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Große Koalition darf nicht scheitern

Der scheidende Bundesratspräsident und Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Peter Harry Carstensen, hat Bundeskanzlerin Merkel verteidigt. Es sei "ein schwieriger Haufen", mit dem sie in Berlin regieren müsse, betonte Carstensen. In Fragen der Gesundheitsreform oder der Solidarität der Bundesländer untereinander, plädierte er dafür, "die parteipolitischen Spielwiesen mal ein bisschen zur Seite zu schieben". In ferner Zukunft hält Carstensen eine Fusion von Hamburg und Schleswig-Holstein zu einem Nordstaat für möglich.

Moderation: Rainer Burchardt |
    Burchardt: Herr Ministerpräsident Carstensen, am vergangenen Freitag ist Ihr Nachfolger als Bundesratspräsident gewählt worden, Ihr Kollege aus Mecklenburg-Vorpommern, Harald Ringsdorf, den Sie auch durchaus schon mal – ich will mal sagen – bei einer öffentlichen Diskussion so ein bisschen "auf die Schippe genommen" haben im Zusammenhang mit der Konkurrenz der Bundesländer untereinander. Sie haben, als Sie angetreten sind, gesagt, Sie wollen in Ihrer Amtszeit gucken, dass in Sachen Föderalismusreform einiges auf den Weg kommt, Transparenz und Kooperation. Ist weiter gesichert, dass alle Bundesländer kooperieren oder die Eigeninteressen möglicherweise zunehmen?

    Carstensen: Nun, erst einmal hat jeder Ministerpräsident die Aufgabe, für die eigenen Interessen und für die Interessen seines Bundeslandes zu sorgen. Das ist natürlich auch das Prinzip des Föderalismus. Wir haben einen Föderalismus, bei dem der Wettbewerb, wenn er unter bestimmten Bedingungen und sehr fair gemacht wird, ein ganz positives Element ist. Und insofern sehe ich da gar keine Schande, wenn ein Ministerpräsident dann auch die Interessen seines Landes vertritt. Ich vertrete die Interessen meines Landes und werde das auch weiterhin machen. Ich bin vereidigt auf die Interessen meines Landes. Aber ich glaube, wir sind in Sachen Föderalismus in diesem Jahr sehr viel weiter gekommen. Wir haben die Föderalismusreform beschlossen, und das war eine Stärkung des Föderalismus, weil wir wieder klarere Verhältnisse bekommen haben.

    Burchardt: Kann man da so sicher sein? Diese These hört sich gut an, aber auf der anderen Seite haben wir ja gerade am Beispiel der Gesundheitsreform und den damit verbundenen Querelen, auch gerade der Unions-Ministerpräsidenten untereinander, haben wir doch gegenteilige Erfahrungen machen müssen, dass doch der eine oder andere, auch im eigenen Interesse natürlich, versucht hat, quer zu schießen.

    Carstensen: Also, ich weiß gar nicht, warum man auf Unions-Ministerpräsidenten hinweist . . .

    Burchardt: . . . weil sie es waren . . .

    Carstensen: . . . ja, ja, es gibt ja nicht viele andere, also insofern ist es völlig klar, dass das Unions-Ministerpräsidenten sind. Aber auch hier gilt es, und ich mache da bei mir ja auch kein Hehl draus: Wenn ich dort eine stärkere Belastung meines Bundeslandes bekomme, muss ich mir überlegen, wie ich mein Abstimmungsverhalten dann gestalte.

    Burchardt: Wie verträgt sich das mit Ihrer Idee, möglicherweise mit Hamburg zu fusionieren zu einem kleinen Nordstaat?

    Carstensen: Na ja, wir gucken uns an, was besser ist für unsere Bürgerinnen und Bürger. Wir arbeiten zusammen, die Konkurrenz an der Grenze ist nicht das, was uns nach vorn bringt. Und wenn ich einen Arbeitslosen in Norderstedt habe, dann fragt der nicht danach, ob er einen Arbeitsplatz in Fuhlsbüttel in Hamburg bekommt oder einen Arbeitsplatz in Henstedt-Ulzburg in Schleswig-Holstein, der sagt: "Sorgt ihr beiden Kerle dort, die ihr dort oben sitzt – Ole von Beust und Peter Harry Carstensen –, sorgt dafür, dass ihr Arbeitsplätze schafft!

