Müller: Ich glaube, dass der Parteitag in Düsseldorf ein Parteitag sein kann, der wesentlich dazu beiträgt, ein Signal der Entschlossenheit und ein Signal des Wechsels in Deutschland auszusenden. Rot-Grün ist am Ende, hat weitgehend abgewirtschaftet. Die Arbeitslosenzahlen, die in diesen Tagen bekannt geworden sind, dokumentieren dies. Mit dieser Politik kann man Arbeitsplätze nicht schaffen. Deshalb ist es wichtig, dass die Union auf diesem Parteitag in den Vordergrund das Thema Wachstum stellt und die Frage: Wie schaffen wir Beschäftigung in Deutschland? Die Positionen, die im Leitantrag formuliert sind, sind beschäftigungsfreundlich und tragen sicherlich dazu bei, hier eine Kurskorrektur vorzunehmen. Wir werden darüber hinaus uns mit der Frage zu beschäftigen haben: Was liegt unter den Bedingungen in der heutigen Zeit im deutschen Interesse? Und wir werden deutlich machen: Die CDU ist die Partei des deutschen Interesses.
Birke: Sie haben gesagt, die Union will eine beschäftigungsfreundlichere Politik machen. Aber außer dem Kündigungsschutz: Wo unterscheidet sich ganz konkret Ihre Reformpolitik, wo sind die Konturen klar unterscheidbar von der Reformpolitik von Rot-Grün?
Müller: Also erstens: Wir wollen den Arbeitsmarkt, der überreglementiert ist, von diesen Überreglementierungen befreien. Kündigungsschutz ist dabei nur eines von vielen Themen. Dabei geht es um die Frage: Wie verbessern wir Beschäftigungschancen? Es geht ja nicht um Einschränkungen bei denjenigen, die Beschäftigung haben. Die Frage ist: Was machen wir bei Neueinstellungen. Da halte ich es für richtig, den Schwellenwert anzuheben für die Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes. Da halte ich auch die Regelung, dass in den ersten beiden Jahren anstelle der bisherigen Regelungen über befristete Beschäftigungsverhältnisse generell eine Aussetzung der Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes stattfinden soll, für richtig. Es geht aber beispielsweise auch um die Frage ‚betriebliche Bündnisse für Arbeit‘, es geht um die Frage: Wie schaffen wir einen vernünftigen Niedriglohnsektor? Dazu gibt es viele Vorschläge im Leitantrag – Vorschläge, die zu mehr Beschäftigung in Deutschland führen. Der zweite zentrale Punkt: Wir müssen Arbeit in Deutschland billiger machen. Fakt ist, dass es nicht zu wenig Arbeit gibt, aber dass die Preise für die Arbeit zu hoch sind. Das ist die Debatte neben der Frage der Steuerreform, insbesondere die Abgaben, insbesondere die Sozialversicherungsbeiträge von der Belastung der Erwerbsarbeit abzukoppeln. Das ist dann am Ende auch die Debatte um die Gesundheitsprämie. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir solche Prämienmodelle brauchen, damit nicht die gesamte soziale Sicherheit durch Belastung der Arbeit finanziert wird und damit die Kosten für die Arbeit so steigen, dass wir Beschäftigungschancen, dass wir Wettbewerbschancen im globalen Bereich verlieren.
Birke: Herr Müller, Sie haben die Gesundheitsprämie angesprochen. Sie selbst haben gesagt, dieser Parteitag soll zukunftsweisend sein und ein Reformkonzept auch präsentieren, das jedermann versteht. Verstehen Sie die Gesundheitsprämie?
Müller: Die Gesundheitsprämie zu verstehen ist gar nicht so schwierig. Man muss es nur wollen. Ich habe den Eindruck, dass es viele gibt, die gar nicht bereit sind, sich damit zu beschäftigen. Alle Ökonomen, selbst linke Ökonomen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, kommen zu dem gleichen Ergebnis. Das Ergebnis heißt: Das Allerwichtigste ist es, dafür Sorge zu tragen, dass abgekoppelt wird die Finanzierung der sozialen Sicherheit von den Kosten der Erwerbsarbeit. Das einzige Modell, das in diese Richtung geht, ist das Modell der Gesundheitsprämie. Alle mir bekannten Modelle der Bürgerversicherung haben den gegenteiligen Effekt. Vor dem Hintergrund glaube ich, dass der Vorschlag der Union in die richtige Richtung weist. Sie wissen, das ist ein Kompromiss, der da zwischen CDU und CSU verhandelt worden ist. Bei einem Kompromiss müssen beide Seiten ein Stück von ihren eigenen Vorstellungen abgeben. Optimal hätte ich mir ein anderes Ergebnis vorgestellt, aber ich halte den Kompromiss für vertretbar. Er weist in die richtige Richtung. Und deshalb kann ich beispielsweise überhaupt nicht verstehen, dass die Kritik aus dem Arbeitgeberlager, die die Analyse teilt, sich in erster Linie auf die Union focussiert und man in der Frage der Bürgerversicherung weitgehend sprachlos geworden ist. Die Arbeitgeber müssen sich schon überlegen, was sie wollen in der Bundesrepublik Deutschland. Wollen sie in der Sache notwendige und richtige Positionen vertreten, oder wollen sie sich bei der amtierenden Bundesregierung und dem Bundeskanzler in besonderer Weise anbiedern? Das dient der Sache, das dient der Wirtschaft, das dient den Menschen in Deutschland sicher nicht.
