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Großes Geläut

Nein, nicht festgemauert in der Erde stand die Form aus Lehm gebrannt, sondern auf einer großen Bühne mitten auf dem Marktplatz von Karlsruhe. Das machte die Sache technisch etwas komplizierter, weil der glühende Behälter mit der 1100 Grad heißen Glockenspeise, einer Bronze aus 78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn, an einem Schwerlastkran befestigt, endlose Minuten lang hin und her, auf und nieder, vor- und rückwärts rangiert werden musste, bis um kurz vor 23 Uhr der krönende und spannungslösende Moment gekommen war. Die Straßenlaternen waren ausgeschaltet worden und still standen die Menschen, eine dichte Menge von vielen Tausend Karlsruhern und weither angereisten Besuchern konnte dem Guß der neue Friedensglocke für das Straßburger Münster zusehen. Die Glocken aller Stadtkirchen läuteten, als das flüssige Metall in einem von hellen Flammen umloderten Strahl allmählich die Form füllte. Und als es vollbracht war, brandete Applaus auf.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Dies war der nächtliche Höhepunkt der alle sieben Jahre stattfindenden Europäischen Glockentage, einer Veranstaltung, die diesmal aus drei Gründen nach Karlsruhe gekommen war: erstens, weil es hier noch eine der sieben deutschen Glockengießereien gibt; zweitens, weil Karlsruhe seiner Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt Nachdruck verleihen will; und drittens, weil in Karlsruhe der Mann zuhause ist, den als deutschen Glockenpapst zu titulieren ein bisschen salopp, aber aussagekräftig ist. Kurt Kramer – Erkennungszeichen: weinroter Hut – weiß einfach alles über Glocken und als Glockensachverständiger hört er auch alles an Glocken. Wobei – und damit wären wir beim Sinn und Zweck der Glockentage – das Wissen und das Hören miteinander durchaus zusammenhängen.

    So wie es vor anderthalb Jahren mit sechs neuen Glocken für die Dresdner Frauenkirche passiert ist. Sie waren verstimmt mussten ein zweites Mal gegossen werden, was nicht nur in den Medien, sondern mehr noch in der Fachwelt für erheblichen Wirbel sorgte. Auch darüber wurde während dieser Glockentage nochmals referiert – im Rahmen eines universitären Fachkongresses. Von da spannte sich der Bogen des Programms bis zu Ausstellungen und Aufführungen, zum Beispiel eines neuen Werks für Bläser und Glocken des Freiburger Komponisten Andreas H.H. Suberg mit dem Titel "étoile mobile". Dazu wurden mobile Orchestergruppen auf Lastwagen durch die Stadt gekarrt, bis sie sich auf dem Marktplatz unter dem Dirigat des Karlsruher Trompeters und Professors an der Musikhochschule Reinhold Friedrich zu einer rhythmischen Klangwolke vereinten.

    So kamen die Glocken in jeglicher Hinsicht zur Geltung: technisch, kulturgeschichtlich, ästhetisch und liturgisch. Und doch bringt die Beschäftigung mit Glocken ein merkwürdiges Paradox hervor: Je genauer man sie untersucht, desto rätselhafter werden sie. Selbst einem Fachmann wie Kurt Kramer:

    Aus dem Fernen Osten kamen sie vor mehreren tausend Jahren nach Europa, doch seit den frühesten Tagen der Christenheit sind die Glocken zu einem Charakteristikum des Abendlands geworden. Glocken kündigen aber nicht nur Gottesdienste an, sondern auch Krieg und Frieden, Feuersbrünste und die Uhrzeit. Glocken waren die Lautsprecher der vorindustriellen Gesellschaft, deren Klang das Alltagsleben strukturierte. Doch Glocken sind nicht nur Teil der Kulturgeschichte. Sie sind auch immer noch Zeichen aktiver Religiosität. So wurde die Glocke, die auf dem Karlsruher Marktplatz entstand, vom Freiburger Erzbischof und dem Evangelischen Landesbischof geweiht und gesegnet, und die meisten Anwesenden sprachen die Fürbitte mit.