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"Großdeutsches" Debakel

Mit einer zusammengewürfelten Mannschaft aus Deutschen und Österreichern soll Nationaltrainer Sepp Herberger 1938 die Überlegenheit des "Großdeutschen Reiches" demonstrieren. Doch schon in der ersten Runde scheidet die nicht aufeinander abgestimmte Mannschaft aus. Nie wieder scheiterte ein deutsches Team so früh bei einer Weltmeisterschaft.

Von Ole Schulz |
    4. Juni 1938: Auf dem Rasen des Pariser Prinzenpark-Stadions stehen sechs deutsche und fünf österreichische Nationalspieler in Reih und Glied. Auf ihren Trikots prangen ein Reichsadler und das Hakenkreuz. Als sie die Arme zum Hitlergruß erheben, ertönen Pfiffe aus dem Publikum.

    Es ist das erste Spiel Deutschlands bei der Fußballweltmeisterschaft 1938 in Frankreich. Gegen die Schweiz geht es gleich um den Einzug ins Viertelfinale.
    Die Deutschen gelten als Favoriten – auch wenn sie mit einer neuformierten Mannschaft antreten: Mit dabei sind Spieler aus dem erst drei Monate zuvor ans Deutsche Reich "angeschlossenen" Österreich. In nur zehn Wochen sollte Reichstrainer Sepp Herberger aus Fußballern beider Länder eine Meisterelf formen.

    Der ehrgeizige Herberger genoss die Unterstützung der NS-Machthaber und hatte den deutschen Fußball international ins Rampenlicht gerückt. Nach einem überragenden 8:0-Sieg gegen Dänemark im Mai 1937 in Breslau sprach man von der "Breslau-Elf". Laut Herberger befand man sich auf einem guten Weg:

    "Unsere Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft – `unsere´ da meine ich die `altdeutsche´ Mannschaft – die war 37 gut angelaufen. 37 war ja das Jahr der Breslau-Elf und unsere Nationalmannschaft hat in diesem Jahr eine Bilanz geschaffen wie keine andere Mannschaft zuvor und nachher. Wir haben elf Spiele ausgetragen, zehn davon gewonnen und eins nur ging unentschieden aus."

    In Paris hilft das alles nichts: Die Zuschauer unterstützen die Schweizer wegen Hitlers aggressiver Expansionspolitik. Und nach 120 umkämpften Minuten bleibt es nach Verlängerung bei einem 1:1 Unentschieden. Nach damaligem Reglement wird ein Wiederholungsspiel angesetzt.
    Nationaltrainer Herberger hatte das Unheil kommen sehen: 5 oder 6 österreichische Spieler sollte er in die "großdeutsche" Mannschaft integrieren, so lautete die Vorgabe der NS-Funktionäre. Im März war Deutschland in Österreich einmarschiert; der "Anschluss" von Hitlers Heimat ans "Altreich" sollte nun auch bei der Weltmeisterschaft in Frankreich auf dem Rasen demonstriert werden.
    Doch das war keine leichte Aufgabe, zu unterschiedlich war der Fußballstil beider Länder: Während die legendäre "Wiener Schule" für ein technisch versiertes Kombinationsspiel stand, bevorzugten die Deutschen das zielgerichtete, kraftvolle Spiel mit langen Bällen.
    "Aus zwei guten mach’ eine Bessere! Oh heilige Einfalt!", schrieb Herberger in sein berühmtes Notizbuch.

    "Es gab für jeden Einsichtigen und einigermaßen Sachkundigen gar keine Frage darüber, dass jede der beiden Mannschaften besser abgeschnitten hätte als die zusammen fusionierte."

    Auch laut Fritz Buchloh, dem Ersatztorhüter der Deutschen, war es fast unmöglich, die gegensätzlichen Fußballsysteme Österreichs und Deutschlands zusammenzuführen:

    "Die Österreicher spielten noch den offenen, fröhlichen, freien Fußball über das ganze Feld hinweg, wie sie immer gespielt hatten und die Deutschen vorher auch einmal.
    Und das haute auf Anhieb einfach nicht hin."

    9. Juni 1938: Im Pariser Prinzenpark steht die Wiederholung des WM-Achtelfinales zwischen Deutschland und der Schweiz an. Wieder ist das Publikum auf Seiten der Schweizer, und die Stimmung ist ähnlich hitzig wie fünf Tage zuvor.
    Erneut stehen fünf Österreicher und sechs Deutsche in der Startelf. Herbergers Aufstellung ist ein gewagtes Vorhaben, denn in dieser Formation hat die deutsche Nationalmannschaft noch nie gespielt. Aber der Plan scheint aufzugehen: Schon nach 22 Minuten führen die Deutschen mit 2:0. Es sieht alles nach einem Triumph "Großdeutschlands" aus.

    Doch dann nimmt das Unglück seinen Lauf: Kurz vor der Pause schießt die Schweiz den Anschlusstreffer. Danach stürmen die Deutschen unablässig – aber es sind wieder die Schweizer, denen ein Tor gelingt: 2:2 Ausgleich in der 64. Minute.
    Zehn Minuten später trifft Andre Abbeglen mit einem Schuss unter die Latte zur erstmaligen Führung für die Schweizer. Kurz darauf ist es wieder Abbeglen, der den 4:2 Endstand erzielt.
    Der deutsche Ersatztorhüter Fritz Buchloh erinnert sich:

    "Die Deutschen waren überlegen, sie spielten im Feld wunderschön, nur machten sie keine Tore und, was notwendig war, das taten die Schweizer."

    So früh wie in Frankreich 1938 ist nie wieder eine deutsche Mannschaft bei einer Weltmeisterschaft ausgeschieden. In der Heimat werden anschließend Schuldige gesucht. Sepp Herberger rechtfertigt sich vor wütenden NS-Funktionären, man habe in einem "Hexenkessel" verloren, und der Einsatz der österreichischen Spieler sei "unzulänglich" gewesen.
    Unstrittig ist zumindest eines: Die Nationalsozialisten waren an den Unwägbarkeiten des Fußballs gescheitert.