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Großes Interesse an türkischer Zeitgeschichte

Bücher über die neuere Geschichte der Türkei sind derzeit die Verkaufsschlager des türkischen Buchmarkts. Zur Istanbuler Buchmesse hatten etliche Verlage ein Buch über die Proteste im Gezi-Park im Sortiment.

Von Susanne Güsten | 08.11.2013
    Die Proteste rund um den Gezi-Park in Istanbul waren Anlass für viele Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt.
    Die Proteste rund um den Gezi-Park in Istanbul waren Anlass für viele Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt. (picture alliance / dpa / EPA / Sedat Suna)
    Hochbetrieb in den Messehallen von Istanbul, zwischen den rund 700 Bücherständen der Istanbuler Buchmesse herrscht dichtes Gedränge. Knapp eine halbe Million Leser werden die Messe besucht haben, bis sie am Sonntag endet, so schätzen die Veranstalter. Das sind fast doppelt so viele Besucher wie bei der Frankfurter Buchmesse.

    Romane, Kinderbücher und islamische Mystik gehen wie immer gut, sagen die Verlagssprecher, doch das Leserinteresse gilt in diesem Jahr vor allem der neueren Geschichte des Landes. Am Stand von Ileri Yayinlari, einem linksnationalistischen Verlag, weist Verlagssprecher Ali Özsoy auf einen umlagerten Stapel von Büchern, deren Titelbild einen Demonstranten mit Theatermaske und türkischer Fahne zeigt:

    "Dies ist unser meistverkauftes Buch. Es erzählt vom Widerstand im Gezi-Park. Wir haben es noch im Sommer herausgebracht, mit vielen bis dahin unveröffentlichten Fotos von den Protesten. Wir 'Plünderer', wie der Ministerpräsident uns Demonstranten ja genannt hat, wir erzählen darin in unseren eigenen Worten von dem Widerstand."

    Fast jeder Verlag, der etwas auf sich hält, hat in diesem Herbst ein Buch über die Proteste im Gezi-Park im Sortiment. Doch das Interesse an der Vergangenheit erschöpft sich nicht im Rückblick auf den Sommer. Beim Boyut-Verlag, einem der führenden Verlagshäuser der Türkei, steht das Buch über die Gezi-Proteste erst an zweiter Stelle der Verkaufsrangliste. "Eklipse der Vernunft: Der 12. September 1980” heißt der Topseller des Verlages – es ist eines der derzeit meistverkauften Bücher der Türkei, sagt Verlagssprecher Sinan Ebem:

    "Dieses Buch handelt von dem Militärputsch von 1980 und den Ereignissen, die dazu geführt haben: den Straßenkämpfen zwischen Kommunisten und Nationalisten, dem blutigen ersten Mai undsoweiter. Es enthält viele Fotos, die wegen der Pressezensur damals nicht veröffentlicht werden konnten. Der Autor hat diese Fotos aus den Archiven geholt, und nun haben sie nach über 30 Jahren endlich ihr Publikum erreicht."

    Und das Publikum greift zu. Das Buch ist jetzt in der zweiten Auflage, sagt Ebem – die erste Auflage von 10.000 Stück war innerhalb der ersten Woche ausverkauft:

    "Das Interesse an solchen Büchern ist groß, weil die Türkei gerade in einer Umbruchphase steckt. Wir führen als großer Verlag ja viele Sparten, aber die jüngste Geschichte der Türkei, vom 1980er Putsch bis hin zur Gezi-Protestbewegung, das sind derzeit unsere meistverkauften Bücher."

    Das ist nicht nur beim Boyut-Verlag so, sagt Messeprecherin Cemran Öder:
    "Das Interesse an Geschichte, insbesondere an der jüngeren und jüngsten Geschichte des Landes, ist bei türkischen Lesern in letzter Zeit stark gewachsen, diese Themen sind auf dem Büchermarkt in den Vordergrund gerückt. Das ist zu einem rasant wachsenden Zweig des Buchmarktes geworden. Deshalb haben wir in diesem Jahr Geschichte als Schwerpunkt der Istanbuler Buchmesse gewählt."

    "Geschichte: Die Zukunft in der Vergangenheit”, so lautet das Motto der Messe, die im Rahmenprogramm von Vorträgen und Symposien zur Geschichtsschreibung begleitet wird. Eine Fotoaustellung erzählt vom Schicksal der Anatolier, die beim Bevölkerungsaustausch mit Griechenland vor 90 Jahren aus ihrer Heimat vertrieben wurden.

    Auch die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Armenier in Anatolien ist kein Tabu mehr; ein Buch mit dem Titel "1915: Der Völkermord an den Armeniern” schaffte es schon im vergangenen Jahr auf die türkischen Bestsellerlisten. Werke zu dem Thema finden sich auch in diesem Jahr auf mehreren Verlagstischen, ebenso armenische Literatur und persönliche Erinnerungen von Nachkommen der massakrierten Armenier. Der türkisch-armenische Aras-Verlag publiziert viel dazu und erfreut sich einer wachsenden Leserschaft, sagt Verlagsmitarbeiterin Nivar Tasci:

    "Unser Leserkreis weitet sich aus, es gibt auf jeden Fall ein wachsendes Interesse daran, was damals geschehen ist, was darüber geschrieben wird – die Leute beginnen sich eindeutig mehr damit zu beschäftigen."