Dienstag, 23. April 2024

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Grünen-Chef Cem Özdemir
"Der Arm Erdogans darf nicht nach Berlin reichen"

Der Ko-Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, hat sich kritisch zur Rolle von Moschee-Verbänden wie Ditib in Deutschland geäußert. Das seien politische Organisationen, der Arm Erdoğans dürfe nicht noch bis nach Berlin reichen, sagte Özdemir im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Der Grünen-Chef kritisierte zudem, dass in Deutschland Türkischstämmige lebten, die "ihre Informationen von Erdoğan-TV" bezögen.

Cem Özdemir im Gespräch mit Nadine Lindner | 24.07.2016
    Cem Özdemir, Ko-Bundesvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen.
    Cem Özdemir, Ko-Bundesvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen. (imago/Jürgen Heinrich)
    Nadine Lindner: So viel Gewalt innerhalb weniger Tage in Deutschland. Es ist ja mit Händen zu greifen eigentlich. Man merkt das in Gesprächen. Man merkt das zum Beispiel auch in der U-Bahn. Als ich heute Morgen hier ins Studio gefahren bin, haben mich Leute auf meine Zeitung angesprochen, wo ein Artikel über München drin war. Es ist ja diese Unruhe, diese Verunsicherung, die zu spüren ist. Wie können wir damit umgehen in Deutschland?
    Cem Özdemir: Erst mal, indem wir zugeben, dass wir verunsichert sind, und dass wir als Politiker nicht so tun, als ob wir da die Weisheit mit Löffeln gefressen hätten und, schon bevor die Polizei und die Ermittlungsbehörden ihre Arbeit gemacht haben, schon mit vermeintlichen Lösungen um die Ecke kommen. Sondern jetzt müssen erst mal die Ermittlungsbehörden, die Polizei, die da einen echt schwierigen Job hat und der man gar nicht genug danken kann, die müssen ihre Arbeit machen und dann müssen wir schauen, dass wir hoffentlich bald wissen, um welche Motive es beim Täter … sich gehandelt hat und dann daraus Rückschlüsse ziehen. Aber absolute Sicherheit gibt es in offenen Gesellschaften nicht. Wer eine absolute Sicherheit möchte, der müsste das Land in eine hermetisch abgeriegelte Gesellschaft verwandeln, in der unsere Gedanken kontrolliert werden, in der überall eine Überwachungskamera steht. Das wollen wir sicherlich nicht. Das sind dann autoritäre Regime. Und selbst die sind, wie man weiß, nicht – in Anführungszeichen – sicher. Also wird man – so schlimm sich das anhört – mit einem gewissen Maß an Unsicherheit immer leben müssen. Aber selbstverständlich sind wir dazu aufgefordert, alles zu tun, um die Sicherheit zu erhöhen, alles dafür zu tun, um zu schauen: Wie können wir solche potenziellen Täter dingfest machen? Und dabei auch schauen: Was passiert eigentlich, dass Jugendliche sich so radikalisieren?
    Lindner: Ja, nach dem Informationsstand, den wir bislang haben – also das heißt Samstagmittag – war es ein Einzeltäter, 18 Jahre alt, ein junger Mann. Das Motiv ist bislang noch offen. Wie soll es jetzt weitergehen? Es gibt ja mittlerweile … es gibt ja jetzt auch schon erste Rufe, wie zum Beispiel mehr Sicherheit hergestellt werden kann. Ein Punkt ist die Videoüberwachung, die zum Beispiel aus den Reihen der CSU, aus den Reihen der Union schon in der Vergangenheit immer wieder, aber jetzt mit noch mehr Vehemenz gefordert wird. Ist das Ihrer Ansicht nach das richtige Instrument?
