Dienstag, 23. April 2024

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Grüner Tee und Coca Cola

Die junge Frau betrachtet die alte chinesische Mahagonitruhe mit den geschnitzten Füßen, die wie Tigerklauen aussehen. Vorsichtig berührt sie die Messingbeschläge, langsam öffnet sie den schweren Deckel. Die Gerüche Chinas strömen ihr entgegen: ein Gemisch aus Kampfer und Seide. Sie findet, wonach sie gesucht hat, einen schwarzen Cheongsam, eines jener hochgeschlossenen, enggeschnittenen Kleider, deren Raffinesse ein beinlanger Seitenschlitz ist. Der Cheongsam, den sie in den Händen hält, stammt aus dem Geschäft ihrer Großtante Yu-I, jener berühmten und geheimnisumwitterten Großtante, die in den chinesischen Geschichtsbüchern einen Ehrenplatz erhalten hat, galt sie doch als unabhängig, frei, modern.

Simone Hamm | 26.01.1999
    Pang-Mei Natasha Chang hat lange Gespräche mit der weisen Dame geführt, die so alt ist wie dieses Jahrhundert, hat deren Geschichte zu Papier gebracht und sie mit der eigenen Lebensgeschichte verwoben. Im Englischen Original heißen diese Erinnerungen Bound Feet and Western Dress - gebundene Füße und westliche Kleidung. Jetzt sind sie ins Deutsche übertragen worden und heißen plakativer, aber auch harmloser "Grüner Tee und Coca-Cola". In den gebundenen Füßen stecken noch all die Ängste und Schmerzen der chinesischen Frauen, steckt die Brutalität, mit der sie behandelt wurden. Chinesischer grüner Tee hingegen, ist etwas Feines, Duftiges, Leichtes.

    Pang-Mei Natasha Chang hat ihre Großtante erst mit neun Jahren kennengelernt. Da war die alte Dame von Hongkong nach New York gezogen. Sie zieht die Großnichte sofort in ihren Bann. Ihre Füße waren nicht gebunden, nicht verstümmelt wie die ihrer gleichaltrigen Freundinnen. Energisch hatte sich ihr Bruder dagegen verwehrt. Dem Wunsch des Jungen wurde stattgegeben, die Meinung des kleinen Mädchen, das frei herumlaufen und springen wollte, interessierte niemanden. Doch das war alles an Freiheit, was man ihr gestattete. Denn je länger sich Pang-Mei Natasha Chang mit der berühmten Großmutter auseinandersetzt, desto mehr merkt sie, wie auch diese mutige Frau von Familientraditionen abhängig war, wie sehr sie sich fügte, ihrem Mann, dessen Familie. Und noch etwas geschieht: Je intensiver sie sich mit der Großtante befaßt, desto größere Klarheit bekommt sie auch über sich selbst. Auch sie, die in Amerika geboren und aufgezogen worden ist, ist den chinesischen Traditionen weit mehr verhaftet, als sie es lange vor sich selbst zugeben konnte.

    Yu-I ist dreizehn Jahre alt, als sie zum ersten Mal den Namen des Mannes hört, mit dem sie zwei Jahre später verheiratet werden soll: Hsü Chih-mo. Sie hat es durchgesetzt, daß sie eine Schule besuchen darf, ist begierig darauf, zu lernen. Sie will alles andere als heiraten. Doch die Familie hat die Entscheidung längst getroffen. Immerhin soll sie einen fortschrittlichen jungen Gelehrten aus gutem Hause heiraten. Dieser Mann ist zwar fortschrittlich genug, seiner Braut noch in der Hochzeitsnacht zu sagen, daß er sich scheiden lassen werde, aber nicht fortschrittlich genug, sich bei seinen Eltern der arrangierten Ehe zu widersetzen. Die einzige, die wagt zu widersprechen, ist die, die die traditionellste Rolle innehat: die Wahrsagerin. Daraufhin wird das Horoskop schnell verändert, Yu-I zwei Jahre älter gemacht. Sie verschwindet in den Frauengemächern der Familie ihres Mannes, um fortan Schuhe zu nähen. Sie ist " weder drei noch vier". Sie ist ein modernes Mädchen, denn sie hat keine gebundenen Füße, aber für ihren Mann ist sie ein ungebildeter Bauerntrampel. Als sie einen Sohn zur Welt bringt, sind die Schwiegereltern außer sich vor Freude. Yu-I hat ihre Schuldigkeit getan.