Birke: Sie selbst haben gesagt, Sie hätten sich ein optimaleres Gesundheitsmodell vorstellen können. Werden Sie Änderungswünsche beim Parteitag geltend machen?
Müller: Nein, wir haben einen Kompromiss vereinbart. Der Kompromiss geht in die richtige Richtung, bringt Bewegung in das System. Deshalb macht es im Moment keinen Sinn, über Modifikationen zu reden, sondern es macht Sinn zu agieren. Wir gehen den Weg: Abkopplung der Kosten der Erwerbsarbeit von der Finanzierung des sozialen Sicherheitssystems.
Birke: Herr Müller, war es überhaupt strategisch richtig, so ins Detail zu gehen? Denn der Gegenvorschlag ‚Bürgerversicherung‘ von den Grünen und von der SPD ist ja doch in den Details sehr vage. Ist überhaupt die Strategie der Union, jetzt mit detaillierten Vorschlägen an die Öffentlichkeit zu gehen, die richtige?
Müller: Parteitaktisch ist das möglicherweise ein durchaus problematischer Weg, denn wenn Sie sehr detailliert die Dinge darstellen, ist es natürlich möglich, auch sehr detailliert zu kritisieren und Einzelfragen in den Vordergrund zu rücken. Trotzdem halte ich diesen Weg für richtig. Es ist ein Weg, der bereits vor der Bundestagswahl die Union klar positioniert. Das heißt, die Menschen wissen bei der Entscheidung bei der Bundestagswahl, was im Falle eines Regierungswechsels auf sie zukommt. Sie müssen nicht die Katze im Sack kaufen. Das macht es uns schwerer, das ist nicht der einfache Weg, sondern der schwierige Weg. Ich glaube aber, dass es der richtige Weg ist, weil es der Weg ist, der verhindert, dass neue Politik- und Parteienverdrossenheit entsteht.
Birke: Herr Ministerpräsident, wissen die Leute wirklich, was auf sie zukommt? Sie kaufen nicht die Katze im Sack? Ich darf den Chef der Christlichen Gewerkschaftsbundes CGB, Matthäus Strebl zitieren. Der sagt, also dieser Kompromiss in der Gesundheitspolitik, der überfordere die Menschen und sei nicht seriös finanziert. Was kommt da an Kosten auf uns zu?
Müller: Also erstens, dass er die Menschen überfordert, glaube ich nicht. Man muss sich nur die Mühe machen, sich damit zu beschäftigen. Und auch ein Vorsitzender eines Christlichen Gewerkschaftsbundes kann mit Sicherheit die Zeit erübrigen, die man braucht, um dieses relativ einfache System zu verstehen. Zweitens: Was die Kosten anbetrifft, ist das System ja gerechnet. Es ist klar, es kommt auf uns zu eine Gesundheitsprämie in Höhe von 169 Euro. Ein Betrag in der Größenordnung von 60 Euro wird dabei dargestellt durch einen eingefrorenen Arbeitgeberbeitrag in einer Größe von 6,5 Prozent. Und es kommt auf uns zu die Finanzierung der Beitragsfreiheit der Kinder. Diese Finanzierung findet statt über das Steuersystem. Die Folge ist, dass wir unser Steuerkonzept modifiziert haben und die Notwendigkeit sehen, den Spitzensteuersatz doch etwas anzuheben im Vergleich zu den bisherigen Vorschlägen auf 39 Prozent. Das halte ich übrigens unter Verteilungsgesichtspunkten auch für durchaus wünschbar.
Birke: Wäre es nicht wünschbar auch, dass unter ökonomischen, gesamtwirtschaftlichen Aspekten diese Finanzierung über die Mehrwertsteuer vollzogen wird? Könnte man nicht durch eine marginale Mehrwertsteuererhöhung auch das Ziel mit begleiten finanziell, das Ihnen ja auch vorschwebt, insbesondere die Förderung von Kindern, was Sie auch auf dem Parteitag ja thematisieren wollen?
Müller: Die Debatte um eine Modifikation der Mehrwertsteuer ist ja eine Debatte, die in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder an Einzelpunkten geführt wird. Ich möchte mich an der Debatte nicht mehr beteiligen, weil ich glaube, dass es wenig Sinn macht. Sobald irgendjemand in Deutschland mit möglicherweise sogar vernünftigen Argumenten über das Verhältnis direkter und indirekter Steuern redet, bricht ein breitflächiger Chor des Entsetzens über alle Parteigrenzen hinweg aus. Und deshalb macht es keinen Sinn, eine solche Diskussion zu führen. Es gibt offensichtlich im Moment keine politischen Mehrheiten, in diesem Bereich Gestaltungen vorzunehmen, egal wie das aussieht. Deshalb will ich mich dazu gar nicht äußern.