    Burchardt: Ein Ministerpräsident müsste sich dann abschaffen. Würden Sie dann nach Hause gehen?

    Carstensen: Wir sind noch lange nicht so weit. Und ein Ministerpräsident würde abgeschafft werden, das würde auch weiterlaufen können, ich hätte überhaupt keine Bedenken dazu. Aber erst einmal müssen das nicht die Ministerpräsidenten entscheiden, sondern das müssen die Bürgerinnen und Bürger entscheiden. Und ich erinnere daran, dass die Bürger jetzt ja schon entscheiden über die Grenze hinweg. Jeden Tag pendeln aus den südlichen Kreisen Schleswig-Holsteins rund 160.000 Menschen nach Hamburg, um dort zu arbeiten. Und es pendeln 70.000 bis 80.000 raus aus Hamburg, um in Schleswig-Holstein zu arbeiten. Arbeitsplätze bei Airbus sind Arbeitsplätze für schleswig-holsteinische Arbeitnehmer, Arbeitsplätze im Hamburger Hafen sind Arbeitsplätze für Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner. Deswegen haben wir ein Interesse dran. Und es geht gar nicht darum, jetzt eine virtuelle Diskussion zu führen über den Zusammenschluss, sondern es geht darum, eine Diskussion zu führen, wie wir miteinander zusammenarbeiten.

    Burchardt: Aber Sie haben die Diskussion losgetreten. Was war der Anlass für Sie?

    Carstensen: Ich kann das nicht sagen, dass ich sie losgetreten habe, die ist von anderen losgetreten. Aber ich habe auch nichts dagegen, und ich werde meine Politik so ausrichten, dass wir einem möglichen Zusammenschluss, der vielleicht in einigen Generationen kommen kann, nichts in den Weg legen. Aber ich sage es nochmal: Wenn Hamburg Flächen braucht als Ausgleichsflächen für eine Erweiterung von Airbus oder wenn Hamburg Verklappungsgebiete braucht für das Ausbaggern von Hafenschlick aus dem Hamburger Hafen, dann steht Schleswig-Holstein zur Stelle, dann helfen wir, weil wir ein Interesse an Arbeitsplätzen nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern auch in Hamburg haben.

    Burchardt: Sie haben sicherlich nicht ohne Hintersinn das Stichwort Airbus jetzt in den letzten zwei Minuten drei Mal erwähnt. Es ist ja zur Diskussion gestellt, dass der Staat einsteigt, um es mal auf eine platte Formel zu bringen – also eine Beteiligung möglicherweise des Bundes oder vielleicht auch des Landes Hamburg an EADS beziehungsweise an Airbus. Ist das wirklich schlau?

    Carstensen: Also, erst einmal hat der Staat schon sehr viel getan, dass Airbus da ist. Und die Aktivitäten, die Hamburg gebracht hat, sind enorm und sind an sich dankenswert. Wenn diese Aktivitäten nicht dort gewesen wären, wäre Airbus nicht da. Wenn die Bundesrepublik sich nicht so stark eingeschaltet hätte, wäre Airbus sicherlich nicht in Hamburg. Jetzt geht es erst einmal darum, dieses sauber zu analysieren. Ich halte nicht viel davon, jetzt schon, ohne dass man hundertprozentig informiert ist – und ich werde mich in den nächsten Tagen informieren mit Ole von Beust, wir haben das verabredet – und dann schon über irgendwelche neuen Überlegungen zu sprechen. Wir sollten da mal ein bisschen gelassener, aber auch sauberer an die Arbeit rangehen, nicht nur draußen darüber reden, sondern erst einmal unsere Hausaufgaben machen und die internen Gespräche führen. Und dann können wir alles andere überlegen.

