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Gründliche Analyse

Für seine zweibändige Schiller-Biographie hat Peter-André Alt kürzlich den Schillerpreis der Stadt Marbach erhalten. Mit gerade mal 45 Jahren blickt der Autor bereits auf zahlreiche, meist umfangreiche Veröffentlichungen und eine stolze Karriere als Germanistikprofessor zurück; nach Bochum und Würzburg ist er zum aktuellen Wintersemester an die FU Berlin berufen worden. Jetzt ist seine siebenhundertseitige Biographie Franz Kafkas erschienen.

Von Wolfgang Schneider | 07.11.2005
    Peter-André Alt ist ein systematischer Kopf und deshalb nicht unbedingt jemand, von dem man die Neigung zum Genre der Biographie erwarten würde. Auch für ihn selbst bleibt es (trotz des Erfolges seiner Schiller-Biographie) eine heikle, problematische Form; er findet Lebensbeschreibungen oft unbefriedigend, vor allem dann, wenn Datenlücken durch erzählerische Erfindung gefüllt werden. Seine eigenen Bücher über Schiller und Kafka sind in erster Linie Werkbiographien, die neben Zeitbildern gründliche Textanalysen liefern, geschrieben in einem Stil, der zwischen Eleganz und akademischer Sprödigkeit changiert.

    Es reizt ihn, nüchterne Kontrapunkte zu setzen bei Autoren, die meist mit Emphase behandelt wurden. Schiller und Kafka: zwei identifikationsträchtige Leidensmenschen und Selbstverschleißer der deutschen Literatur. Der eine die Ikone des neunzehnten, der andere die des zwanzigsten Jahrhunderts; ein Heiliger der Klassik und ein Heiliger der Moderne. Zwei Autoren zudem, über die eigentlich fast alles schon einmal gesagt wurde. Weshalb kaum noch große neue Studien, aber immer noch große Synthesen und Kompilationen möglich sind. Die letzten Kafka-Gesamtdarstellungen, die aus den sechziger Jahren stammen, wirken mit ihrem existentialistischen Aroma heute bereits ziemlich betagt.

    Alt vermeidet den Kurzschluss, aus dem Leben die Werke zu erklären. Ein biographischer Ansatz funktioniere bei Kafka ohne Biographismus, versichert er. Denn bei Kafka ahme die Literatur nicht das Leben nach; umgekehrt lege sie, aus den Räumen des Unbewussten gespeist, oft die Linien des Lebens fest, eile dem Leben voraus. Kafka verfasst mit "Der Landarzt" die Geschichte einer tödlichen Wunde, bevor ihn selbst die Tuberkulose holt.

    "Der ewige Sohn" lautet der Untertitel der Biographie. Ein Oxymoron, denn Sohn ist man doch immer nur vorläufig. Kafka aber ist dieser Vorläufigkeit nie entkommen. Er hat keine Familie gegründet, keine Kinder gezeugt, keinen Besitz erworben. Er lebte fast bis zu seinem Tod in der elterlichen Wohnung. "Sohn" meint für Alt aber noch mehr.

    " Der Titel "Der ewige Sohn" wäre falsch verstanden, wenn man ihn so begreifen würde, dass Kafka darin bezeichnet wird als einer, der ewig in Abhängigkeit von seinem Vater steht. Das ist sicherlich nicht so. Das Bild des Vaters, der eine Repräsentanz der Macht darstellt, ist natürlich ein Selbstbild Kafkas. Wir dürfen nicht glauben, dass das ein objektives Bild ist. (…) Kafka hat sich selbst als jemand wahrgenommen, der keine Identität besitzt, der keine Tradition weiter verfolgt, der enterbt ist. Sohn sein heißt in diesem Fall ein Bewusstsein der Differenz wahrnehmen, nicht vordringen zu einer vollen Identität, einer gültigen sozialen Rolle, sondern abgeschieden bleiben, dadurch aber gerade Beobachter sein dürfen. In dieser Selbstkonstruktion des zuschauenden, observierenden Beobachters manifestiert sich die künstlerische Botschaft dieser Rolle des ewigen Sohnes: Das ist der, der gerade weil er am Rand steht, besonders scharf zusieht. Und ein weiterer Aspekt kommt dazu: Der ewige Sohn, das ist auch eine Art Produktionslogik. Das heißt: das ist ein Schreiben in Fragmenten, in Bruchstücken, in Texten, die nicht fertig werden. "