Birke: Sie haben vorhin gesagt, die Union möchte ja mit klaren, detaillierten Vorstellungen auch in den Bundestagswahlkampf jetzt dann auch schon mittelfristig ziehen. Dazu würde ja auch gehören, dass man klare Finanzierungskonzepte entwickelt.
Müller: Wir haben ja klare Finanzierungskonzepte. Wir haben ein klares Steuerkonzept, wir haben ein klares Konzept zur Finanzierung der gesetzlichen Sozialversicherung. Wir haben beide Konzepte auf einander abgestimmt, das war eine Hausaufgabe, die wir in Leipzig auf dem Parteitag ja noch nicht abschließend erledigt haben. Insofern besteht, was die Klarheit der Konzepte angeht, kein Nachholbedarf.
Birke: Rechnen Sie da mit einer breiten Zustimmung auf dem Parteitag für den Gesundheitskompromiss? Wird das Thema einfach aus dem Feld geräumt?
Müller: Der Gesundheitskompromiss ist als Kompromiss akzeptiert. Und auch diejenigen, die – ich zähle mich ja auch dazu – sich auch anderes, möglicherweise noch bessere Lösungen hätten vorstellen können, werden diesen Kompromiss nicht in Frage stellen, sondern als Kompromiss akzeptieren und vertreten.
Birke: Herr Müller, bei dem Parteitag geht es vor allen Dingen, glaube ich, auch darum, dass die Union – die CDU – wieder die Harmonie findet, die zeitweilig ja auch in öffentlichen Debatten verlorengegangen ist. Dabei hat man das Wort 'Patriotismus' und den Begriff 'Patriotismus' und Werte, um nicht zu sagen 'Leitkultur' wieder entdeckt. Sind Sie ein Patriot, Herr Müller?
Müller: Selbstverständlich bin ich ein Patriot, Sie sicher auch.
Birke: Was ist ein Patriot?
Müller: Patriot ist jemand, der das Land, in dem er lebt, gern hat, und der sich freut, wenn er Deutscher ist, dass er ein Deutscher ist.
Birke: Worauf kann ein Deutscher stolz sein – nach unserer Vergangenheit zweier Weltkriege, der Judenvergasung?
Müller: Also ich glaube, wir können stolz sein auf viele Kapitel unserer Geschichte. Und die deutsche Geschichte auf die zwölf Jahre des tausendjährigen Reiches zu reduzieren, wird dieser Geschichte nicht gerecht. Viele Impulse im musischen Bereich, im kulturellen Bereich, im Bereich der Musik, der Literatur, der Philosophie sind von Deutschland ausgegangen. Viele technologische Entwicklungen sind von uns ausgegangen. Die Bundesrepublik Deutschland, so wie sie heute ist, war ein Treiber der europäischen Einigung. Sie hat wesentliche Beiträge für die freiheitliche Verfassung in vielen europäischen Ländern geleistet. Also es gibt viele, viele Punkte, bei denen man sagen kann: Es ist schön, in diesem Land zu leben. Und wir haben allen Grund, uns darüber zu freuen.
Birke: Der Begriff 'Leitkultur' – welche Rolle sollte der bei der Patriotismusdebatte spielen?
Müller: Ich persönlich bevorzuge den Begriff 'Grundkonsens', weil ich glaube, dass der Begriff der ‚Leitkultur‘ ein nicht hinreichend präziser Begriff ist und dass er die Möglichkeit eröffnet, auch Missinterpretationen in diesem begrifflichen Zusammenhang zu stellen. Gemeint ist mit dem Grundkonsens, der unser Zusammenleben prägt, das Bekenntnis zur Verfassung, das Bekenntnis zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das Bekenntnis zu Freiheit und Eigenverantwortung, das Bekenntnis zu den Traditionen, die das Zusammenleben dieser Gesellschaft prägen – die Aufklärung, der Humanismus, das Christentum, das Judentum –, und das Bekenntnis dazu, mit guten Gründen sich darüber freuen zu können, in Deutschland zu leben.
Birke: Welchen Platz hat der Islam, immerhin die Religion von mehreren Millionen Bürgern, die in der Bundesrepublik leben, in diesem Patriotismuskonzept?
Müller: In der Bundesrepublik Deutschland leben drei Millionen Muslime. Die wollen wir in diese Gesellschaft integrieren. Was die Entstehung der Strukturen in dieser Gesellschaft anbetrifft hat der Islam dazu weniger Beiträge geleistet. Das ist einfach eine historische Tatsache. Gleichwohl muss es unser gemeinsames Bestreben sein, Gemeinsamkeit mit den Muslimen zu finden. In vielen Fällen ist Integration ja auch gelungen. Ich glaube, man darf das nicht pauschalieren. Was wir nicht akzeptieren dürfen ist, dass teilweise auch unter Missbrauch des Islam Parallelgesellschaften etabliert werden in der Bundesrepublik Deutschland, eine Situation, in der es sozusagen ein zusammenhangloses Nebeneinander unterschiedlicher Gemeinschaften, egal, ob das religiös oder nichtreligiös geprägt ist, gibt. Das ist etwas, was in einem Staat, was in einem Gemeinwesen nicht akzeptabel ist.