    Burchardt: Man hat so den Eindruck in diesen Tagen, dass Ihr Kollege von Beust in Hamburg sich ein bisschen weit aus dem Fenster gelehnt hat. Er ist ja auch von der Bundeskanzlerin – ich will jetzt nicht sagen "zurückgepfiffen worden", aber zumindest wurde seine Äußerung relativiert: Man wolle, in dem Sinne, wie Sie das jetzt gesagt haben, alles noch einmal überprüfen. Es gibt aber auch Leute, die sagen: Das ist mal ein Weg wieder in eine gelenkte Staatswirtschaft eines großen Konzerns – oder anders formuliert, eine Formel aus früheren Tagen: Sozialisierung der Verluste.

    Carstensen: Ja, ich habe überhaupt keine Veranlassung, an Ole von Beust dort Kritik zu üben, sondern der hat natürlich ein Interesse, dass diese Arbeitsplätze in Hamburg erhalten werden, genau so, wie wir in Schleswig Holstein ein Interesse haben. Ich erinnere daran, wie viele Zulieferbetriebe wir aus Schleswig-Holstein haben, die für Airbus arbeiten. Und insofern geht es darum, wirklich darum zu analysieren und dann sich gemeinsam an den Tisch zu setzen – ohne viel Öffentlichkeit dabei –, um dann zu guten Beschlüssen zu kommen.

    Burchardt: Herr Carstensen, Sie haben vorhin von der direkten Beteiligung der Bürger gesprochen, und dass noch mehr direkte Beteiligung vonnöten sei. Dass Politik bürgernah gestaltet werden muss, haben Sie in Ihrer Rede vor einem Jahr gesagt. Aber sieht man nicht teilweise, auch gerade in den Bundesländern, eine gegenteilige Bewegung? In Hamburg wird möglicherweise das Wahlrecht geändert und die direkte Wahlbeteiligung – plebiszitere Beteiligung – der Bürger mehr oder weniger ausgehebelt. Auch in Kiel bei der Direktwahl der Oberbürgermeister soll möglicherweise jetzt etwas anderes eingeführt werden. Also, wie passt das zusammen mit Ihrer Formel: "Wir brauchen noch mehr direkte Politikbeteiligung", die möglicherweise auch deshalb sinnvoll wäre, weil im Augenblick – na ja – ein ziemlicher Vertrauensverlust in die Politik, auch in den Umfragen, erkennbar ist.

    Carstensen: Ich glaube nicht, dass die Wahl eines Oberbürgermeisters oder die Wahl eines Landrates sehr viel mit direkter Bürgerbeteiligung zu tun hat. Wenn wir dort eine Wahlbeteiligung von 16 und 17 Prozent – und noch weniger – haben, und dann 60 Prozent einen Landrat wählen, ist das keine große Beteiligung gewesen. Dann, glaube ich, ist das ein recht formaler Beteiligungsakt gewesen. Nein, es geht darum, ob wir Politik stärker am Bürger ausrichten. Ich bin jeden Tag bei meinen Bürgerinnen und Bürgern!

    Burchardt: Aber was sagen Sie einem Hartz-IV-Empfänger, der sagt: "Lieber Herr Ministerpräsident, tu doch bitte mal was dafür, damit ich aus dieser Misere herauskomme!"

    Carstensen: Dann sage ich ihm: Wir gucken uns mal gemeinsam die Zahlen in Schleswig-Holstein an. Wir gucken mal an, dass Schleswig-Holstein im Moment weit vorne liegt, wenn es um den Abbau von Arbeitslosigkeit geht. Wir haben vor zwei Jahren an Platz 9, Platz 10 in der Arbeitslosenstatistik des Bundes gestanden – zehntes Land, neuntes Land! Wir sind jetzt auf Platz fünf, wir haben jetzt die Hessen vor uns! Also, wir haben unsere Arbeit gemacht. Es sollen alle mal die Arbeit zu Hause machen, nicht so viel auch in der Presse präsent sein, sondern wirklich zu Hause ordentlich die Arbeit machen, dafür zu sorgen, dass wir Rahmenbedingungen für unsere Wirtschaft bekommen. Das sind nämlich diejenigen, die die Arbeitsplätze schaffen. Dafür zu sorgen, dass wir entbürokratisieren, dafür zu sorgen, dass die Solidarität nicht nur untereinander, sondern auch zur nächsten Generation gewahrt wird. Und das macht mir viel mehr Sorgen! Mir macht Sorgen, dass ich keinen finanziellen Handlungsspielraum mehr habe, weil ich so viel Geld für Zinsen ausgebe – mehr als drei Mal so viel, wie ich für Zukunftsaufgaben in Universitäten und in Forschung ausgeben kann. Das ist das, was uns kaputt macht. Und deswegen müssen wir davon runter, deswegen müssen wir ein bisschen zurückstecken, deswegen müssen wir dafür sorgen, dass wir unsere Haushalte in Ordnung kriegen. Aber die kriegen wir auch nur in Ordnung, wenn wir dafür sorgen, dass wir uns nicht verzetteln in den vielen Aufgaben in der großen starken Bürokratie, die wir inzwischen aufgebaut haben.

