Das alles ist schön beobachtet, unprätentiös geschildert und läßt mehr als nur einen flüchtigen Eindruck dieser Zeit erstehen. Was aber bitte soll man davon halten, wenn man bereits im Vorwort eine Entschuldigung, ja Vorverurteilung zu lesen bekommt? "Olga Frey", schreibt der Herausgeber Walter Leimgruber, "ist weder eine besonders originelle Beobachterin, noch eine glänzende Schreiberin, ihr Text ist schnörkellos, bisweilen erinnert er an einen Schulaufsatz." Gerade daß sich diese Feierabendchronistin jeglicher Interpretation enthält, minutiös manchmal ein bißchen statisch ihre Beobachtungen und ihr Wissen ausbreitet, macht den Wert der Aufzeichnungen aus. Als Deutscher ist man erleichtert, einmal nicht die geläufigen "Unser-herrlicher-junger-Kaiser"-Phrasen in einem Dokument der Jahrhundertwende zu lesen, während der Schweizer Herausgeber an allen Ecken und Enden mangelnde Distanz wittert. Das Schweizer Bürgertum habe sich ans wilhelminische angebiedert. Die Wahrheit liegt wohl dazwischen; vor allem aber spricht das Dokument für sich. Eine subjektive Wahrnehmung von historischen Studien unterscheiden zu können, sollte man seinen Lesern schon zutrauen; andernfalls veröffentliche man keine Originaldokumente.
Großstadtluft und Meereslust
Geschichte, das lernt man schon als Schulkind, kommt aus den Geschichtsbüchern. Dorthinein haben sie die Historiker gestopft, wohlsortiert und von aller Subjektivität gereinigt. Manchmal kommt Geschichte allerdings auch vom Flohmarkt, nicht nur in Form staubiger Grammophonplatten, abgestoßener Kutschermäntel oder oxidierten Familiensilbers. An irgend einem Stand liegt fast immer ein altes Fotoalbum herum, mit den berühmt-steifen Atelieraufnahmen und ein paar Reiseansichten, die Berge, das Meer. Sehr selten widerfährt dem Neugierigen das Glück einer schriftlichen Hinterlassenschaft von nichtssagenden Ansichtskarten einmal abgesehen. Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Fotografie zum vorrangigen Erinnerungsmedium gemausert, und je mehr Leute das bequemer gewordene Reisen für sich entdeckten, um so weniger berichteten davon. Das hielt Olga Frey aus Aarau in der Schweiz ein bißchen anders. Zum Weihnachtsfest des Jahres 1900 überreichte sie ihrem Gatten Othmar einem kantonalen Bankdirektor den säuberlich in Sütterlin notierten Bericht einer gemeinsamen Urlaubsreise, der vermutlich längsten ihres Lebens. Die vier Wochen des zurückliegenden Septembers hatten die Freys im "kolossalen" Berlin und im mondänen Seebad Heringsdorf an der Ostsee verbracht. Ob das Geschenk dem Gatten gefiel, wissen wir nicht; den Ur- und Ururenkeln muß es eher bedeutungslos erschienen sein, denn eines Tag landete es auf dem Flohmarkt in Lausanne. Dort fiel es zum Glück für die Nachwelt dem Schweizer Volkskundler Paul Hugger in die Hände. Mögen die Historiker auch mäkeln über Fehler und Mängel derartig subjektiver Zeitzeugnisse erstaunlicherweise tut das der Herausgeber bereits im Vorwort , Olga Freys Aufzeichnungen machen Spaß. Und nicht nur das: Wie dreißig Jahre später der Schriftsteller Christopher Isherwood könnte auch die Bankiersgattin sagen: I'm a camera ich bin eine Kamera, so präzise sind ihre Wahrnehmungen.
Das alles ist schön beobachtet, unprätentiös geschildert und läßt mehr als nur einen flüchtigen Eindruck dieser Zeit erstehen. Was aber bitte soll man davon halten, wenn man bereits im Vorwort eine Entschuldigung, ja Vorverurteilung zu lesen bekommt? "Olga Frey", schreibt der Herausgeber Walter Leimgruber, "ist weder eine besonders originelle Beobachterin, noch eine glänzende Schreiberin, ihr Text ist schnörkellos, bisweilen erinnert er an einen Schulaufsatz." Gerade daß sich diese Feierabendchronistin jeglicher Interpretation enthält, minutiös manchmal ein bißchen statisch ihre Beobachtungen und ihr Wissen ausbreitet, macht den Wert der Aufzeichnungen aus. Als Deutscher ist man erleichtert, einmal nicht die geläufigen "Unser-herrlicher-junger-Kaiser"-Phrasen in einem Dokument der Jahrhundertwende zu lesen, während der Schweizer Herausgeber an allen Ecken und Enden mangelnde Distanz wittert. Das Schweizer Bürgertum habe sich ans wilhelminische angebiedert. Die Wahrheit liegt wohl dazwischen; vor allem aber spricht das Dokument für sich. Eine subjektive Wahrnehmung von historischen Studien unterscheiden zu können, sollte man seinen Lesern schon zutrauen; andernfalls veröffentliche man keine Originaldokumente.