Birke: Würden Sie schon von Parallelgesellschaften sprechen in der Bundesrepublik?
Müller: Wenn ich mir die Situation in einigen Großstädten in der Bundesrepublik Deutschland anschaue, dann, glaube ich, dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass es diese Parallelgesellschaften gibt.
Birke: Welche Konsequenzen hat das für die Politik? Ist Multi-Kulti gescheitert?
Müller: Multi-Kulti definiert als zusammenhangloses Nebeneinander unterschiedlicher gesellschaftlicher Strukturen ist kein Zukunftsmodell, das kann nur scheitern. Und ich glaube, dass es da in der Vergangenheit viel Naivität gab, nicht nur bei uns, beispielsweise auch in den Niederlanden, wo ja mittlerweile auch Linke sagen: Wir haben gedacht, wir seien tolerant, und wir stellen heute fest, wir waren naiv. Also die Vorstellung, Multi-Kulti im Sinne eines zusammenhanglosen Gemischs unterschiedlicher Gesellschaftsstrukturen, unterschiedlicher Kulturen, unterschiedlicher Lebensentwürfe ohne einen gemeinsamen Grundkonsens, das ist kein Zukunftsmodell. Das muss scheitern. Und ich glaube deshalb, dass man das als politisches Programm auch nur ablehnen kann.
Birke: Herr Müller, dieser gemeinsame Grundkonsens, worin sollte der bestehen? Eid auf die Verfassung auch für Leute, die hier nur ständige Aufenthaltsberechtigung haben wollen, Anerkennung unserer Grundwerte – worin sollte der bestehen?
Müller: Bekenntnis zur Verfassung, Bekenntnis zur Rechtsordnung, Akzeptanz der Traditionen, die diese Gesellschaft prägen, und natürlich auch die Bereitschaft derjenigen, die hier her kommen und dauerhaft hier leben wollen, sich mit uns zu verständigen, das heißt unsere Sprache zu lernen. Und ich glaube, dass man das auch verlangen kann, dass man das ohne Probleme verlangen kann. Wer Mitglied dieser staatlichen Gemeinschaft werden will, wer also die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben will, ich meine, der muss sich auch zu dieser Staatsordnung bekennen. Und deshalb habe ich überhaupt kein Problem damit, mir vorzustellen, dass so – wie in vielen anderen demokratischen Gesellschaften auch – auch in Deutschland künftig ein Eid auf die Verfassung zur Bedingung der Einbürgerung gemacht wird.
Birke: Nur ein Eid, oder sollte man auch sicherstellen, dass die Leute auch die Verfassung und unsere Demokratie verstehen, sprich sollten sie einen Kurs absolvieren und eine Prüfung machen?
Müller: Mit dem neuen Aufenthaltsgesetz, das zum 1. Januar in Kraft tritt, sind diese Integrationskurse ja vorgesehen. Ich halte das auch für richtig. Diese Integrationskurse beschäftigen sich eben nicht nur mit der Vermittlung der deutschen Sprache, sondern auch mit der Vermittlung der Grundlagen unserer Gesellschaft. Das ist gut so, das muss so sein. Wenn ich etwa an das Thema Gleichberechtigung von Mann und Frau denke, dann weiß ich, dass da erheblicher Handlungsbedarf besteht.
Birke: Sollte man auch so weit gehen, wie es ja einer Ihrer CDU-Kollegen, nämlich der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende Christoph Böhr vorgeschlagen, dass man jetzt die Nationalhymne bei Abiturfeiern einführt, um dem Patriotismus hier noch mehr Ausdruck zu verleihen, zum Beispiel?
Müller: Ich gehöre einer Partei an, die in der Vergangenheit teilweise dafür beschimpft wurde, dass sie am Ende ihrer Veranstaltungen die Nationalhymne gesungen hat. Ich habe das immer mit innerer Überzeugung und mit großer Freude getan. Ich kann mir das vorstellen, dass wir das Singen der Nationalhymne auch an anderen Stellen stärker exerzieren. Auch das ist ein Stück Darstellung von Gemeinsamkeit und nationaler Identität. An welchen Stellen, darüber wird man noch einmal reden müssen. Ob wir so weit gehen wie in den Vereinigten Staaten, in denen ja praktisch täglich in der Schule das Bekenntnis zur Verfassung ausdrücklich stattfindet, ist eine andere Frage. Aber mehr Bekenntnis zu den Symbolen der nationalen Identität halte ich für vernünftig.
Birke: Noch einmal auch zu der Frage der Integration und des Zusammenlebens mit den Muslimen. Sollte man in den Moscheen Deutsch als Amtssprache einführen?
Müller: Ich halte es für wünschbar, dass in den Moscheen Deutsch gesprochen wird. Natürlich brauchen sie dann auch die Geistlichen, die Imame, die der deutschen Sprache mächtig sind. Insofern ist sicherlich das Thema: Sollen wir nicht auch für eine Imamausbildung in Deutschland in deutscher Sprache sorgen – ein Thema, das eher Handlungsverpflichten des Staates, das Handlungsverpflichten bei uns begründet, als dass es etwas begründet, was anderen abzuverlangen ist. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen. Also, wenn irgend möglich, sollte in den Moscheen auf Deutsch gepredigt werden.