    Burchardt: Wahrscheinlich steckt hinter Ihrer letzten Bemerkung auch ein wenig der Gedanke daran, was wird jetzt gemacht mit den steigenden Steuereinnahmen, wie werden die sinnvoll angewandt? Und interessant ist ja, dass man gerade in den letzten Wochen wieder gehört hat – auch von der von Ihnen jetzt eben zitierten politischen Klasse – 'das ist ja wunderbar, möglicherweise können wir dann ja die dreiprozentige Mehrwertsteuererhöhung zum Jahresende dann doch zur Disposition stellen'. Wenn ich mich nicht ganz täusche, hat auch Ihr Wirtschaftsminister Austermann in diese Richtung schon mal solche Anregungen in die Welt gesetzt.

    Carstensen: Aber wenn Sie sich wirklich nicht ganz täuschen, werden Sie festgestellt haben, dass der Ministerpräsident gesagt hat: Nein. Das ist der Fehler, den wir die letzten Jahrzehnte schon gemacht haben. Immer, wenn mal ein bisschen mehr Geld in die Kassen kam, haben wir das ausgegeben. Und wir haben es nicht für ein Jahr ausgegeben, wie es denn in die Kasse gekommen ist, etwa die Steuer. Auf mehr Steuereinnahmen für die nächsten Jahre kann ich mich nicht verlassen, die kann ich nicht beschließen, sondern auf die muss ich warten, für die muss ich arbeiten. Aber die sind auch wieder runtergegangen. Aber die Beschlüsse, die wir politisch gemacht haben vor dem Hintergrund von Steuereinnahmen in einem Jahr waren immer Ausgabenbeschlüsse, die langfristig nachher wirksam gewesen sind. Und wenn ich heute einen Beschluss mache und sage, ich habe heute mehr Steuereinnahmen, dann gilt dieser Beschluss auch in zwei und in drei und in vier und in fünf Jahren, wenn die Steuereinnahmen nicht mehr da sind. Nein, Steuereinnahmen müssen zur Senkung der Schulden auch benutzt werden, sie müssen zur Senkung auch von Lohnnebenkosten benutzt werden. Dafür wäre ich noch einverstanden, und das ist das, was wir auch bei der Mehrwertsteuer machen müssen: Wir müssen dafür sorgen, dass wir wieder wettbewerbsfähig werden, und wir müssen die Solidarität mit der nächsten Generation nach vorne schieben. Und insofern ist es unbedingt notwendig, dass wir unsere Haushalte in Ordnung bringen!

    Burchardt: Ist es ganz und gar ausgeschlossen, dass möglicherweise auch diese dreiprozentige Mehrwertsteuererhöhung weiter zum Bürgerverdruss führen wird und dass die Leute dann eben eine andere Richtung einschlagen, als die von Ihnen eben zitierte und gewünschte, und sagen: "Ja, das sind die Politiker!"

    Carstensen: Ich kann das den Bürgerinnen und Bürgern auch einreden. Aber ich kann auch mal als Schleswig-Holsteiner nach Dänemark gucken – 25 Prozent Mehrwertsteuer! Die Dänen melden in diesem Jahr 1,5 Prozent Staatsüberschuss nach Brüssel, wir melden drei Prozent Minus nach Brüssel. In Flensburg habe ich 14,7 Prozent Arbeitslosigkeit, und dann marschiere ich mal zwei Kilometer weiter nach Norden über die Grenze rüber, und dann habe ich 3,7 Prozent Arbeitslosigkeit.

