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Grünen-Verkehrspolitiker: Mit Verdopplung der Kosten ist zu rechnen

Der Grünen-Verkehrspolitiker Michael Cramer sagt, dass Projekte, die von der Politik gewollt seien, "billig gerechnet werden". Cramer ist überzeugt, dass die Kosten für Stuttgart 21 steigen werden. Letztlich müsse man sehen, wer dann die Kosten trage, so der EU-Politiker.

Michael Cramer im Gespräch mit Mario Dobovisek | 28.11.2011
    Mario Dobovisek: Jahrelang hat er das Großprojekt bekämpft, mit seinem Widerstand sogar die Wahlen in Baden-Württemberg gewonnen. Winfried Kretschmann ist erster grüner Ministerpräsident in Deutschland und nun gezwungen, Stuttgart 21 weiter bauen zu lassen. Die Bagger können jetzt rollen, weil fast 60 Prozent der Baden-Württemberger es so wollen - zumindest fast 60 Prozent derer, die gestern ihre Stimme abgegeben haben.

    Am Telefon begrüße ich Michael Cramer, für die Grünen ist er Verkehrsexperte im Europäischen Parlament. Ich begrüße Sie, Herr Cramer.

    Michael Cramer: Schönen guten Tag!

    Dobovisek: Kritisch begleiten, das hören wir den ganzen Morgen immer wieder aus aller Munde. Was bedeutet das, wenn das aus einem grünen Munde kommt, Herr Cramer?

    Cramer: Wir werden natürlich kritisch begleiten vor allen Dingen die Kostenentwicklung. Ich kann mich noch erinnern, als der neue Hauptbahnhof in Berlin mit 700 Millionen D-Mark veranschlagt war, und als er dann ein paar Jahre später fertig war, hat er eine Milliarde Euro gekostet. Also die Kosten haben sich verdreifacht. Und hier ist ja Gott sei Dank in Stuttgart eine Schranke eingelegt worden, dass ein bestimmter Kostenrahmen nicht überstiegen werden darf.

    Dobovisek: Heißt denn "kritisch begleiten" auch ein Stück weit verhindern?

    Cramer: Das wird sich ja zeigen. Also wenn die Kostenwahrheit ans Licht kommt und dann sind es zwei oder drei Milliarden mehr, dann kann das natürlich der Knackpunkt sein, warum das Projekt verhindert wird, oder wenn die Bahn als Bauherr sich weigert, mehr Geld zu geben. Und ich erinnere auch daran: Der Bund hat ja überhaupt kein Geld. Wir geben 7,5 Milliarden aus für eine europäische Nebenstrecke, denn der wichtigste Korridor ist der Korridor Rotterdam-Genua, und da ist Deutschland mit der Rheintal-Bahn beteiligt. Da gibt es Verträge, die sind mit der Schweiz geschlossen worden. Die Schweiz hat bereits den Lötschbergtunnel gebaut und den Gotthardtunnel durchstochen und in Deutschland haben wir noch nicht mal das volle Planungsrecht. Aber was noch schlimmer ist: wir haben auch kein Geld, das zu bauen, wo wir schon Baurecht haben auf dieser Strecke, die unstrittig ist, und der Bundesverkehrsminister hat für dieses Jahr 19 Millionen Euro für diese Strecke eingeplant, die kostet aber vier Milliarden. Bei diesem Finanzniveau brauchen wir 200 Jahre, bis das fertig ist.

    Dobovisek: Heißt das, dass Deutschland zu Gunsten von Stuttgart 21 seine internationalen Zusagen nicht einhalten wird?