    Ähnlich wie in der Schiller-Biographie ist Alt bemüht, die Traditionen, an die Kafka Anschluss suchte, sowie die geistigen Bausteine, Anregungen und Quellen seiner Werke möglichst vollständig vorzuführen. Über weite Strecken entsteht so keine szenisch vergegenwärtigende, sondern eine systematisch analysierende Biographie. "Bei den Kafkas" - mit dieser Kapitelüberschrift beginnt Rainer Stach seine vor drei Jahren erschienene, viel gelobte Kafka-Biographie "Die Jahre der Entscheidungen"; nie würde Peter-André Alt in einer solchen Manier der Vertraulichkeit schreiben; er hält den Leser kühl. Was bisweilen einen Mangel an Anschaulichkeit und Empathie mit sich bringt, hat aber auch entschiedene Vorzüge: Durch thematische Bündelung bekommt Alts Kafka in vieler Hinsicht ein sehr deutliches Profil, und Aspekte seines Lebens, die oft vernachlässigt werden, gewinnen Gewicht. Der Reisende Kafka zum Beispiel fällt bei Stachs chronologischer Vorgehensweise weitgehend unter den Tisch. Alt widmet ihm ein aufschlussreiches Kapitel. Mit neuen Augen sieht er auch Kafkas Verhältnis zum Ersten Weltkrieg. Weder war Kafka ein Pazifist, noch ein Gleichgültiger zwischen lauter Kriegsbegeisterten. Vielmehr reizte auch ihn die Aussicht auf einen tiefgreifenden Bruch mit dem bürgerlichen Leben. Er wollte in den Krieg ziehen, hatte sogar schon die Knobelbecher angeschafft. "In den schweren Stiefeln, die ich heute zum ersten Mal angezogen habe, steckt ein anderer Mensch", schwärmt er in einem Brief an Felice.

    " Kafka teilt mit zahlreichen Zeitgenossen eine Einstellung zum Krieg, die man im besten Fall als ambivalent bezeichnen kann. Auch hier ganz charakteristisch sein Verhältnis zu den Mobilmachungsveranstaltungen in Prag. Er steht daneben, wie er selbst sagt, mit seinem "bösen Blick". Aber das ist nicht der böse Blick des Pazifisten, der den Militarismus verachtet, sondern es ist der böse Blick desjenigen, der nicht Teil dieser Gemeinschaft sein kann. Daraus leitet sich eine Sehnsucht ab nach dem Soldatenleben. Und daraus leitet sich auch der Umstand ab, dass Kafka mehrfach versucht gemustert zu werden und tatsächlich auch für diensttauglich erklärt zu werden. Es ist dann glücklicherweise die Arbeiterunfallversicherungsanstalt in Prag gewesen, die interveniert hat und die Diensttauglichkeitsbescheinigungen hat durchstreichen lassen. Kafka galt als unabkömmlich, und das hat ihm erspart einen Tod im Schützengraben wie vielen anderen. "

    Problematisch findet Alt, in welchem Maß sein Konkurrent Rainer Stach Kafkas Leben im Zeichen einer "Entscheidung" zur Askese als Bedingung des Schreibens versteht. Alt will dagegen einen Kafka zeigen, der in sinnliche Lebenszusammenhänge eingebunden ist. Die Askese sei eher das Phantasma eines Mannes gewesen, der inmitten einer vielköpfigen Familie lebte und sich in kulturellen Netzwerken sowie einem stabilen Kreis von Freundschaften bewegte.

    " Der Autor Kafka, der immer wieder als der große Einsame stilisiert wird - Marthe Robert nennt ihn in ihrem Buch "Einsam wie Franz Kafka" - ist natürlich ein Autor und Mensch, der sehr wohl in sozialen Bindungen gelebt hat. (...) Kafkas großer asketischer Selbstentwurf, der Versuch, isoliert und allein zu leben, um schreiben zu können, scheitert immer wieder. Und zwar aus zwei Gründen: Zum einen, weil Kafka selbst sich fesseln lässt von Frauen, sich verliebt und immer wieder neu auch in Bindungsversuche hineingerät, und zum anderen, weil er selbst fesselnd wirkt und Frauen ihn erotisch anziehend finden. Das ist ein Grund dafür, dass Kafka zeitlebens immer wieder in neuen Bindungen und versuchten Bindungen lebt, die teilweise scheitern. Aber die Vorstellung vom Asketen, der allein und anachoretisch sein Leben führt ist eben doch eine Fiktion, eine an der Kafka seinen eigenen Anteil hat freilich. "

    So erklärt sich auch die Frage, warum sich die berühmteste Verlobte der Literaturgeschichte, die sonst so pragmatische Felice Bauer, vom unschlüssigen Kafka so lange hinhalten ließ. Sie fand ihn eben einfach attraktiv, wie so viele Frauen. Und sie wurde in den Bann gezogen von seiner Sprache, seine Rhetorik saugte sie an - schließlich war es vor allem eine Brief-Beziehung.

