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Großes lyrisches Universum

"Ich habe es zu was gebracht, ich bin sublimiert": Für einen Dichter ist das gewiss nicht wenig. Doch wenn der Dichter dieses Ergebnis als Schlussvers in einem Gedicht präsentiert, ist es schon wieder pure Ironie.

Vorgestellt von Martin Zähringer | 03.09.2009
    Ob hier das lyrische Ich, das Dichter-Ich oder die ganze Persönlichkeit gemeint ist, kann man einmal offen lassen. Eines steht schon fest: Die Gedichte von Bei Dao gehören wirklich zur sublimsten Lyrik unserer Zeit.

    Als die Sprache verrückt wurde, wurden wir / im Freiraum des Gesetzes gerettet / denn wir waren taubstumm / Ein Schulbus nach dem anderen / fuhr vorbei am Abgrund des Lichts / Die Nacht war ein alter Film / Lautenklänge sickerten in die Zeiten wie Regen Waisen jagen nun den blauen Himmel / Bücher, die Trauer tragen, stehen stramm / Auf den Wegen der Hermeneutik / öffnen sich die Azaleen und ihre Schwestern / um des Todes willen

    Dieses Gedicht mit dem Titel "Ohne besonderes Thema" ist auf eine typische Weise verschlossen – scheinbar, und entspricht so recht jenem dunklen, als obskure Lyrik deklarierten Stil der poetischen Subversion, für den Bei Dao berühmt wurde. Dunkel bleibt es für europäische Leser auch bei mehrmaligem Lesen, und wenn es zweifellos lyrisch gestimmte Assoziationen oder Evokationen erzeugt, ist das leider nicht der ganze Mehrwert dieser hohen Kunst. Man wird sie nie erschöpfend deuten oder interpretieren können, aber der Dichter warnt selbst, wiederum in einem Gedicht mit dem vielsagenden Titel "Himmelsfragen":

    Heute abend regnet es Bindfäden / Eine Brise durchblättert die Bücher / Die Lexika sprechen durch die Blume / Sie zwingen mich in ihre Gewalt Von klein auf habe ich alte Gedichte gelernt / ohne den Sinn zu verstehen / Ich stand bestraft / am Abgrund der Deutung

    Die Lexika sprechen durch die Blume, aber die Blumen sprechen manchmal auch durch die Lexika. Im Lexikon steht: Die Azalee hat etwas mit dem chinesischen Kuckuck zu tun und ist ein Symbol der Trennung. Aber was ist mit dem Schulbus am Abgrund des Lichts und der Nacht wie ein alter Film? Diese Motive wird man schwerlich nachschlagen können, und weil Bei Dao es bei uns leider noch nicht zu einer kommentierten Ausgabe geschafft hat, muss man sich selbst auf jene absichtsvoll genannten "Wege der Hermeneutik" begeben, und da kommt man mit einer einfachen Motiverkundung schon recht weit. Unweigerlich stößt man nämlich auf immer wieder neue Metaphern des Lichts und auf das Motiv des Himmels. Unter dieser beeindruckenden, vielfach variierten Metaphorik von Licht und Schatten, Tag und Nacht, Erde und Himmel, Sonne und Mond liegt eine konkrete, politische Dimension. In einem Gedicht mit dem Titel "Ein heiterer Himmel" erscheint das Motiv der Sonne direkt mit dem Thema dieses "Buchs der Niederlage" verknüpft:

    "Ja, das Gerücht von der Niederlage / gleicht der Sonne am Morgen."

    In einem Gedicht mit dem Titel "Ohne besonderes Thema" heißt es hoffnungsvoll:

    Die Trompete ist wie ein scharfer Pflug / sie pflügt die Nacht; wann erst / wird das Sonnenlicht keimen?