    "Jetzt, da die Frage der Nachkommenschaft geklärt war, hatte Hsü Chih-mo die Freiheit, nach Übersee zu gehen. Im Sommer 1918, kurz nach der Geburt unseres Sohnes, reiste er ab, um (...) in Massachusetts Bankwesen und Soziologie zu studieren. Wie die meisten jungen Väter schien er von einem fast ehrfürchtigen Stolz auf seinen Sohn erfüllt zu sein. Mir gegenüber blieb Hsü Chih-mo jedoch derselbe. Als ich ihm Lebewohl sagte, schien er schon fort zu sein. Vielleicht war er nie dagewesen."

    Ihr Mann geht nach Europa, Yu-I folgt ihm. Als sie erneut schwanger wird, gesteht er ihr, daß er längst eine andere hat und bittet um die Scheidung. Für ihre Schwiegereltern wird Yu-I immer die Frau bleiben, die sie für ihren Sohn ausgesucht haben. Das Verhalten ihres Sohnes verletzt und verärgert sie hingegen. Yu-I bekommt einen zweiten Sohn, Peter, den sie in Berlin mit einer Freundin zusammen großziehen will. Peter ist ein schwaches, kränkelndes Kind, ein Kind mit einer gefährlichen Darmkrankheit. Nur eine teure Operation in der Schweiz kann das Leben des Dreijährigen retten.

    "Die Chinesen glauben, daß ein Mensch in seinem Darm alles Mitgefühl und alle Zuneigung speichert, die man ihm entgegenbringt. Es war sehr traurig, daß ein so geliebtes Kind wie Peter gerade am Darm erkrankt war (...) Ich schrieb (den Schwiegereltern). (Sie) antworteten, man könne nichts tun; es sei nicht genug Geld da, um Peter in die Schweiz zu schicken. Da meine Schwiegereltern sehr vermögend waren, habe ich das nie verstanden (...) Wenn sie Peter einmal gesehen hätten, vielleicht wäre es dann anders gewesen. Aber er war mein Kind, ein Kind des Westens, und er würde China niemals erleben."

    Peter stirbt. Der Vater, der sein Kind nur ein einziges Mal gesehen hat, schreibt eine rührende Gedenkschrift. Yu-I kehrt schließlich doch nach China zurück und nimmt ihren ersten Sohn, der bislang bei den Schwiegereltern lebte, zu sich. Ihre Träume von einer eigenen kleinen Schule erfüllen sich nicht. Ihr Ex-Mann kommt bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, Yu-I wird dreißig Jahre lang nicht wieder heiraten. Als sie es tut, hat sie zuvor ihren Bruder und ihren Sohn um Erlaubnis gefragt.

    Pang-Mei Natasha Chang holt noch ein anderes Kleid aus der Truhe, einen leuchtendroten Cheongsam, den sie bei ihrem Hochzeitsempfang getragen hatte. Er war genau nach dem Schnitt des Cheongsam der Großtante gefertigt worden. Pang-Mei Natasha Changs Buch ist gewiß keine literarische Sensation. Einfach sind die Worte der Großtante, einfach sind die Sätze in der ihre amerikanische Nichte sie wiedergibt: Zeugnis des Lebens einer Frau im vorrevolutionären China. Yu-I hatte gekämpft, um lernen, eine Schule besuchen zu dürfen. Am Ende war sie doch nur die Gefangene ihrer und ihres Mannes Familie. Darüber hat sie sich nie beklagt, sie hat es nicht nur hingenommen, sondern akzeptiert: so waren die Spielregeln nun einmal. "Grüner Tee und Coca-Cola" ist eine kurzweilige und doch interessante Lektüre für all die, die mehr wissen wollen über Leben und Lernen einer Chinesin in den Zeiten vor Mao.