    "Wir sind ein Kontinent der Menschenrechte"
    Özdemir: Ich habe ja gerade schon gesagt, also die Polizei ermittelt noch. Die Leute vor Ort arbeiten mit Hochdruck daran. Und dann sind welche schon dabei, da irgendwie Vorschläge zu präsentieren. Das hat nicht nur etwas furchtbar Unsympathisches, sondern das hat vor allem auch was Unangebrachtes, fast schon Pietätloses. Jetzt lassen wir doch erst mal die Leute vor Ort ihre Arbeit machen und stören sie dabei nicht. Übrigens stören kann man auch in den sozialen Medien, indem man da jetzt irgendwelche Gerüchte verbreitet, wo irgendwie angebliche Täter unterwegs sind und damit eine Panik auslöst. Darüber muss man jetzt auch mal reden. Es gibt ja nicht nur Politiker, die daraus versuchen irgendwie jetzt da ihr Süppchen zu kochen, sondern es gibt ja leider auch in den sozialen Medien fast schon zum Teil ein voyeuristisches Bedürfnis nach so einer Tat, dass jeder jetzt noch irgendwie was dazu beisteuert und damit eine Panik verbreitet.
    Lindner: Man fragt sich ja so ein bisschen, was die Geschichte noch so im Repertoire hat. Man schaut diese Unruhe an, diese Angespanntheit, die Verunsicherung. Welche langfristigen Folgen wird das auch für die Binnenstruktur unserer Gesellschaft haben Ihrer Ansicht nach?
    Özdemir: Jetzt mal losgelöst vom aktuellen Fall, frage ich mich immer: Was ist das Ziel von solchen Leuten, die beispielsweise Terrorangriffe machen, die – sei es ISIS oder andere – versuchen Angst und Schrecken zu verbreiten? Ganz offensichtlich ist das Ziel, dass sie Nachwuchs rekrutieren wollen beispielsweise, dass sie unsere Gesellschaften verunsichern wollen und dass sie Recht haben wollen mit dem, was sie sagen. Also im Fall von ISIS, ISIS sagt, die Muslime werden in Europa unterdrückt. Hier werden Moscheen bedroht oder dürfen nicht gebaut werden. Das Gegenteil ist richtig. Ich glaube, es gibt kaum einen Kontinent auf der Erde, wo Muslime so viel Freiheit genießen wie in Europa und insbesondere in Deutschland. Aber sie brauchen das für ihre Propaganda. Und, wenn jetzt Politiker von ganz rechts außen beispielsweise Dinge sagen, die das Weltbild von ISIS bestätigen, machen sie die Arbeit von ISIS nur leichter. Also meine Antwort: Das, was unsere Gesellschaft so einmalig macht, was sie so großartig macht, nämlich, dass es sich um freie Gesellschaften handelt, um Gesellschaften, in denen man seine Gedanken frei äußern kann, in denen man ringen kann gemeinsam mit anderen um gute Lösungen, dem Austausch von Meinungen, das dürfen wir nicht gefährden, sondern ganz im Gegenteil, das müssen wir jetzt erst recht verteidigen. Übrigens gerade in der Situation, wo um uns herum man das Gefühl hat, dass der Fanatismus immer stärker wird, dass Politiker, die dem Populismus zuneigen, selbst in Ländern der westlichen Hemisphäre immer stärker werden … Wir haben ja den Nominierungsparteitag der Republikaner gesehen. Wir hören Marine Le Pen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Und viele andere Beispiele. Gerade in der Situation ist es besonders wichtig, dass wir das, was uns auszeichnet, das, was uns ausmacht … wir kommen aus der Aufklärung, wir bekennen uns zu den Werten der Französischen Revolution, zu Liberté, Égalité, Fraternité. Wir sind ein Kontinent der Menschenrechte. Das zu verteidigen, ist jetzt erst recht gefragt und das Ganze unter dem Dach Europas. Denn kein Nationalstaat alleine ist stark genug, das zu machen.
    Lindner: Ich würde gerne noch mal darauf zurückkommen. Ich würde Sie gerne noch einmal festnageln. Sie haben gesagt, wir müssen uns dieser Herausforderung durch Bedrohungslagen – seien sie von rechts, kommen sie durch Islamisten – müssen wir uns stellen. Sie haben aber auch gesagt, Videoüberwachung ist da der falsche Weg. Wie soll es denn aussehen? Nennen Sie mir doch ein konkretes …
    Özdemir: Na ja, das …
    Lindner: … Instrument.
