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Großbritannien
Machtkampf um May-Nachfolge voll entbrannt

Wie geht es mit dem Brexit weiter? Auch nach der Rücktrittsankündigung von Großbritanniens Premierministerin Theresa May ist das völlig unklar. Im Rennen um ihre Nachfolge haben sich bei den Tories bereits elf Kandidaten in Stellung gebracht. Die größten Chancen hat wohl Ex-Außenminister Boris Johnson.

Von Jörg Münchenberg | 31.05.2019
Boris Johnson, ehemaliger Außenminister unter Theresa May
Der ehemalige britische Außenminister Boris Johnson gilt nach Ansicht der meisten Beobachter als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge von Premierministerin Theresa May (imago / Artur Widak)
Noch immer haben sie in Großbritannien- trotz Brexit-Schlamassel - alle Tassen im Schrank. Zumindest bestätigt das ein Besuch bei "Twinings", London ältestem Teeladen, den es immerhin an gleicher Stelle seit über 300 Jahren gibt. Tee – da war und ist britisches Nationalgetränk, sagt Expertin Marta Masala beim Gang durch den schmalen, aber langgestreckten Shop genau an der Grenze zwischen der City of London und Westminister:
"Großbritannien hat mit China mehrere Kriege um Tee geführt. Das zeigt schon wie wichtig und notwendig Tee ist für das tägliche Leben in Großbritannien. Ein anderes Beispiel: während des Zweiten Weltkriegs hat Churchill verfügt, dass Tee erst ganz zum Schluss rationiert wurde. Und Churchill war in großer Sorge vor den Bomben, die die Tee-Lagerhäuser zerstören könnten. Deshalb hat er neben den Kindern auch Tee aufs Land verschicken lassen, der dort dann auf 500 verschiedene Orte verteilt worden ist".
Auch heutzutage ist eine gute Tasse Tee aus dem täglichen Leben der Briten nicht wegzudenken, immerhin hier ist sich das sonst so gespaltene Land einig. Und welche Sorte, so die Frage am Tee-Expertin Masala, kann auch Hitzköpfe wieder beruhigen?
"Nichts ist so gut wie ein Kamille-Tee am Abend. Oder, alles was Dich glücklich macht. Tee ist sehr individuell, jeder hat seine Vorlieben gerade hier in Großbritannien. Da geht es um Vertrautheit und Behaglichkeit, die Tee verleiht".
Ex-Außenminister Boris Johnson aussichtsreichster Kandidat
Doch davon kann im politischen Leben bei aller Teeliebe der Briten keine Rede sein. Im Dauerstreit um den Brexit hat Theresa May inzwischen hingeworfen, am 7. Juni wird sie zurücktreten. Unterdessen hat das Schaulaufen der möglichen Nachfolger bei den Tories längst begonnen – selbst die altehrwürdige BBC kommt kaum hinterher, die vielen Kandidatinnen und Kandidaten vorzustellen.
Ex-Außenminister Boris Johnson gilt nach Ansicht der meisten Beobachter weiterhin als aussichtsreichster Kandidat für die May-Nachfolger, trotz einer mutmaßlichen Falschaussage zum Brexit. Johnson, begnadeter Rhetoriker und Charmeur, zugleich sprunghaft und eitel, steht für den harten Brexit, also ein Austritt Großbritanniens auch ohne Abkommen zum 31. Oktober dieses Jahres. Aber auch andere Bewerber um den Parteivorsitz und das Amt des Premiers setzen auf eine radikale Lösung:
"Wir sind draußen zum 31. Oktober. Dafür planen wir, auch für einen No-Deal. Die Tür ist offen – wenn die EU zurückkommen will und neue Angebote macht, begrüßen wir das. Und wenn nicht – die Tür bleibt offen, aber wir sind dann trotzdem draußen".
betont etwa die ehemalige Arbeitsministerin und erbitterte May-Gegnerin Esther McVey. Doch auch beim ehemaligen Vizeparteichef der Tories, James Cleverly, der nun ebenfalls seinen Hut in den Ring geworfen hat, klingt das letztlich nicht viel anders:
"Wir können einen Brexit auch ohne Deal abliefern. Das ist nicht mein Wunsch, das ist nicht erstrebenswert. Aber es ist machbar. Und wir müssen uns klar sein: keinen Brexit zu liefern, würde nur noch mehr Schaden anrichten – für unser politisches Ansehen, für das ganze Land".
Dabei hatte der Speaker des Unterhauses, John Bercow erst in dieser Woche klargestellt: einen No-Deal-Brexit könne es nur mit dem Parlament geben, genau das aber hatten die sonst so zerstrittenen Abgeordneten bislang stets mehrheitlich abgelehnt. Das sei Verpflichtung, sagt deshalb Entwicklungshilfeminister Rory Stewart, der ebenfalls gerne Premier werden will:
"Wenn sie No-Deal hören, dann klingt das so einfach. Wir sind draußen. Die Wahrheit aber ist: das Parlament wird das nicht zulassen. Also kann das nur mit dem Parlament gemacht werden. Also brauchen wir jemand, der verhandeln kann".
Radikal-kämpferisch statt moderat
Doch solche moderaten Töne sind im Wettbewerb um die Spitzenposten eher selten. Die meisten der mittlerweile 11 Kandidaten geben sich eher radikal-kämpferisch in Sachen Brexit, auch weil die Hardliner und Boris Johnson den Takt vorgeben. Dabei, so warnt auch Finanzminister Philipp Hammond, werde ein neuer Parteichef und Premierminister – denn vermutlich wird es ein Mann – an der Arithmetik im Parlament erst mal nichts ändern:
Und das ist beim Brexit genauso gespalten wie das ganze Land. Schützenhilfe von der EU ist auch nicht zu erwarten – das macht der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, CDU nach einem Vortrag in London noch einmal klipp und klar deutlich:
"Das ist eine Illusion. Und die wird auch nicht wahrer, wenn man sie permanent wiederholt. Das Austrittsabkommen ist verhandelt. Wenn jetzt Herr Johnson oder Herr Gove statt Theresa May kommt, dann ist das für keinen in Europa ein Argument, abgeschlossene Verhandlungen wieder zu öffnen.
Die Lage bleibt also höchst kompliziert – trotz der anstehenden Klärung der Machtfrage bei den Tories. Einen gut gemeinten Rat hat Röttgen dann aber doch an die britischen Parteifreunde, bevor er wieder ins Auto steigt:
"Das Referendum ist ja noch nicht einmal ein Gesetz gewesen. Das war ja ein rechtlich nicht bindender Beschluss. Und hier glaubt man, das ist ein Gottesurteil, dem man nun zu dienen hat. Indem man dieses knappe Referendum sakrosankt stellt, schafft man, glaube ich, die Bedingungen dafür, dass man aus der Falle nicht rauskommt. Also man muss raus aus der Falle und das kann nur das Volk".
In Form eines zweiten Referendums oder Neuwahlen. Oder am Ende doch der harte Brexit? Vorerst wird es keine klaren Antworten geben. Sicher ist nur: der erbitterte Streit über den richtigen Weg zum Brexit geht weiter. Daher, so Twinings-Expertin Marta Masala, rate sie den Politikern, auf Kaffee möglichst zu verzichten. Empfehlenswert sei stattdessen starker schwarzer Tee, der mache am Morgen wach und munter vor der Arbeit. Nichts, so Masala, gehe über eine gute alte Tasse Tee.