    Burchardt: Da muss man aber das Einkommensteuergesetz in Dänemark . . .

    Carstensen: . . . man muss alles miteinander vergleichen. Sie haben ja die Frage gestellt nach der Mehrwertsteuer. Wir sind noch lange nicht auf dem dänischen Niveau. Wir sind noch lange nicht auf dem europäischen Niveau. Wir sind noch lange nicht auch bei der Steuerbelastung, die wir in Dänemark haben. Also, gemach, gemach. Es sind ein paar Faktoren mehr, ich kann den Leuten das einreden. Aber ich glaube, genau das wäre das Falsche, sondern wir müssen hier versuchen und deutlich machen, dass wir ein Ziel vor Augen haben. Und dieses Ziel muss sein: Haushaltskonsolidierung.

    Burchardt: Herr Carstensen, Sie haben eben auch in einer Ihrer Antworten die Hochschulförderung genannt und gesagt: Wir haben nicht genug Geld, wir würden da gerne mehr reinstecken. Nun ist, gerade auch im Sinne der Föderalismusreform, schon eine größere Zuständigkeit wieder bei den Bundesländern gelandet. Aber birgt das nicht auch die Gefahr, dass es eher die Unterschiede noch weiter verstärkt anstatt zu nivellieren, im Positiven zu nivellieren?

    Carstensen: Also, die Gefahr ist sicherlich gegeben, und deswegen brauchen wir in dem Wettbewerb zwischen den Bundesländern auch faire Wettbewerbsbedingungen. Und deswegen kommen wir in dem Wettbewerb auch nicht ohne Solidarität miteinander aus. Es wird immer reiche und es wird immer arme – oder ärmere – Bundesländer geben. Und wir werden immer einen Ausgleich brauchen. Und ich erinnere daran, dass zum Beispiel das Land Bayern, der Freistaat Bayern, 30 Jahre lang Geld aus dem Länderfinanzausgleich bekommen hat. Sie haben exzellent damit gewirtschaftet! Was Franz-Josef Strauß mit dem Geld gemacht hat, war exzellent, überhaupt gar keine Frage. Deswegen stehen sie so da, und deswegen . . .

    Burchardt: . . . klagen sie jetzt, weil es ihnen nicht mehr so gut geht.

    Carstensen: Gemach, gemach, wir vergleichen das mal mit anderen Ländern. Und dann geht es den Bayern schon nicht so ganz schlecht, will ich mal sagen . . .

    Burchardt: . . . oder haben die keinen Grund zu klagen?

    Carstensen: Ich glaube nicht, dass sie Grund zum Klagen haben. Ich glaube, es hat kaum einer Grund, zu klagen. Wir brauchen die Solidarität unter den Ländern, das ist nicht nur eine Solidarität zwischen West und Ost, sondern das ist auch eine zwischen Nord und Süd. Das ist nicht eine zwischen großen und kleinen Ländern, sondern das ist eine zwischen den Ländern, die im Moment gut dastehen, und den Ländern, die nicht so gut dastehen. Aber wir brauchen auch eine gewisse Gerechtigkeit da drin, dass diejenigen, die sich anstrengen – und wir in Schleswig-Holstein tun das – nicht ins Hintertreffen geraten, dass sie nicht noch bestraft werden dafür, dass sie eine exzellente Politik machen, eine Sparpolitik machen, dass sie ihren Bürgerinnen und Bürgern was zumuten. Und andere – ich hätte fast gesagt – geben das Geld aus, und nach dem Länderfinanzausgleich stehen sie genau so da, wie diejenigen, die sich anstrengen. Da muss sich Politik auch wieder lohnen.

    Burchardt: Schleswig-Holstein ist ja eines der wenigen Bundesländer, die sich bisher noch nicht festgelegt haben in Sachen Studiengebühren. Was haben Sie da im Kopf und vor allen Dingen: Was soll dann mit dem Geld geschehen?

    Carstensen: Was ich im Kopf habe, ist völlig klar: Ich möchte die Studiengebühr haben. Ich halte es für dringend notwendig . . .

    Burchardt: . . . also die 500 Euro . . .

