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Großer Bruder, Nachbar oder Freund?

Im Jahre 1997 vereinbarten Russland und die Ukraine einen Freundschaftsvertrag. Darin wurden der Verbleib der russischen Schwarzmeerflotte auf der ukrainischen Halbinsel Krim und diverse Grenzfragen geregelt. Heute läuft eine Frist für die Aufkündigung des Vertrages ab. Kurz vor knapp haben sich beide Seiten geeinigt, den Vertrag für die nächsten zehn Jahre zu verlängern. Damit sind aber die meisten Probleme in den russischen-ukrainischen Beziehungen bestenfalls vertagt, weiß Clemens Hoffmann, der aus Kiew berichtet.

    "Das weiße Haus" nennen die Studenten das Gebäude der Fakultät für internationale Beziehungen. Und der schwarze Gitterzaun vor dem Betonkasten erinnert von Ferne wirklich ein wenig an die US-Machtzentrale. Genau hier wird die künftige Elite der Ukraine ausgebildet. Bohdan Tscherkás studiert bereits im fünften Jahr internationale Beziehungen an der renommierten Kiewer National-Universität. Der 21-Jährige lernt Arabisch und Englisch und bereitet gerade seine Magisterarbeit zum Darfur-Konflikt vor - und natürlich hat er auch zu den russisch-ukrainischen Beziehungen eine dezidierte Meinung.

    "Ich denke, das sind keine freundlichen Beziehungen. Russland kann sich eine freundschaftliche Kooperation mit postsowjetischen Staaten gar nicht vorstellen. Russland denkt, diese Staaten seien immer noch unter seinem Einfluss, wie sie es drei Jahrhunderte lang waren."

    Beispiele für seine These hat Bohdan, der wie fast alle Kommilitonen Anzug und Krawatte trägt, schnell zur Hand: etwa den Streit um den Abzug der Schwarzmeerflotte aus Sewastopol bis 2017. Oder den Krieg im Kaukasus.

    "Der Kaukasuskonflikt hat der Welt gezeigt, wie Russland sein kann. Der nächste Nato-Gipfel wird hoffentlich noch mehr zu dieser Aggression sagen - und das könnte Russland davon abhalten, etwas ähnliches mit der Ukraine oder Moldawien zu tun."

    Nur die Nato kann die Ukraine auf Dauer wirksam vor Russlands Begehrlichkeiten schützen, ist Student Bohdan überzeugt. Um die Widerstände im euroatlantischen Bündnis zu überwinden, sieht er die Bringschuld bei den ukrainischen Politikern.

    "In Kiew gibt es gerade eine Regierungskrise, alle Politiker denken nur daran und an Neuwahlen, deshalb ist das Thema nationale Sicherheit nicht gerade stark."

    Einer der wenigen, der permanent für Nato- und EU-Perspektive seines Landes wirbt, ist Boris Tarasyuk. Der ehemalige Außenminister leitet heute den Europa-Ausschuss des ukrainischen Parlaments. Der Politiker, der Präsident Juschtschenko nahe steht, hält die Beziehungen zu Russland für besser als deren Ruf:

    "Die Beziehungen sind nie freundschaftlich im eigentlichen Wortsinne gewesen, sie waren immer problematisch, aber trotz teilweise harscher Rhetorik und einiger sehr schädlicher Äußerungen, entwickeln sich die Beziehungen. Russland und die Ukraine haben ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, mit allen möglichen Problemen zurechtzukommen, wie schwer sie auch zu sein scheinen."

    So hätten es beide Seiten geschafft, das für die die globale Sicherheit so wichtige Thema des Schicksals der Nuklearwaffen auf dem Gebiet der Ukraine zu lösen. Auch andere Militärfragen seien in dem Freundschaftsvertrag geregelt. Doch seit dem Georgienkonflikt sei die internationale Atmosphäre vergiftet, bedauert Tarasyk. Die Schuld daran trügen die Russen.

    "Nicht nur das Leben von gewöhnlichen Zivilisten war bedroht, bedroht war auch und sind es noch immer: die Fundamente der globalen Sicherheit. Und des internationalen Rechts."

    Angesichts dessen plädiert Tarasyuk dafür, die Frage des Nato-Beitritts für Georgien und die Ukraine getrennt zu entscheiden - und Kiew möglichst schon beim Gipfel im Dezember einen Aktionsplan für eine Nato-Mitgliedschaft anzubieten. Doch das Thema Nato-Beitritt, das weiß auch Tarasyuk, ist in der Bevölkerung umstritten - selbst nach dem Kaukasuskrieg. Auf jeden Fall soll es vor einem Beitritt ein Referendum geben. Auch bei den Studentinnen Jana und Nadja auf dem Unicampus gehen die Meinungen auseinander.

    "Für mich ist Russland wie ein älterer Bruder - ich habe ein bisschen Angst vor Russland, vor der russischen Regierung. Die Nato ist der richtige Weg.

    Aber nicht jetzt .jetzt ist es zu früh, der Nato beizutreten, dafür ist unser Land nicht bereit."

    Bohdan hat sich schon entschieden. Für den Weg nach Westen:

    "Wenn es ein Referendum gibt, werde ich für die Nato stimmen. Es wäre besser, wenn wir unter dem europäischen Sicherheitssystem wären oder in der Nato - wie unsere Nachbarn in Mittelosteuropa. "