zeichnet er das Porträt einer Generation. Im Fokus von Architektur und Stadtplanung erfasst er den Impuls, der von den Veränderungen des Jahres 1989 ausgegangen ist. Serdani will bauen, hat Ziele und kämpft für sie. Claes Philip Osterkamp ist Anhänger von Luhmanns Systemtheorie, surft im Wind des Zeitgeists durch das Meer der Möglichkeiten und passt die Welle ab, die ihn trägt. Er trägt zwar gebügelte Hemden, doch das müssen die Grünen aushalten.

    Thomas Schwarz befindet sich dagegen in einer extremen Mittellage. Seine Ziele sind bescheiden? Er hat Fenster für Reihenhäuser gezeichnet, ist in die Position eines Teamleiters für ein Sanierungsprojekt in Leipzig hineingestolpert, versucht sich, über Architektur zu schreiben.

    "Der Roman handelt von einem Konflikt zwischen der Vorstellung dessen, was man glaubt, werden zu wollen, und dem, was man wird. Und beides wird dekonstruiert, soweit es irgend möglich ist. Was man glaubt, werden zu wollen, ist ja möglicherweise das, was man werden sollte - es können ja fremde Kräfte sein, die einen dahin treiben. Und das, was man faktisch wird, ist möglicherweise das, was man am besten kann. Aber es kann sein, dass es sich davon weg entwickelt, was man glaubte, werden zu wollen, also dass die Differenz krasser wird. Und von diesen Ambivalenzen handelt der Roman."

    Zu Beginn erleben wir Thomas Schwarz im Anflug auf St. Louis/Missouri. Er begleitet seine Freundin, die Künstlerin Elise Katz, zu einer Gastprofessur, steigt für zwei Monate aus. Eine Ebene des Romans zeigt ihn im Amerika des Jahres 2002. Schon als Schüler war er hier gewesen, von dem, was ihn damals begeistert hat, ist wenig geblieben. Doch wächst die Versuchung, einfach dort zu bleiben. Dorthin hatte er immerhin erst reisen müssen, damit ihn mal jemand fragt, was er in Hamburg eigentlich leistet, damit er sich diese Frage auch selbst einmal stellt. Zur Antwort gehören die Rückblicke auf sein entscheidendes Jahr in Hamburg 1990, auf die Jahre zuvor in Lüneburg und Braunschweig. Lüneburg, das ist die Zeit der Schülerbands und Uher-Tonbandgeräte, der ausgebauten Dachböden, der Reihenhausträume. Ziegler erzählt von der ersten Liebe, von einer Tochter, von der man nicht sicher weiß, ob Schwarz wirklich der Vater ist, von einer verschworenen Clique, die zerbrechen muss, wenn der Horizont sich weitet. Hier liegen die Wurzeln von Thomas Schwarz, von Osterkamps. Es sind die gemeinsamen Erfahrungen in überschaubaren Verhältnissen, die ihre Wege durch Zeitgeist, Moden und Milieus prägen, es sind nur Nuancen, die sie unterscheiden. Thomas Schwarz stößt Karriere ihm eher zu als dass er sie forciert.

    "Sie sind alle aus dem gleichen Nest. Sie kommen sich sehr ähnlich vor. Ihr Verhalten, auch ihr libidinöses Verhalten hat ja schon fast etwas von einem Inzest. Und dieses Modell des kleinstädtischen Inzests, um es einmal zuzuspitzen, lässt sich nicht in die Glückspirale einer Metropole übertragen. Das ist ja gerade die Einsicht von Thomas Schwarz, dass er irgendwann sagt, Mensch, Hamburg ist gar nicht die ganz große Ausgabe von Lüneburg, wie wir dachten. Und dazu gehört das ganze biografische Set dazu."

    Nach dem Studium lockt Hamburg, eine Stadt, die herausgefordert ist durch die Öffnung der Grenzen. Osterkamp ist bei den Grünen und arbeitet in der Stadtplanung, spricht von der neuen Zeit, verpflichtet Thomas Schwarz für die Ideenkommission des Senats. Hier geht es um Architektur, um eine Philosophie der Stadt, um die Gestaltung von Lebensraum, um Beziehungen und Macht. Im Rathaus lernt Thomas Schwarz Elise Katz kennen, für einen Augenblick wächst er über sich hinaus, wird initiativ, macht etwas völlig Verrücktes. Doch schon fällt er wieder zurück in die Unauffälligkeit, die beiden werden eher durch sein Abwarten als durch sein Dazutun ein Paar. Schließlich begegnet er Nader Serdani wieder, bei einem Wettbewerb um den Bau einer Stadthalle in Holstein. Eigentlich soll er für den Entwurf seines Chefs werben, doch es kommt anders.

    "Dort springt er ja ein für den fast stummen Nader Serdani und interpretiert seinen Entwurf. Da merkt man, wie reflektiert Thomas Schwarz eigentlich ist. Nur, er spricht statt für den eigenen Entwurf des eigenen Büros für den Entwurf des anderen Büros. Und da merkt man, dass es stärker aus Thomas Schwarz spricht als er selbst. Nun, wenn es Ziel der Psychoanalyse ist, wo es war, soll ich werden, dann handelt der Roman davon, wie jemand versucht, dahin zu kommen. Aber das heißt ja nicht, dass es gelingt."

    Serdani erkennt die Qualitäten des Studienfreunds und macht ihm zum Manager für Kommunikation. Thomas Schwarz bleibt indifferent. In kleinsten Begebenheiten und großen Linien legt Ulf Erdmann Ziegler offen, auf welchem Humus seine Unentschlossenheit gewachsen ist, unter welchen Bedingungen sie gedeiht und wie er trotzdem seine Fähigkeiten entwickelt. So pendelt dieses großartige Debüt, eine Archäologe der Wünsche und der Möglichkeiten, zwischen Europa und Amerika, zwischen Lüneburg und Hamburg, zwischen Melancholie und Aufbruch. Ziegler beobachtet genau, bleibt mit seinen Bildern nah an der Wirklichkeit. Souverän übt er sich in ironischer Distanz, sanft entfaltet er das komische Potenzial, das in seinem Helden lauert. Wird Schwarz nach zehn Jahren Kommunikationsmanagement bei Serdani in St. Louis bleiben? Seine Freundin Elise zumindest trifft alle Vorbereitungen für eine dauerhafte Rückkehr nach Hamburg.