Birke: Da haben Sie aber eine andere Meinung als Ihr Parteifreund Roland Koch, Ministerpräsident von Hessen, der sagt, er gäbe sich nicht der Illusion hin, dass man per Gesetz die Sprache in kirchlichen Räumen regeln könnte.
Müller: Die Frage, etwas als wünschbar anzusehen und die Frage, es sozusagen im Wege eines Gesetzesbefehls und unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchzusetzen, sind zwei verschiedene Dinge. Ich habe ja sehr bewusst gesagt, ich halte es für wünschbar und ich hoffe, dass es möglich ist, im Dialog auch mit den islamischen Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland, mit den Betreibern der Moscheen in Deutschland zu erreichen, dass diesem Wunsch Rechnung getragen wird.
Birke: Wenn man die Sprache vermitteln will, dann muss man doch ganz früh anfangen, im Kindergarten. Was tut das Saarland, was regen Sie an, was man tun soll mit Ausländerkindern, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind? Sollte man Pflichtkurse in den Kindergärten einführen?
Müller: Also wir müssen Angebote in den Kindergärten schaffen. Übrigens – und auf diesem Weg sind wir im Saarland – Angebote nicht nur für die Kinder, sondern auch Angebote für die Mütter dieser Kinder, weil es in vielen Fällen mindestens ebenso wichtig ist, dass die Mütter die Sprache lernen wie es wichtig ist, dass die Kinder dies tun. Also Sprachförderung im Kindergarten, das ist notwendig. Wir müssen die Kinder, wenn wir in der – wie ich meine – glücklichen Situation sind, sie bereits im Kindergartenalter hier in der Bundesrepublik Deutschland zu haben, in die Lage versetzen, über ein ausreichendes Maß an Deutsch zu verfügen, wenn sie in die Schule kommen. Sie müssen so viel Deutsch können, dass sie dort dem Unterricht folgen können. Da ist es auch nicht so wichtig, ob wirklich dann das Einschulalter sklavisch beachtet wird. Entscheidend ist ein ausreichendes Maß an sprachlicher Kompetenz. Die entsprechenden Kurse werden in den Kindergärten angeboten.
Birke: Herr Ministerpräsident, ich wollte Sie bitten, ein paar Halbsätze einfach zu ergänzen. Dass Oskar Lafontane nicht mein Gegner bei der letzten Wahl war . . .
Müller: . . . habe ich bedauert. Ansonsten ist das Thema für mich erledigt, da ich mich lieber mit der Zukunft als mit der Vergangenheit beschäftige.
Birke: Mit Blick auf die nächsten Wahlen ist die Unionsführung . . .
Müller: . . . in einer guten Situation und auf dem richtigen Weg.
Birke: Im Falle eines Unionswahlsieges 2006 werde ich . . .
Müller: . . . alles dazu beitragen, was ich kann, dass Deutschland endlich wieder auf den Weg des Wachstums und der Schaffung neuer Arbeitsplätze kommt.
Birke: Die Diskussion um die Kanzlerkandidatur bei der Union . . .
Müller: . . . findet statt, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist. Das ist nicht der jetzige Zeitpunkt.
Birke: Führt ein Weg an Angela Merkel überhaupt noch vorbei?
Müller: Dies ist kein Halbsatz, sondern eine Frage. Und diese Frage werde ich beantworten, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um die Kanzlerdiskussion zu führen.
Birke: Wir sind auch wieder zu den Fragen zurückgekehrt, möchte ich jetzt noch zur Systematik erläutern, Herr Ministerpräsident. Wenn Angela Merkel beim Parteitag ihr gutes, ihr sehr gutes Ergebnis von vor zwei Jahren nicht wiederholen kann, ist das dann eine Schlappe, eine Niederlage?
Müller: Angela Merkel wird ein gutes Ergebnis bekommen. Die entscheidende Aufgabe dieses Parteitages besteht darin, einen Schlussstrich unter die Turbulenzen der vergangenen Wochen zu ziehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Parteitag dies leisten wird und auf dieser Grundlage dann entschlossen mit inhaltlich ausformulierten Positionen die politische Auseinandersetzung mit Rot-Grün zu führen. Der Parteitag wird die Union voran bringen.
Birke: Nun sind ja einige prominente Unionsführer, nämlich Friedrich Merz ist ausgeschieden, Seehofer als Gesundheitsexperte – ist die Unionsführung gut aufgestellt? Friedrich Merz hat dies öffentlich bezweifelt.