    Özdemir: Das habe ich jetzt gar nicht gesagt, sondern ich habe einfach gesagt: Die vorschnellen Vorschläge, die überzeugen mich nicht wirklich. Wenn jemand da quasi so eine Art Themenrecycling macht von Dingen, die man immer sagt in vergleichbaren Situationen, das überzeugt mich nicht wirklich. Sondern ich würde da gerne auf die Sachverständigen hören, auf diejenigen, die vor Ort da glaube ich besser Bescheid wissen und dann entscheiden, was der richtige Weg ist, ob sich die Gesetze bewährt haben und wir eine Situation haben, die man eben trotz schärfster Gesetze nicht lösen kann. Das gibt es und das muss man einfach ehrlich zugeben und dann nicht ständig irgendwelche Dinge fordern, die eine Scheinsicherheit gewährleisten. Oder, ob wir tatsächlich Lücken haben. Auch das kann es ja geben. Und dann muss man diese Lücken schließen und muss aus möglichen Fehlern lernen. Aber das quasi in Echtzeit parallel zu machen, während da vielleicht noch geschossen wird, es tut mir leid, aber das entbehrt nicht einer gewissen Geschmacklosigkeit. Ob wir mehr Videoüberwachung brauchen oder nicht, das bin ich gerne bereit mir anzuschauen, aber bitteschön auf der Grundlage von Fakten und nicht auf der Grundlage von Spekulationen, weil irgendwelche Leute ihren Namen in der Zeitung lesen wollen. Noch mal: Das ist geschmacklos.
    Lindner: Herr Özdemir, lassen Sie uns auch über Würzburg sprechen. Ein junger Mann, ein 17-Jähriger, der sich als afghanischer Flüchtling ausgegeben hat, dessen Identität auch noch nicht endgültig geklärt ist, hat mehrere Menschen schwer verletzt. Jetzt berichtet der Ochsenfurter Helferkreis, der sich ja auch um Flüchtlinge dort in der Region kümmert, dass sie mit Hass-Mails überschüttet werden, dass sie dafür mitverantwortlich gemacht werden. Wie kann Zivilgesellschaft darauf reagieren? Oder ist das jetzt nicht auch der Punkt, wo man die Frage stellen muss: Hatten diejenigen, die Mahner und Warner waren, dann nicht vielleicht doch auch recht, die vor der Gefahr gewarnt haben?
    Özdemir: Also schauen Sie, ich warne vor jeder Art von Pauschalurteil. Das führt nicht weiter. Das ist genau das, was die Fanatiker wollen, dass man Menschen sortiert entlang der Herkunft, entlang der Religion, entlang der Ethnie. Erst mal kann niemand was für seine Herkunft, für seine Ethnie, für seine Religion. Die Wenigsten sind im Kreißsaal gefragt worden, ob sie Christ, Jude, Muslim oder sonst irgendwas sein wollen. Und zweitens halte ich nichts von der kulturalistischen Argumentation. Das ist voraufklärerisch. Das ist ein Rückfall in die Stammeskultur. Das, was Europa, die Moderne ausmacht, ist, dass wir uns auf der Basis von gemeinsamen Werten versammeln, um Verfassungen herum. Und entscheidend ist nicht, wo jemand herkommt oder woran jemand glaubt, oder ob man überhaupt glaubt. Sondern entscheidend ist, ob man sich zu diesen zivilisatorischen Errungenschaften bekennt oder nicht. Das kann jemand unterschiedlicher Kultur genauso tun, wie jemand, dessen Vorfahren schon immer hier gelebt haben. Das heißt nicht, dass es uns entbindet davon, dass wir gerade bei Leuten, die möglicherweise besonders gefährdet sind … Also, um auf Ihr Beispiel zurückzukommen, junge unbegleitete Flüchtlinge, die zum Teil hochgradig Traumatisches erlebt haben, dass die möglicherweise stärker gefährdet sind als andere, ist doch offensichtlich. Ein junger Mensch, der vielleicht dann auch noch alleine ist, überfordert ist, schlimme Dinge erlebt hat, traumatisch ist und dann gibt es vielleicht jemanden, der ihm sagt "ja, ich helfe dir" und hat damit aber ganz Schlimmes … führt damit ganz Schlimmes im Schilde. Also: hinschauen, sich kümmern, schauen, dass wir diesen Gefahrenherd dadurch eben kleiner machen, indem wir uns um diese Jugendlichen ganz besonders intensiv kümmern.