    Carstensen: . . . 500 Euro im Semester, das sind 1000 Euro im Jahr. Das ist wesentlich weniger als das, was meine Eltern in Schleswig-Holstein . .
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    Burchardt: . . . hätten Sie damals studieren können?

    Carstensen: Ich hätte studieren können, ich habe auch so was bekommen, und ich habe immer gearbeitet. Das ist aber eine andere Zeit gewesen. Und nachdem, was ich verdiene, wäre ich auch in der Lage gewesen, ein Darlehn zurückzuzahlen. Das sind diejenigen, die nachher auch bessere Verdienstmöglichkeiten haben. Das muss man eben auch sehen. Wir fordern von Meistern auch ab, dass sie ihre Meisterprüfung selbst bezahlen und die Ausbildung auch selbst bezahlen. Aber . . .

    Burchardt: . . . also, die Studiengebühren in Schleswig-Holstein werden kommen . .
    .
    Carstensen: . . . aber es geht, lassen Sie mich das mal bitte sagen – nein, wir wissen nicht, ob sie kommen. Ich würde sie gerne haben, aber wir haben im Koalitionsvertrag natürlich einen Passus stehen – ich habe eine große Koalition – , da steht drin, dass wir nicht Vorreiter werden bei Studiengebühren, aber auch keine Insellösung zulassen. Und die Insellösung wird so ausgelegt, dass eben in Norddeutschland alle für die Studiengebühr sein müssen, dann werden sie hier auch kommen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir in wenigen Jahren in allen Bundesländern eine Studiengebühr haben werden. Und ich kann an sich nur auffordern bei denjenigen, die im Moment noch so dagegen arbeiten, dass die sich aus der selbst gebauten Falle langsam befreien, weil wir es bekommen werden. Aber es gibt auch Bedingungen dafür: Erstens müssen wir ein Stipendien- und Darlehnssystem bekommen, dass jeder auch in der Lage ist, zu studieren. Jeder darf und muss studieren können und darf nicht dran gehindert werden dadurch, dass die Eltern oder er selbst kein Geld hat, sondern das muss möglich gemacht werden. Und das Zweite ist, dass wir dieses Geld auch den Universitäten zur Verfügung stellen.

    Burchardt: . . . zwingend?

    Carstensen: Für mich ist das zwingend! Ich kann das nur für mein Land entscheiden, für mich ist das zwingend. Wir haben 40.000 Studenten mal 1000 Euro im Jahr wären rechnerisch 40 Millionen, da kommt ein bisschen was von runter, wenn wir ein Stipendiensystem einbauen. Aber trotzdem bleibt eine größere Menge Geld übrig, die wir den Universitäten zur Verfügung stellen müssen. Dieses ist Geld der Studenten, dieses darf nicht dazu benutzt werden, um irgendwelche Haushalte zu konsolidieren.

    Burchardt: Einer der vorigen Kulturminister, Herr Naumann, hat mal gesagt, die Kulturhoheit der Länder sei Verfassungsfolklore. Er ist jetzt durch die Föderalismusdiskussion sicherlich tendenziell widerlegt worden. Aber gibt es nicht auch Dinge, wo tatsächlich die Bundesländer aufgerufen sind, ihre Kompetenzen zugunsten einer Bundesregelung, gerade im Bereich Hochschulbau, Hochschulgesetzgebung abzugeben?

    Carstensen: Also ich finde, da sollte man mal nicht so mit Schlagworten und mit Überschriften arbeiten. Ich glaube, die Kulturhoheit, die ja ein bisschen mehr beinhaltet als nur Schule, Unterricht, Universitäten, sondern auch wirklich was mit Kultur zu tun hat, ist etwas, was . . .

