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Großbritannien
Brexit-Theater beim Edinburgh Festival

Noch immer steht die Kulturszene in Großbritannien nach dem Brexit-Votum unter einer Art Schock-Starre: Gerade Theatermacher sind oft angewiesen auf internationale Ko-Produktionen. Denn öffentlich finanziertes und in Institutionen verankertes Theater ist nicht üblich. Autoren und Regisseure arbeiten überwiegend in und mit freien Gruppen - so auch beim Edinburgh Festival.

Von Michael Laages | 21.08.2016
    Die Fahnen Schottlands, Englands, des Vereinigten Königreichs und der EU an einem Gebäude in Edinburg.
    Noch hängen in Edinburgh die Flaggen Schottlands, Englands, des Vereinigten Königreichs und der EU vereint zusammen. (afp / Lesley Martin)
    Überflüssig sei dieses Votum gewesen und ein Fehler - sagt der Dramatiker David Greig, dessen Stücke regelmäßig auch von deutschen Bühnen gespielt werden; und er empfinde es als zutiefst erniedrigend, wie dumm doch alle agiert hätten: alle Politiker, das politische System an sich, das ganze Land.
    Von den Autorinnen und Autoren aber erwartet er keine Schnellschuss-Kommentare für die Bühne - um etwas Substanzielles zu sagen und zu schreiben, sei noch viel Zeit vonnöten, im Moment seien sie alle noch viel zu nah dran.
    Aber stimmt das wirklich - sind sie zu nah dran? Im Traverse-Theater glänzt als Uraufführung ein Stück von Al Smith, der sich Motive bei Nikolai Gogol und aus dem "Tagebuch eines Wahnsinnigen" leiht - Christopher Haydons Inszenierung zeigt einen schottischen Handwerker, der Jahr um Jahr einer berühmten schottischen Eisenbahnbrücke den Schutzanstrich verpasst; jetzt wird dem einfachen Mann als Helfer ein junger Mann von der Uni zugewiesen. Und der weiß, dass es längst chemische Stoffe für Lasuren gibt, die nur alle 50 Jahre erneuert werden müssen - was soll da werden aus dem Job des Anstreichers? Und überhaupt wird die Brücke selbst gerade nach Abu Dhabi oder Katar oder sonst wohin verkauft. Da dreht der Alte durch; wie bei Gogol führt ihn ein sprechender Hund auf mythische Spuren - prompt hält der Alte sich zwar nicht (wie bei Gogol) für einen spanischen König, aber für den berühmtesten aller schottischen Freiheitskämpfer:
    Jetzt ist er also "Braveheart", wie Mel Gibson im Kino - noch so eine geschundene schottische Seele; in einem Land nach dem Brexit.
    Es geht um fundamentale Moral
    Mark Thomas nimmt die Kampagnen-Argumente sogar ganz direkt ins Visier; in "The Red Shed", einem extrem stimmungsvollen und politisch ambitionierten Theater-Solo, mit dem Thomas an den legendären einjährigen Bergarbeiterstreik vor über 30 Jahren erinnert; die Show, die durch England reisen wird, ist eine Hommage an die "Rote Scheune", eine linke politische Kulturkneipe, die im Städtchen Wakefield tatsächlich gerade 50 Jahre alt wird. Thomas analysiert: Ausgerechnet Minister Michael Dove, einer der vehementen Austritts-Befürworter, habe perfiderweise ja recht gehabt mit der Feststellung, dass weite Teile der Bevölkerung die Nase voll hätten von "Experten", die immer nur die Verarmung erklären. Thomas sagt, wann das begann: Schuld sei eben nicht Europa, sondern die fundamentale und brutale Kaltschnäuzigkeit, mit der Millionärs-Politiker und die Chefs globalisierter Offshore-Banken ganze Gemeinden geopfert hätten auf dem ideologischen Altar des Neo-Liberalismus. Mark Thomas hält diesen Strategen jene Hymne entgegen, mit der die Bergarbeiter damals in den Streik zogen - und in die Niederlage.
    Leise singt und summt das Publikum mit - viele der neueren englischen und schottischen Stücke erforschen auf diese Weise den Zustand des Selbstwertgefühls in einem zutiefst verstörten Land. Viel ist da zu entdecken in den Uraufführungen dieser Tage, auch für Übersetzer ins Deutsche - "Milk" etwa von Ross Dunsmore, eine Drei-Generationen-Fantasie über das, was uns am Leben hält (Muttermilch zum Beispiel); "Expensive Shit" von Adura Onashile, wo das Mädchen-Klo eines Tanzschuppens zum Ort der Träume wird. Wirkung zeigt auch Matthew Wilkinsons Rache-Drama "My eyes went dark", das die Geschichte jenes Russen aus Nord-Ossetien erzählt, der nach dem schauerlichen Flugzeug-Crash über dem Bodensee 2002 den Fluglotsen ermordet, der Mitverantwortung trug für das Unglück und den der Rächer als "Mörder" sieht. Um fundamentale Moral geht’s hier. Das ist typisch britisch in diesen Tagen.