    "Ich will merken, wenn Frau Merkel in der Türkei ist"
    Lindner: Sie hören den Deutschlandfunk, das Interview der Woche mit Cem Özdemir, dem Parteivorsitzenden der Grünen. Herr Özdemir, als ich das Interview vorbereitet habe, dachte ich eigentlich, dass wir natürlich mit dem Putsch in der Türkei anfangen. Jetzt sind wir von den Ereignissen aber auch überholt worden. Selbst die Bundesregierung hat mittlerweile Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit dessen, was jetzt nach dem vereitelten Putschversuch in der Türkei passiert ist. Man hat dort Säuberungen erlebt, fast 3.000 Armee-Angehörige wurden festgenommen, Richter festgesetzt, Lehrer. Rundfunksender haben die Lizenz verloren. Akademiker dürfen nicht mehr ins Ausland reisen. Es gibt jetzt einen dreimonatigen Ausnahmezustand. Aber dennoch wird die Kritik ja moderat im Ton formuliert. Meine Frage ist jetzt: Sollte die Bundesregierung das türkische Vorgehen stärker sanktionieren? Und wenn ja, wie?
    Özdemir: Also Zweifel am rechtsstaatlichen Vorgehen dessen, was in der Türkei passiert, das ist schon eine sehr euphemistische Formulierung angesichts dessen, was da gerade passiert. Da wird gerade die gesamte türkische Demokratie komplett abgewickelt, in eine Willkürherrschaft verwandelt, in der alle Menschen, die nicht Anhänger von Erdoğan sind, Angst haben müssen, ihren Job zu verlieren. Es besteht für sie keinerlei Rechtssicherheit mehr. Ihre wirtschaftliche Existenz ist infrage. Sie können jeden Augenblick verhaftet werden. Es gibt keine Begründung. Ich habe jetzt selber solche Fälle wieder gehabt von Leuten, die sich an mich gewandt haben. Die sind verhaftet worden. Es wird ihnen nicht genannt warum. Der Anwalt hat kein Akteneinsichtsrecht, erfährt auch nicht warum. Die Richter und Staatsanwälte, die sich später mal vor Gericht wiedersehen werden, das sind mittlerweile praktisch samt und sonders "Erdoğan-Richter" und "Erdoğan-Staatsanwälte". Das heißt, wir haben es mit einer "Erdoğan-Polizei" zu tun. Wir haben es mit "Erdoğan-Journalisten" zu tun. Wir haben es mit "Erdoğan-Staatsanwälten", "Erdoğan-Richtern", jetzt auch noch einer "Erdoğan-Armee" zu tun. Und wer sich diesem neuen Propheten Erdoğan … eben nicht ihm folgt mit all seinen Glaubenssätzen, der muss wissen, dass er in der Türkei ein sehr unbequemes Leben hat. Das deutlich zu benennen, finde ich, hat auch was mit Ehrlichkeit zu tun. Das heißt übrigens nicht … Dass wir uns nicht falsch verstehen … Man muss ja immer ein bisschen aufpassen, dass das … was man als Oppositionspolitiker sagt, kann einen ja in der Regierung wieder einholen, wenn man regieren sollte. Ich plädiere nicht dafür, dass man sich mit den Putins, mit den Erdoğans dieser Welt nicht unterhält. Das muss man leider machen. Aber unterhalten heißt doch nicht, dass man dabei nicht merkt, dass die Bundesrepublik Deutschland und Europa auch eigene Werte haben, und dass man die deutlich zum Ausdruck bringt. Und das heißt für mich, ich will merken, wenn Frau Merkel in der Türkei ist. Ich will spüren, wenn Herr Steinmeier für unser Land irgendwo hinreist, dass da auch die deutschen Werte, die Werte unseres Landes, des deutschen Grundgesetzes, aber auch die Werte Europas mitreisen.