Müller: Friedrich Merz hat ja gerade in diesen Tagen darauf hingewiesen, dass er eben nicht auf Dauer ausgeschieden ist aus der Wahrnehmung auch parteipolitischer Verantwortung, sondern dass er sich durchaus vorstellen kann, auch in diesem Bereich noch einmal Verantwortung zu übernehmen, auch Funktionen zu übernehmen. Auch Horst Seehofer ist nach meiner Sicht völlig logisch, dass jemand, der in einem zentralen Punkt der Gesundheitspolitik mit der Linie der Union nicht übereinstimmt, nicht als stellvertretender Fraktionsvorsitzender die Gesundheitspolitik vertreten kann. Insofern war seine Entscheidung, den stellvertretenden Fraktionsvorsitz zurück zu geben, logisch zwingend. Ich glaube nicht, dass das die Handlungsfähigkeit der Union wesentlich beeinträchtigt. Wir haben hervorragende Wirtschaftspolitiker, wir haben hervorragende Finanzpolitiker, wir haben hervorragende Gesundheitspolitiker über Friedrich Merz und Horst Seehofer hinaus, und beide werden ja weiter in der Unionsfamilie mitmachen.
Birke: Herr Ministerpräsident, trotz Teilentschuldung durch den Bund in Höhe von 6,6 Milliarden ist das Saarland hoffnungslos mit 7 Milliarden verschuldet bei einem Jahresetat von 3,3 Milliarden, um nur mal die Relationen darzustellen. Werden Sie wieder nach Karlsruhe gehen, um eine neue Teilentschuldung durch den Bund zu beantragen?
Müller: Das wird man sehen müssen. Fakt ist, die Haushaltsnotlage des Landes besteht fort. Die Ursache dafür liegt allerdings nicht auf der Seite des Landes. Wir haben alle Vereinbarungen der Teilentschuldung auf Punkt und Komma eingehalten. Wir haben sie übererfüllt. Das Saarland hat in den vergangenen Jahren die geringsten Steigerungsraten des Landeshaushaltes aller Bundesländer und auch deutlich geringere Steigerungsraten als der Bund. Wir haben also konsequent gespart. Wir haben kein Ausgabenproblem, wir haben ein Einnahmeproblem. Die Steuereinnahmen sind dramatisch weggebrochen. Wir haben acht Steuerschätzungen in Folge mit immer wieder neuen Steuerlöchern, die dabei aufgerissen worden sind – das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb ist es nicht gelungen, im Wege der Teilentschuldung die Haushaltsnotlage zu überwinden. Wenn die Haushaltsnotlage fortbesteht, besteht natürlich auch der Anspruch auf solidarische Bewältigung derselben fort. Diesen Anspruch wollen wir im Verhandlungswege mit dem Bund besprechen. Die Saar-Gemeinschaftsinitiative hat mich beauftragt, entsprechende Gespräche mit dem Bund, mit dem Bundesfinanzminister aufzunehmen. Wir werden sehen, wie er reagiert. Wenn der Rechtsanspruch, den uns das Bundesverfassungsgericht zugesprochen hat, auf Bundesseite keine Berücksichtigung findet, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als diesen Rechtsanspruch dann auch beim Bundesverfassungsgericht geltend zu machen.
Birke: Vielen Dank für dieses Gespräch.
Birke: Sie haben gesagt, die Union will eine beschäftigungsfreundlichere Politik machen. Aber außer dem Kündigungsschutz: Wo unterscheidet sich ganz konkret Ihre Reformpolitik, wo sind die Konturen klar unterscheidbar von der Reformpolitik von Rot-Grün?
Müller: Also erstens: Wir wollen den Arbeitsmarkt, der überreglementiert ist, von diesen Überreglementierungen befreien. Kündigungsschutz ist dabei nur eines von vielen Themen. Dabei geht es um die Frage: Wie verbessern wir Beschäftigungschancen? Es geht ja nicht um Einschränkungen bei denjenigen, die Beschäftigung haben. Die Frage ist: Was machen wir bei Neueinstellungen. Da halte ich es für richtig, den Schwellenwert anzuheben für die Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes. Da halte ich auch die Regelung, dass in den ersten beiden Jahren anstelle der bisherigen Regelungen über befristete Beschäftigungsverhältnisse generell eine Aussetzung der Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes stattfinden soll, für richtig. Es geht aber beispielsweise auch um die Frage ‚betriebliche Bündnisse für Arbeit‘, es geht um die Frage: Wie schaffen wir einen vernünftigen Niedriglohnsektor? Dazu gibt es viele Vorschläge im Leitantrag – Vorschläge, die zu mehr Beschäftigung in Deutschland führen. Der zweite zentrale Punkt: Wir müssen Arbeit in Deutschland billiger machen. Fakt ist, dass es nicht zu wenig Arbeit gibt, aber dass die Preise für die Arbeit zu hoch sind. Das ist die Debatte neben der Frage der Steuerreform, insbesondere die Abgaben, insbesondere die Sozialversicherungsbeiträge von der Belastung der Erwerbsarbeit abzukoppeln. Das ist dann am Ende auch die Debatte um die Gesundheitsprämie. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir solche Prämienmodelle brauchen, damit nicht die gesamte soziale Sicherheit durch Belastung der Arbeit finanziert wird und damit die Kosten für die Arbeit so steigen, dass wir Beschäftigungschancen, dass wir Wettbewerbschancen im globalen Bereich verlieren.
Birke: Herr Müller, Sie haben die Gesundheitsprämie angesprochen. Sie selbst haben gesagt, dieser Parteitag soll zukunftsweisend sein und ein Reformkonzept auch präsentieren, das jedermann versteht. Verstehen Sie die Gesundheitsprämie?