    Cramer: Natürlich! Deutschland ist vertragsbrüchig. Wir haben 14 grenzüberschreitende Verkehrsverträge mit unseren Nachbarländern. Von diesen 14 werden zwei eingehalten. Und wenn ich mir anschaue, was mit unseren Nachbarn im Osten passiert: die heutige Eisenbahn von Berlin nach Breslau, da brauchen wir sechs Stunden für 350 Kilometer. Das ist das Niveau von 1883. Und der fliegende Schlesier in den 30er-Jahren, der fuhr zweieinhalb Stunden. Weil 50 Kilometer Elektrifizierung fehlen, deshalb muss zweimal die Lok gewechselt werden, alles Zeitverluste, und für diese 50 Kilometer Elektrifizierung mit unserem östlichen Nachbar, der von uns ja Jahrzehnte durch den Eisernen Vorhang getrennt war, haben wir kein Geld, aber 7,5 Milliarden in Stuttgart spielen keine Rolle für eine Strecke, die für den Güterverkehr nicht geeignet ist und wo beim Personenverkehr wir wissen, dass 70 Prozent der Leute in Stuttgart ein- und aussteigen und nur 30 Prozent nach Ulm und München weiterfahren.

    Dobovisek: Aber auch ein sofortiger Baustopp hätte etliche Millionen verschlungen in Stuttgart für nichts am Ende. Wir hätten also Geld verloren. Wo liegt dann da das große Problem?

    Cramer: Da gibt es den Streit, kostet der Ausstieg 350 Millionen oder 1,5 Milliarden. Aber bei 7,5 oder zehn Milliarden - niemand weiß, wie es am Ende teuer wird; vor allen Dingen die Bodenbeschaffenheit, ist ja auch alles kompliziert -, das weiß niemand. Und wir kennen ja die Projekte, die Großprojekte. Keines hält die Zahlen ein und man muss mit einer Verdoppelung rechnen, und dann rechnet sich ein Ausstieg natürlich.

    Dobovisek: Warum ist das so, Herr Cramer? Wenn ich mein Haus modernisieren lasse und die Handwerker verlangen nach getaner Arbeit plötzlich das Doppelte, dann setze ich sie doch vor die Tür. Warum lässt sich die Politik das gefallen?

    Cramer: Meine Erfahrung ist die, dass die Projekte, die die Politik will, billig gerechnet werden und die, die sie nicht will, teuer gerechnet werden. Man fängt an, und wenn man angefangen hat - das ist ja das Komplizierteste bei Stuttgart -, hätte man die Verträge nicht schon längst, wäre möglicherweise der Bürgerentscheid anders ausgegangen, weil natürlich gerade der Schwabe Angst davor hat, 1,5 Milliarden wurde gesagt, die jetzt einfach nur für eine Kürzung, dann baue ich doch lieber weiter. Das kann man verstehen, aber so handelt die Politik und es gibt da keine festen Verträge.

    Dobovisek: Aber wer rechnet das klein? Rechnen das die Politiker klein, oder rechnen das die Bauarbeiter klein, die Bauunternehmer, die ihre Zuschläge bekommen wollen?

    Cramer: Natürlich die Planungsbüros, die das dann alles planen, und bestimmte Sachen werden dann eben nicht berücksichtigt. Dadurch wird es billiger und Überraschungen sind immer da, gerade bei solchen Großprojekten. Die Zeit geht ins Land, an Stuttgart 21 wird ja seit 15 Jahren gearbeitet und da haben sich natürlich die Preise auch verändert.

    Dobovisek: Und wie könnte man das in Zukunft verhindern? Könnte man zukünftig in solche Verträge schon vor Baubeginn einen sogenannten Kostendeckel einbauen?

    Cramer: Ja. Einen Festpreis kann man machen. So ist zum Beispiel verfahren worden mit dem Atomkraftwerk in Finnland. Aber das hat sich auch mehr als verdoppelt und jetzt streitet man sich darum, es war doch ein Fixpreis ausgemacht. Also Sicherheit hat man nie, aber es ist natürlich wichtig, dass man darauf guckt und einen Deckel einzieht. Und wenn die Bahn gewusst hätte - die Bahn intern war ja lange Jahre immer dagegen, weil sie sich nicht an den Kosten beteiligen wollte -, dann wird sich es anders zeigen.