    Lindner: Ja, Sie haben gerade eine Zustandsbeschreibung geliefert. Sie haben auch Wünsche ausgesprochen an Mitglieder der Bundesregierung. Meine Frage war aber eben, ob die Bundesregierung das Vorgehen Erdoğans im Moment sanktionieren sollte, und wenn ja, mit welchen Mitteln – also welche Hebel?
    Özdemir: Ja, sie hat ja jetzt Gott sei Dank den …
    Lindner: Um welche Hebel geht es?
    Özdemir: … Kursschwenk vorgenommen, was die Beitrittsverhandlungen angeht. Das war auch höchste Eisenbahn. Ich habe das ja schon kurz nach dem Putsch gefordert, dass eine Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen gegenwärtig keinen Sinn macht. Niemand im Land würde verstehen, wenn wir neue Beitrittskapitel mit der Türkei eröffnen, quasi noch als Belohnung dafür, dass dort Rollkommandos in eine Redaktion reinstürmen, die Leute zusammenschlagen und eine Redaktion nach der anderen kapern. Also das wäre, glaube ich, nicht verständlich. Ich plädiere übrigens nicht für einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen, sondern dafür, dass man sie auf Eis legt. Warum? Ich will nicht die Türkei bestrafen. Ich will nicht die Bevölkerung der Türkei bestrafen. Sondern ich will deutlich machen: Dieses Regime tritt Menschenrechte, Demokratie, alles, was westliche Gesellschaften ausmacht, mit den Füßen. Und das kann nicht ungeahndet bleiben. Aber für den Fall, dass in der Türkei eines Tages die Demokraten wieder die Mehrheit bekommen sollten, sollten wir auch deutlich machen, dass der Weg der Türkei Richtung Europa unsererseits nicht verschlossen ist.
    Lindner: Sie haben sich ja schon lange für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eingesetzt. Wie groß ist denn Ihr Grad der Ernüchterung?
    "Erdoğan hat kein Interesse mehr an der EU-Mitgliedschaft"
    Özdemir: Na ja, also jetzt muss man mal sagen, wir haben uns ja eingesetzt für Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union zu einem Zeitpunkt, als die Türkei auf dem Reformweg war – bis 2005, als wir regiert haben mit SPD und Bündnis90/Die Grünen zusammen unter Schröder/Fischer. Dann wurde Frau Merkel Bundeskanzlerin in der ersten Großen Koalition, die sie geführt hat. Und die Beitrittsverhandlungen wurden dann später mit dem damaligen französischen Präsidenten Sarkozy durch die sogenannte privilegierte Partnerschaft ersetzt. Das zu dem Zeitpunkt, als die Türkei Richtungen Reformen sich auf den Weg gemacht hat, also in der kurdischen Frage sogar Verhandlungen mit Öcalan, dem Staatsfeind Nummer eins geführt hat. Selbst in der armenischen Frage gab es einen Öffnungsprozess, in der Zypernfrage, die Bekämpfung von Folter, Frauenrechte, Minderheitenrechte, also all die Themen, die die Türkei dringend in Angriff nehmen muss. Dann später, als die Türkei sich auf den falschen Weg gemacht hat, all diese Reformen, für die ja Erdoğan selber auch verantwortlich war, wieder rückabgewickelt hat, immer autoritärer wurde, hat Frau Merkel die Beitrittsverhandlungen in die Europäische Union wieder entdeckt und wollte auf einmal mit Erdoğan über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union verhandeln. Ich gestehe, das überfordert mich intellektuell ein wenig, warum man ein Land, das auf dem Reformweg ist, nicht will, aber ein Land, das sich immer autoritärer entwickelt, belohnen möchte dafür. Das versteht, glaube ich, niemand. Das kann man nur begreifen vor dem Hintergrund der Flüchtlingspolitik, dass die Beitrittsverhandlungen natürlich auch Bestandteil wurden der Flüchtlingspolitik.
    Lindner: Glauben Sie denn, dass Erdoğan überhaupt noch selber Interesse hat an der Mitgliedschaft?