    Burchardt: . . . auch mit öffentlich-rechtlichem Rundfunk . .
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    Carstensen: . . . auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk betrifft, selbstverständlich. Die Kulturhoheit ist etwas, was die Länder in ihrer Stärke nach vorne gebracht hat. Wir leben auch von den Unterschieden, wir wollen auch die Unterschiede. Ich bin stolz auf die Unterschiede, ich bin ausgesprochen stolz, dass ich aus Schleswig-Holstein komme, diese Geschichte, diese Kultur vertreten kann, die Schleswig-Holstein hat! Das ist eine andere als die in Bayern oder in Sachsen oder in Sachsen-Anhalt oder Nordrhein-Westfalen. Ich finde gerade diese Vielfalt, diese außerordentlich starke Vielfalt ist die Stärke unserer Bundesrepublik Deutschland – die Vielfalt in den Ländern übrigens auch. Und wir haben genügend Instrumente, um da im Schulbereich und im universitären Bereich dann auch nicht die Schwierigkeiten aufzubauen und nicht Grenzen aufzubauen, die für die Studenten oder für die Schülerinnen und Schüler nicht zu überwinden wären.

    Burchardt: Als es in Deutschland noch – man spricht ja fast schon von Vergangenheit - eine starke Regierung, eine starke Opposition gab, war es ja meistens so, egal, wer dran war: Es war immer die Gegenrichtung im Bundesrat, die dann auch sehr oft die Gesetzgebung blockieren konnte. Zum Thema Vielfalt: Ist es nicht tatsächlich hinderlich, dass man sagen muss, hier kommen dann plötzlich Partialinteressen auch einzelner Bundesländer zur Geltung, und das, was man früher ja einfach mal eine Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin genannt hat, eigentlich nur noch sehr relativ ist, weil eben auf so viele Interessen Rücksicht genommen wird, zum Teil auch parteipolitischen Interessen, dass ein richtiges Durchregieren gar nicht mehr möglich ist. Was kann man da ändern?

    Carstensen: Also, ich sehe das Problem nicht so. Wir haben natürlich mal eine Zeit gehabt, als Lafontaine bestimmt hat, gab es eine Blockadepolitik, die enorm war. Sie war Teil einer Parteipolitik. Wir gucken uns mal die Verfassung an: Wir sehen, dass die Länder eine starke Stellung in unserer Verfassung haben.

    Burchardt: Aber ist das nicht überholt?

    Carstensen: Aber entschuldigen Sie mal, die Verfassung ist nicht überholt!

    Burchardt: Aber 1949 haben die Mütter und Väter der Verfassung das Dritte Reich hinter sich gehabt und haben gesagt: Wir machen keine Ermächtigungen . . .

    Carstensen: . . . nun mal gemach, aber die Mütter und Väter – an sich sind es ja andere gewesen, die eine Länderstruktur hier gefordert haben, und zwar eine Länderstruktur, um Deutschland nicht stark werden zu lassen. Jetzt haben wir eine Stärke durch die Länderstruktur. Ich glaube nicht, dass sich der Föderalismus dort als unmoderner zeigt. Der Föderalismus ist kein Auslaufmodell, er zeigt sich unwahrscheinlich modern. Und wenn ich in andere Länder gehe – ich gehe nach Spanien, ich gehe in völlig andere Länder, dann zeigt sich, dass dort Föderalismus, Regionalität in der Politik aufgebaut wird, weil wir auch eine wesentlich stärkere Identifikation mit den Regionen dort haben und somit natürlich auch der Wettbewerb ganz anders dort arbeiten kann. Wo ich Ihnen recht gebe ist, dass wir im Moment, in diesen Jahren erhebliche Probleme in der Politik haben – die Sicherung der sozialen Systeme, die Finanzsituation, die ich gerade eben angesprochen hab. Und insofern geht es darum, ob wir Verantwortung zeigen, ob wir Verantwortung zeigen können und die parteipolitischen Spielwiesen mal ein bisschen zur Seite schieben können. Wir tun das in Schleswig-Holstein. Diese große Koalition in Schleswig-Holstein läuft exzellent. Ich glaube, das wird im ganzen Bundesgebiet gesehen, und man guckt dort hin. Es gibt Unterschiede dort und unsere Ministerinnen und Minister gehen in einer großen Verantwortung ran, um gemeinsam – SPD und CDU – das Beste für das Land rauszuholen. Das ist die Philosophie, die wir im Moment brauchen.