    Zwischenzeitlich versuchte Kafka durch eine Hinwendung zu Judentum und Zionismus eine neue Bindung zu finden. Letztlich aber bestätigte sich auch hier das Gefühl, ein enterbter Sohn zu sein:

    " Kafka ist nicht zu denken ohne das Verhältnis zum Judentum, aber man muss sagen: Verhältnis. Falsch wäre es zu sagen: ohne die jüdische Identität. Denn die besitzt Kafka nicht. (...) Es ist ein großartiges Bild dafür von ihm benutzt worden. Er sagt: Alle versuchen in das gelobte Land zu wandern, ich bin der einzige, der es permanent verlässt. Und dieses paradoxe Bild bezeichnet auch sein Verhältnis zum Judentum. Es ist ein Bild der Sehnsucht, aber zugleich getragen vom Bewusstsein, dass diese Sehnsucht unerfüllbar ist. "

    Als Literaturwissenschaftler profiliert sich Alt in den eindringlichen Analysen von Kafkas Romanen und Erzählungen. Dies ist, darf man loben, keine Schriftstellerbiographie ohne Werke. Etwas überrascht nimmt man allerdings zur Kenntnis, dass das Paradigma, mit dem Alt Kafkas Literatur immer wieder zu dechiffrieren sucht, die Psychoanalyse ist. Er legt Kafka dabei keineswegs auf die Couch; aber die Psychoanalyse ist ihm - als wichtigste Kulturtheorie der Epoche - ein Bezugssystem seelischen Wissens, das bis hinein in die Metaphorik oft verblüffende Nähe zu Kafkas Werken aufweise. Diese Werke bezeichnet Alt als das "formgewordene Unbewusste", gespeist aus Ängsten, Obsessionen, Halbschlafphantasien und Träumen.

    Gerade das Befremdliche, Unverständliche von Kafkas Welt - bei aller Prägnanz der Darstellung - trägt zum spezifischen Kafka-Lektüregenuss bei. Für einen Germanisten kann Unverständlichkeit freilich keine Arbeitsgrundlage sein. So bekommt man "Das Schloss" nun als Allegorie von Freuds psychischem Apparat präsentiert. Den "Prozess" begreift Alt als fiktives Theater, das von K.s Unbewusstem veranstaltet werde. Eine allzu plane Erklärung für Kafkas surreale Welt?

    Kein Zweifel, in Kafkas Texten geht es um Seelenarbeit und Verwaltungsapparaturen. Es geht um unterdrückte Persönlichkeitsanteile, um Verdrängtes, das sich jäh geltend macht. Aber das Konzept des Freudschen Unbewussten mit seinen infantil-sexuellen Triebinhalten, die dem Tagesbewusstsein nicht zugänglich sein sollen, erscheint zu eng, um das Rätselhafte, Unheimliche, Verstörende der Texte Kafkas einzufangen. Und so empfindet man Alts Rede vom "geheimen Begehren" und den "dunklen Mächten des eigenen Triebes" ebenso unbefriedigend wie die dann doch ein wenig therapeutisch anmutende Behauptung, Josef K. habe den "Zugang zum inneren Zentrum seines eigenen Lebens verfehlt".

    Alts Wille, wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen, führt in den Textexegesen zu zahlreichen Verweisen auf bewährte Kapazitäten des Diskurses. Es ist der übliche Geleitschutz des Geisteswissenschaftlers - à la 'Foucault hat gesagt’ und 'seit Luhmann wissen wir’. Das sind Markierungen für den akademischen Betrieb, die für den Leser nicht immer ergiebig sind. Etwas mehr theoretisches Understatement hätte dem Buch gut getan. Aber kein Zweifel: Die außerordentliche Gelehrsamkeit, Faktenfülle und Intelligenz, die diese Biographie auf ihren Gegenstand verwendet, ist ein Gewinn. "Der ewige Sohn" ist ein Standardwerk für jeden, der sich auf hohem Niveau zum Kafka-Kenner fortbilden möchte.