    Özdemir: Nein. Erdoğan hat, glaube ich, schon lange kein Interesse mehr an der Mitgliedschaft. Aber diese Unehrlichkeit ist auf beiden Seiten zu suchen. Die Türkei hat unter Erdoğan mittlerweile so getan, als ob sie in die Europäische Union möchte. Denn Europäische Union würde ja bedeuten, dass es Gewaltenteilung geben muss, ein unabhängiges Verfassungsgericht und alles, was eben eine Demokratie ausmacht – mit Meinungs-, Pressefreiheit. Das wollte Erdoğan nicht. Auf der anderen Seite: Aber auch wir waren unehrlich und sind es. Hier wurde so getan, als ob die Türkei eine ernsthafte Chance auf die Mitgliedschaft hätte. Beide haben sie in die Tasche gelogen. Ich glaube, dass dieser Zivilputsch, der jetzt unter Erdoğan stattfand, vielleicht ein bisschen beiträgt Klarheit zu haben, womit wir es in der Türkei und unter Erdoğan zu tun haben. Ich will aber schon auch sagen, der Arm Erdoğans der mag in viele Bereiche der türkischen Gesellschaft mittlerweile reichen, aber er darf nicht nach Berlin reichen. Er darf nicht nach Deutschland reichen. Auch da wünschte ich mir eine klare Ansage aus Berlin, dass Menschen, die sich nicht dem Erdoğan-Regime hier unterordnen wollen aus der türkischen Community, dass sie sich darauf verlassen können, dass sie hier sicher sind und hier zumindest keine Angst haben müssen. Es kann ja nicht sein, dass sich bei mir ständig Leute melden, die sagen: Wir haben Angst.
    Lindner: Sie haben den Themenschwenk gerade schon vorweggenommen. Denn es ist ja nicht nur eine außenpolitische Dimension, die wir erleben. Es ist ja im Moment eigentlich schon so weit, dass es auch innenpolitische Folgen, innenpolitische Dimensionen hier gibt. Sie haben eben vom Arm der Türkei, vom Arm Erdoğans in Deutschland gesprochen. Meine Frage ist jetzt: Meinen Sie damit konkret auch die Moschee-Verbände DITIB?
    Özdemir: Natürlich meine ich die auch. Die vier großen Dachverbände, insbesondere für sunnitische Muslime in der Bundesrepublik Deutschland spielen eine wichtige Rolle. Sie sind ein wichtiger Partner. Wir sind mit denen auch im Gespräch. Aber ich muss auch sehr deutlich sagen, sie erfüllen nicht die Voraussetzung für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft. Ich sehe das nicht. Für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft müssten sie eben eine Interessenvertretung von hier lebenden Muslimen sein, beispielsweise sunnitische Muslime, was auch immer. In Wirklichkeit handelt es sich um politische Organisationen. Und im Fall bei der größten Organisation DITIB ist es eine Organisation, die zentralistisch in Köln geleitet wird. Und die dortige Leitung wiederum ist direkt Ankara unterstellt. Und am Ende dieser Kette steht Staatspräsident Erdoğan. Also zu Ende gedacht: Wenn man diese Organisation hier beispielsweise über einen Staatsvertrag aufwertet, wenn man sie als Religionsgemeinschaft anerkennt und sie dadurch in unsere Schulen hineinlässt, um muslimischen Religionsunterricht zu unterrichten, dann muss man auch so ehrlich sein zu sagen, dass Erdoğan in unsere Schulen kommt. Wer das will, soll das offen sagen. Ich will das nicht.
    Lindner: Wie konkret soll die politische Antwort aussehen? Ist das eine landespolitische Antwort? Ist das eine bundespolitische Antwort? Weil Sie haben ja auch schon angedeutet – das ist ja auch das, was man im Moment beobachten kann – dass es ja auch eine Politisierung gibt, auch von der türkischen Community hier in Deutschland. Sie haben es sogar mit einer türkischen Pegida bezeichnet. Wie viel Angst haben Sie denn, dass diese Konflikte auch hier auf die Straße getragen werden?