    Burchardt: Was aber nicht zu übersehen ist, ist ja doch, dass seit der großen Koalition es keine starke Opposition im Bundestag gibt, wo man das Gefühl hat, die eigentliche Opposition etabliert sich dann doch wieder im Bundesrat. Ja, genauer formuliert: Sie etabliert sich sogar innerhalb der Union, dass eben – gerade Thema Gesundheitsreform – die Unionsministerpräsidenten diejenigen sind, die nun in den letzten Monaten da nun doch ein Störfaktor gewesen sind.

    Carstensen: Also, Sie nehmen nun etwas auf, was Herr Struck gesagt hat. Wenn dort auf der Ebene gute Gesetze gemacht werden, dann brauchen Sie sich nicht wundern, dann werden die Leute hier auch mit Begeisterung dort zustimmen. Dass wir alle ein bisschen Bauchschmerzen bei vielen Dingen dort haben, das ist ja wohl selbstverständlich, das wird ja auch gesehen. Und dass wir die Interessen unserer Länder auch nach vorne schieben, das wird auch gesehen. Aber das sind keine parteipolitischen Interessen. Ich glaube, das ist ein sehr nüchternes Abwägen – was passiert in unseren Ländern, und sind die Beschlüsse, die dort gefasst werden, die richtigen. Es ist gut, dass wir endlich die Diskussion vom Tisch kriegen. Wir diskutieren jetzt über Eckpunkte. Keiner von uns hat bis jetzt einen Gesetzentwurf gesehen, keiner von uns kann Zahlen verifizieren. Und darauf warte ich.

    Burchardt: Wie beurteilen Sie denn die Äußerungen aus der SPD, die doch jetzt wieder sagen: Also, das muss man alles auch noch einmal überprüfen – fast so ähnlich wie Herr Stoiber – und die Frau Merkel müsste jetzt endlich mal Führungskraft beweisen, sie lasse sich von den Unionsministerpräsidenten dominieren.

    Carstensen: Das ist Quatsch. Frau Merkel hat genügend Führungskraft, und sie zeigt das auch. Das ist ein schwieriger Haufen, mit dem sie dort regieren muss, und das ist ein großes Parlament mit einem Haufen Sachverständigen, die sich überall gern auch mit einschalten. Und insofern habe ich einen Riesenrespekt vor Frau Merkel, wie die ihre Aufgaben gelöst hat! Und alle diejenigen, die dort Kritik äußern, die sollen sich mal angucken, ob sie unter diesen Bedingungen, unter denen wir sind – keiner hat diese Koalition gewollt, das ist keine Wunschehe, das ist keine Liebe, die dort ist, sondern das ist im Moment eine Zweckehe. Ich kann ein bisschen was dazu sagen, weil ich nun eine große Koalition bei mir habe, und weiß, wie schwierig das ist, die unterschiedlichsten Meinungen zusammenzubringen. Mein Parteiprogramm hatte rund 140 Seiten, der Koalitionsvertrag hatte 35 oder 40 Seiten, da sind noch 100 Seiten CDU noch übrig, die nicht da mit drin sind. Also, insofern ist es nicht so ganz einfach, und alle sollten mal ein bisschen zurückhalten, vielleicht auch mal ein bisschen die Klappe halten.

    Burchardt: Herr Carstensen, finden denn in der Union nach Ihrer Meinung genügend Abstimmungsgespräche statt, Beispiel Gesundheitsreform, bevor wieder tausend Dinge in der Welt sind und zu diesen tausend Dingen da auch jeder Ministerpräsident Unterschiedliches sagt?

    Carstensen: Also, genügend Abstimmungsgespräche sind schon da. Und wenn jeder sich dran halten würde, würde es auch nicht diese Unstimmigkeiten und diese verschiedenen Stimmen draußen geben.

    Burchardt: Wie lange hält diese Koalition?

    Carstensen: Ich bin davon überzeugt, dass sie bis zum Ende der Legislaturperiode hält. Und ich hoffe auch, dass die Entscheidungen und die Beschlüsse, die dort kommen, noch etwas stärker sein werden. Denn wir haben eine Chance, aber das ist auch nur eine Chance. Wenn diese Koalition scheitert, dann werden die Bürgerinnen und Bürger sagen: Die Großen können es beide nicht. Und dann haben wir die Schwierigkeiten mit den kleinen extremen Parteien.