Müller: Die Gesundheitsprämie zu verstehen ist gar nicht so schwierig. Man muss es nur wollen. Ich habe den Eindruck, dass es viele gibt, die gar nicht bereit sind, sich damit zu beschäftigen. Alle Ökonomen, selbst linke Ökonomen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, kommen zu dem gleichen Ergebnis. Das Ergebnis heißt: Das Allerwichtigste ist es, dafür Sorge zu tragen, dass abgekoppelt wird die Finanzierung der sozialen Sicherheit von den Kosten der Erwerbsarbeit. Das einzige Modell, das in diese Richtung geht, ist das Modell der Gesundheitsprämie. Alle mir bekannten Modelle der Bürgerversicherung haben den gegenteiligen Effekt. Vor dem Hintergrund glaube ich, dass der Vorschlag der Union in die richtige Richtung weist. Sie wissen, das ist ein Kompromiss, der da zwischen CDU und CSU verhandelt worden ist. Bei einem Kompromiss müssen beide Seiten ein Stück von ihren eigenen Vorstellungen abgeben. Optimal hätte ich mir ein anderes Ergebnis vorgestellt, aber ich halte den Kompromiss für vertretbar. Er weist in die richtige Richtung. Und deshalb kann ich beispielsweise überhaupt nicht verstehen, dass die Kritik aus dem Arbeitgeberlager, die die Analyse teilt, sich in erster Linie auf die Union focussiert und man in der Frage der Bürgerversicherung weitgehend sprachlos geworden ist. Die Arbeitgeber müssen sich schon überlegen, was sie wollen in der Bundesrepublik Deutschland. Wollen sie in der Sache notwendige und richtige Positionen vertreten, oder wollen sie sich bei der amtierenden Bundesregierung und dem Bundeskanzler in besonderer Weise anbiedern? Das dient der Sache, das dient der Wirtschaft, das dient den Menschen in Deutschland sicher nicht.
Birke: Sie selbst haben gesagt, Sie hätten sich ein optimaleres Gesundheitsmodell vorstellen können. Werden Sie Änderungswünsche beim Parteitag geltend machen?
Müller: Nein, wir haben einen Kompromiss vereinbart. Der Kompromiss geht in die richtige Richtung, bringt Bewegung in das System. Deshalb macht es im Moment keinen Sinn, über Modifikationen zu reden, sondern es macht Sinn zu agieren. Wir gehen den Weg: Abkopplung der Kosten der Erwerbsarbeit von der Finanzierung des sozialen Sicherheitssystems.
Birke: Herr Müller, war es überhaupt strategisch richtig, so ins Detail zu gehen? Denn der Gegenvorschlag ‚Bürgerversicherung‘ von den Grünen und von der SPD ist ja doch in den Details sehr vage. Ist überhaupt die Strategie der Union, jetzt mit detaillierten Vorschlägen an die Öffentlichkeit zu gehen, die richtige?
Müller: Parteitaktisch ist das möglicherweise ein durchaus problematischer Weg, denn wenn Sie sehr detailliert die Dinge darstellen, ist es natürlich möglich, auch sehr detailliert zu kritisieren und Einzelfragen in den Vordergrund zu rücken. Trotzdem halte ich diesen Weg für richtig. Es ist ein Weg, der bereits vor der Bundestagswahl die Union klar positioniert. Das heißt, die Menschen wissen bei der Entscheidung bei der Bundestagswahl, was im Falle eines Regierungswechsels auf sie zukommt. Sie müssen nicht die Katze im Sack kaufen. Das macht es uns schwerer, das ist nicht der einfache Weg, sondern der schwierige Weg. Ich glaube aber, dass es der richtige Weg ist, weil es der Weg ist, der verhindert, dass neue Politik- und Parteienverdrossenheit entsteht.
Birke: Herr Ministerpräsident, wissen die Leute wirklich, was auf sie zukommt? Sie kaufen nicht die Katze im Sack? Ich darf den Chef der Christlichen Gewerkschaftsbundes CGB, Matthäus Strebl zitieren. Der sagt, also dieser Kompromiss in der Gesundheitspolitik, der überfordere die Menschen und sei nicht seriös finanziert. Was kommt da an Kosten auf uns zu?
Müller: Also erstens, dass er die Menschen überfordert, glaube ich nicht. Man muss sich nur die Mühe machen, sich damit zu beschäftigen. Und auch ein Vorsitzender eines Christlichen Gewerkschaftsbundes kann mit Sicherheit die Zeit erübrigen, die man braucht, um dieses relativ einfache System zu verstehen. Zweitens: Was die Kosten anbetrifft, ist das System ja gerechnet. Es ist klar, es kommt auf uns zu eine Gesundheitsprämie in Höhe von 169 Euro. Ein Betrag in der Größenordnung von 60 Euro wird dabei dargestellt durch einen eingefrorenen Arbeitgeberbeitrag in einer Größe von 6,5 Prozent. Und es kommt auf uns zu die Finanzierung der Beitragsfreiheit der Kinder. Diese Finanzierung findet statt über das Steuersystem. Die Folge ist, dass wir unser Steuerkonzept modifiziert haben und die Notwendigkeit sehen, den Spitzensteuersatz doch etwas anzuheben im Vergleich zu den bisherigen Vorschlägen auf 39 Prozent. Das halte ich übrigens unter Verteilungsgesichtspunkten auch für durchaus wünschbar.