    "Ich kann Klartext reden"
    Özdemir: Also erst mal darf jeder für und gegen was demonstrieren, was immer die Leute wollen. Das ist ja das Schöne bei uns in der Demokratie, dass hier nicht nur Erdoğan-Anhänger demonstrieren dürfen, sondern auch die anderen demonstrieren dürfen. Aber natürlich auch Erdoğan-Anhänger, wenn sie das wollen. Und das Demonstrationsrecht ist uns da heilig. Aber klar ist auch, wo die rote Linie ist. Das liegt bei Gewalt und insbesondere da, wo Intoleranz ins Spiel kommt, wo andere unter Druck gesetzt werden, wo man sie einschüchtert. Das geht nicht. Wenn hier Läden überfallen werden, wenn man hier Druck macht auf andere, oder wenn es gar Aufrufe gibt, ähnlich wie in der Türkei, Listen zu führen über mutmaßliche Regime-Gegner, dann muss es ein klares Stopp-Signal geben. Ich will mal eines sehr deutlich machen: Wenn ich jetzt hier bei Ihnen sitze, beim Deutschlandfunk und wir haben uns zum Radio-Interview verabredet und ich würde vorher mit Lutz Bachmann einen Kaffee trinken, das wäre öffentlich bekannt, ich hätte vorher noch eine gemeinsame Veranstaltung mit Pegida, Legida, mit der AfD gehabt, ich glaube, das Interview würde ein bisschen anders ablaufen. Dann erwarte ich von allen deutschen Politikern, dass man dieselben Maßstäbe an die türkische Pegida, an die türkische Legida, an die türkische AfD ansetzt. Das tun wir zurzeit nicht. Schauen Sie sich an … die türkische Gemeinde zu Berlin, der Vorsitzende dort, der mit einschlägigen Zitaten unterwegs ist, wer sich alles mit ihm trifft zum Happening. Es liest sich wie das Who`s who der deutschen Politik. Ich sage nicht, dass man sich mit ihnen gar nicht unterhalten soll. Natürlich muss man auch mit solchen radikalen Kräften manchmal reden, aber bitte Klartext reden. Ich kann Klartext reden. In Berlin habe ich da manchmal das Fragezeichen, ob die Bundesregierung das kann.
    Lindner: Wen meinen Sie da konkret?
    Özdemir: Na ja, die türkische Gemeinde zu Berlin. Ich meine damit DITIB. Man muss wissen, wenn man …
    Lindner: Nein, welche Politiker meinen Sie?
    Özdemir: Praktisch alle. Schauen Sie sich doch einfach mal die Website an. Gehen Sie mal drauf, wer sich da alles zum Fastenbrechen-Essen trifft. Gerne hingehen. Aber bitte nicht Ringelpiez mit Anfassen, sondern Klartext reden, wie das Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg gemacht hat bei seinem Fastenbrechen-Essen. Da sind ja … manche haben den Saal verlassen. Das muss man aushalten. Wir sind hier in Deutschland. Hier werden Morddrohungen gegen deutsche Abgeordnete in aller Deutlichkeit zurückgewiesen. Wer damit ein Problem hat, muss sich überlegen, ob er hier richtig ist, ob er sich hier auf Dauer wohlfühlen wird. Winfried Kretschmann hat das gemacht. Ich wünsche mir das von allen Ministerpräsidenten, von allen Ministern, von allen Politikern in dieser Klarheit, dass man seinem türkischen Gesprächspartner gegenüber reinen Wein einschenkt. Es darf auch gerne reiner Ayran sein, aber es sollte deutlich ankommen, was damit gemeint ist. Ich kann es auch noch konkreter machen. Bei der CDU beispielsweise organisiert sich ein islamischer Arbeitskreis von Leuten, die in der Türkei der AKP nahestehen. Die sagen dann zugleich, dass beispielsweise eine türkischstämmige Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen, die Serap, dort nicht erwünscht sei. Oder eine Bundestagskollegin von mir, die Cemile, dort nicht erwünscht sei. Das sind ihnen offensichtlich zu selbstbewusste Abgeordnete, und weil sie eben in der Armenienresolution da eine andere Meinung haben. Ich finde, da muss die CDU Klartext sagen. Man kann nicht Mitglied der CDU sein und gleichzeitig die Todesstrafe befürworten, gleichzeitig befürworten, dass Journalisten zusammengeprügelt werden in der Türkei, und dass die Türkei in ein autoritäres Regime verwandelt wird. Ich sage in meiner Partei sehr klar: Man kann nicht für die Grünen sein und gleichzeitig das Erdoğan-Regime befürworten. Deshalb sind bei mir eine Menge ausgetreten. Auch die anderen Parteien sollten mal in ihre Reihen schauen, wer sich da alles so tummelt.