    Dobovisek: Wie soll denn dann der Kostendeckel funktionieren, den die Landesregierung in Baden-Württemberg nun der Bahn in Stuttgart verordnen will?

    Cramer: Nein. Die Landesregierung hat ja nur gesagt, das Land beteiligt sich nicht mit mehr als diesen Kosten, und geht davon aus, dass der Bund und die Bahn als Bauherr diese Kosten übernimmt. Das finde ich eine gute Lösung und dann wollen wir mal sehen, was dabei herauskommt.

    Dobovisek: Was kann dabei herauskommen?

    Cramer: Ich bin davon überzeugt, die Kosten steigen. Dann werden sie sich ewig streiten, wer ist jetzt dafür verantwortlich. Natürlich wird die Bahn sagen, nein, nein, das seit ihr Schuld, oder der Bund muss zahlen. Aber das ist ein Bundesprojekt und dann sind letztlich die Bundesregierung und die Bahn verantwortlich und da muss man sehen, wie die sich die Kosten aufteilen.

    Dobovisek: Die Stuttgart 21-Gegner, das haben wir gelernt, haben gestern verloren. Hat denn dafür die Demokratie durch den Volksentscheid gewonnen?

    Cramer: Ja natürlich hat die Demokratie gewonnen. Wir haben ja eine lebhafte Debatte gehabt, es sind Zahlen auf den Tisch gekommen. Wir wissen heute, dass dort ein Bahnhof gebaut wird, der ein größerer Engpass ist als der jetzige Kopfbahnhof. Wir wissen, dass die Strecke Stuttgart-Ulm, die ja wegen der Geislinger Steige, die so steil ist - und die ist für den Güterverkehr nicht geeignet -, ausgebaut werden soll, parallel dazu baut man jetzt ebenfalls eine zweite Geislinger Steige, eine Strecke, die für den Güterverkehr nicht geeignet ist, obwohl alle davon ausgehen, der Güterverkehr hat die Zukunft und soll sie auch auf der Schiene haben. Das ist alles verrückt! Diese Verrücktheiten sind jetzt alle bekannt und auch der Kostenrahmen. Das ist alles bekannt. Es wäre besser gewesen, man hätte vor der Entscheidung so eine intensive Diskussion mit der Bürgerschaft gehabt. Dann wäre es vielleicht anders gelaufen, man hätte die Alternativen prüfen können, die Geißler ja zum Schluss vorgeschlagen hat, beides, sowohl unterirdisch wie oberirdisch. Aber da war dann der Fortschritt zu weit. Für den müssen wir alle teuer bezahlen, denn das Geld, was dort eingesetzt wird, ist unser Steuergeld.

    Dobovisek: Hätte es zuvor auch eine Volksbefragung geben müssen, so etwa wie geschehen in der Schweiz vor Baubeginn des Gotthard-Basistunnels?

    Cramer: Die Schweiz, die sind ja vorbildlich. Die haben ja nicht nur für den Gotthardtunnel eine Volksbefragung gemacht, sondern die haben eine Volksbefragung, die von Bürgerinitiativen initiiert wurde, gegen neue Autobahnen durch die Schweiz gemacht und haben damit verbunden, wir stärken die Schiene und das Geld für die Schiene kommt aus der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe. Das ist eine Straßenmaut, die gilt in der Schweiz für jeden LKW ab 3,5 Tonnen auf jedem Kilometer, den er fährt. Mit diesem Geld wird die Zukunft des Verkehrs, nämlich die Schienenstrecken gebaut. Deshalb hat die Schweiz das zeitlich geschafft, finanziell geschafft. Das ist vorbildlich, das kann die Lösung sein.

    Dobovisek: Michael Cramer, Grünen-Verkehrspolitiker im Europäischen Parlament. Vielen Dank für diese Einschätzungen.

    Cramer: Ich danke auch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.