    Ein Gedicht heißt "Kreationen" und überführt die Sonnenmetapher in eine kosmische Dialektik von Oben und Unten:

    Was bleibt abgesehen von all diesem? / Sonnenstrahlen lachen lauthals auf Glasscheiben / Der Fahrstuhl fährt in die Tiefe, aber da ist keine Hölle.

    Und ein komplexes Beispiel, das allerdings auch seine tiefere Geschichte hat:

    Den September zieht es nach Westen / Die nichtssagenden Tauben zieht es nach Osten / Das zarte Gebein des Lichts und des Gestüts / kosten auf ihrem Abzweig / Saaten, sie bleiben ohne Traum / Mich zieht es zum Sonnenhang / Da übe ich schweben / nur um des tiefen Schlafes willen.

    Irgendwann findet sich bei der poetischen Spurensuche – sei es in wissenschaftlichen oder Feuilletonartikeln oder im jedem Leser zugänglichen ersten Gedichtband "Notizen vom Sonnenstaat" - das berühmte Gedicht "Proklamation" aus der Aufbruchsperiode 1979-1983. Es ist Yu Luoke gewidmet, deren Bruder Yu Luojin 1975 während der Kulturrevolution wegen kritischer Äußerungen hingerichtet wurde. Dieses Gedicht ist selbst eine Art Lichtquelle der politischen Metaphorik von Bei Dao. Hier eine zentrale Stelle:

    Ich kann nur den Himmel wählen / Nicht die Erde, um darauf zu knien / Die Schlächter erschienen sonst zu groß / Und der Freiheit bliebe noch weniger Raum

    Abgehoben? Eigentlich nicht, denn von hier aus beziehen sich die vielen Wandlungen dieses Motivs sinnvoll auf immer wieder neue historische Ereignisse und konkrete, lebensweltliche Anspielungen auf das heutige China und das Leben im Exil. Der Platz des himmlischen Friedens mit seiner makabren, vielfach überschriebenen historischen Symbolik dringt mit Gewalt in dieses lyrische Panoptikum, aber es geht eben nicht immer darum. Mit Sonne ist auch nicht immer Mao gemeint, die Motivik "Licht und Dunkel" führt hier leitmotivisch in ein großes lyrisches Universum. Der westliche Leser muss darin ein wenig rationale Recherche aufwenden, wodurch Bei Daos Gedichte aber nichts von ihrer lyrischen Faszination einbüßen. Dafür zeugt der Übersetzer Wolfgang Kubin selbst, der vielleicht auch jenes Sätzchen sprechen darf:

    "Ich habe es zu was gebracht, ich bin sublimiert"

    Denn man kann die sublime Koautorschaft - zwischen der chinesischen und der deutschen Sprache - in diesem Fall gar nicht genug wertschätzen. Was Kubin im Nachwort zur Übersetzungsproblematik schreibt, ist wahrscheinlich noch untertrieben:

    Da sind in den Texten fast alle Verben ohne nähere Zeitangabe: Ob man Vergangenheit oder Gegenwart übersetzt, hängt vom jeweiligen Geschmack oder Verständnis des einzelnen ab. Die Nomen kommen in der Regel ohne Pluralsuffix und ohne Demonstrativpronomen daher. Und da es im Chinesischen keinen bestimmten und unbestimmten Artikel gibt, lassen sich Nomina beliebig in den Singular oder Plural übertragen, mit einem bestimmten oder unbestimmten Artikel versehen: Pferd, ein Pferd, das Pferd, die Pferde, Pferde? Alles ist möglich!

    So steht es mit der chinesisch-deutschen Lyrikübersetzung, und es ist noch viel komplizierter. Zum Glück hat das Wolfgang Kubin nicht davon abgehalten, uns diese unvergleichlichen Gedichte von Bei Dao in deutscher Sprache vorzustellen.

    Bei Dao: Das Buch der Niederlage. Gedichte. Aus dem Chinesischen übersetzt und mit einem Nachwort von Wolfgang Kubin. Hanser Verlag 2009, 14,90 Euro