    Lindner: Glauben Sie denn, dass es langfristig Integrationserfolge gefährden wird, wenn jetzt innertürkische Spannungen hier deutlicher werden, oder dass es auch Entfremdungsprozesse innerhalb der deutschen Gesellschaft verstärkt?
    Özdemir: Das ist ja kein ganz neues Phänomen. Ich kenne das auch schon von früher. Als ich das erste Mal 1994 in den Deutschen Bundestag gewählt worden bin, war ich erst Nationalheld in der Türkei. Und danach, wenn ich Kritik geübt habe an der Kurdenpolitik, am Umgang mit Christen, Frauenrechte, andere Themen angesprochen habe, war ich auf einmal schnell der Verräter. Und in Deutschland erscheinende türkische Tageszeitungen haben mich auf der Seite eins über Wochen, Monate, manchmal Jahre hinweg quasi zum Abschuss freigegeben. Und zu dem Zeitpunkt war das noch nicht ganz so ein öffentlich bekanntes Thema, jetzt ist es wieder ein Thema – über die Armenienresolution. Worum es hier geht, ist nichts anderes, als dass Menschen, die hier leben, in dieser Republik, im Kern ihre Information weder aus dem Deutschlandfunk noch aus öffentlich-rechtlichen anderen Medien oder sonst was beziehen, sondern sie beziehen ihre Informationen von Erdoğan-TV. Dort ist dann beispielsweise zu hören oder zu lesen nach diesem schrecklichen Terrorangriff in Istanbul von ISIS: Das war Deutschland. Also ich sage es noch einmal ganz langsam, damit es jeder versteht. Menschen, die hier leben, denen wird erklärt, das Land, in dem sie leben, ist für einen Terroranschlag von Islamisten verantwortlich. Da steht zum Beispiel drin, die PKK wird aus Deutschland unterstützt. Oder ich sei zum Beispiel ein Terrorist und wahrscheinlich die Hälfte der Bundestagsabgeordneten ist es gleich mit. Jetzt gibt es Gott sei Dank viele Leute, die sagen, das ist Schwachsinn. Aber es gibt auch welche, die glauben das. Das ist ein ähnliches Phänomen wie bei den Deutsch-Russen, als wir vor einiger Zeit den Fall hatten mit dem jungen Mädchen, das angeblich …
    Lindner: Lisa.
    Özdemir: … entführt wurde, von muslimischen Horden geschändet wurde. Und selbst der russische Außenminister Lawrow hat ja diese Information verbreitet. Obwohl sie sich als offensichtlich falsch herausgestellt hat, gibt es hier Menschen, die glauben, dass es ein Informationskartell gibt der deutschen Medien, also die berühmte Lügenpresse und der deutschen Politik, die das geheim halten. Was Ähnliches passiert gerade auch massiv in der türkischen Community. Und ich will das beschreiben, damit wir uns darüber im Klaren sind, dass es ähnlich wie bei den Deutsch-Russen auch bei den Deutsch-Türken mittlerweile eine Gruppe von Leuten gibt, für die Erdoğan die Informationsquelle Nummer eins ist und Erdoğans Medien. Und da sind Verschwörungstheorien nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall. Da wird im Prinzip ein Klima verbreitet, dass man sich hier auf Feindesterritorium bewegt. Das ist nicht gut fürs Zusammenleben. Es ist auch nicht gut für die Kinder, die in diesen Familien aufwachsen, weil sie ja im Prinzip erzogen werden und aufwachsen mit einem Bewusstsein, dass sie hier umstellt sind von lauter Leuten, die ihnen Böses wollen.
    Lindner: Herr Özdemir, ganz vielen Dank für das Interview der Woche. Bei mir war Cem Özdemir, Parteichef von Bündnis90/Die Grünen, vielen Dank.
    Özdemir: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.