Birke: Wäre es nicht wünschbar auch, dass unter ökonomischen, gesamtwirtschaftlichen Aspekten diese Finanzierung über die Mehrwertsteuer vollzogen wird? Könnte man nicht durch eine marginale Mehrwertsteuererhöhung auch das Ziel mit begleiten finanziell, das Ihnen ja auch vorschwebt, insbesondere die Förderung von Kindern, was Sie auch auf dem Parteitag ja thematisieren wollen?
Müller: Die Debatte um eine Modifikation der Mehrwertsteuer ist ja eine Debatte, die in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder an Einzelpunkten geführt wird. Ich möchte mich an der Debatte nicht mehr beteiligen, weil ich glaube, dass es wenig Sinn macht. Sobald irgendjemand in Deutschland mit möglicherweise sogar vernünftigen Argumenten über das Verhältnis direkter und indirekter Steuern redet, bricht ein breitflächiger Chor des Entsetzens über alle Parteigrenzen hinweg aus. Und deshalb macht es keinen Sinn, eine solche Diskussion zu führen. Es gibt offensichtlich im Moment keine politischen Mehrheiten, in diesem Bereich Gestaltungen vorzunehmen, egal wie das aussieht. Deshalb will ich mich dazu gar nicht äußern.
Birke: Sie haben vorhin gesagt, die Union möchte ja mit klaren, detaillierten Vorstellungen auch in den Bundestagswahlkampf jetzt dann auch schon mittelfristig ziehen. Dazu würde ja auch gehören, dass man klare Finanzierungskonzepte entwickelt.
Müller: Wir haben ja klare Finanzierungskonzepte. Wir haben ein klares Steuerkonzept, wir haben ein klares Konzept zur Finanzierung der gesetzlichen Sozialversicherung. Wir haben beide Konzepte auf einander abgestimmt, das war eine Hausaufgabe, die wir in Leipzig auf dem Parteitag ja noch nicht abschließend erledigt haben. Insofern besteht, was die Klarheit der Konzepte angeht, kein Nachholbedarf.
Birke: Rechnen Sie da mit einer breiten Zustimmung auf dem Parteitag für den Gesundheitskompromiss? Wird das Thema einfach aus dem Feld geräumt?
Müller: Der Gesundheitskompromiss ist als Kompromiss akzeptiert. Und auch diejenigen, die – ich zähle mich ja auch dazu – sich auch anderes, möglicherweise noch bessere Lösungen hätten vorstellen können, werden diesen Kompromiss nicht in Frage stellen, sondern als Kompromiss akzeptieren und vertreten.
Birke: Herr Müller, bei dem Parteitag geht es vor allen Dingen, glaube ich, auch darum, dass die Union – die CDU – wieder die Harmonie findet, die zeitweilig ja auch in öffentlichen Debatten verlorengegangen ist. Dabei hat man das Wort 'Patriotismus' und den Begriff 'Patriotismus' und Werte, um nicht zu sagen 'Leitkultur' wieder entdeckt. Sind Sie ein Patriot, Herr Müller?
Müller: Selbstverständlich bin ich ein Patriot, Sie sicher auch.
Birke: Was ist ein Patriot?
Müller: Patriot ist jemand, der das Land, in dem er lebt, gern hat, und der sich freut, wenn er Deutscher ist, dass er ein Deutscher ist.
Birke: Worauf kann ein Deutscher stolz sein – nach unserer Vergangenheit zweier Weltkriege, der Judenvergasung?
Müller: Also ich glaube, wir können stolz sein auf viele Kapitel unserer Geschichte. Und die deutsche Geschichte auf die zwölf Jahre des tausendjährigen Reiches zu reduzieren, wird dieser Geschichte nicht gerecht. Viele Impulse im musischen Bereich, im kulturellen Bereich, im Bereich der Musik, der Literatur, der Philosophie sind von Deutschland ausgegangen. Viele technologische Entwicklungen sind von uns ausgegangen. Die Bundesrepublik Deutschland, so wie sie heute ist, war ein Treiber der europäischen Einigung. Sie hat wesentliche Beiträge für die freiheitliche Verfassung in vielen europäischen Ländern geleistet. Also es gibt viele, viele Punkte, bei denen man sagen kann: Es ist schön, in diesem Land zu leben. Und wir haben allen Grund, uns darüber zu freuen.
Birke: Der Begriff 'Leitkultur' – welche Rolle sollte der bei der Patriotismusdebatte spielen?
Müller: Ich persönlich bevorzuge den Begriff 'Grundkonsens', weil ich glaube, dass der Begriff der ‚Leitkultur‘ ein nicht hinreichend präziser Begriff ist und dass er die Möglichkeit eröffnet, auch Missinterpretationen in diesem begrifflichen Zusammenhang zu stellen. Gemeint ist mit dem Grundkonsens, der unser Zusammenleben prägt, das Bekenntnis zur Verfassung, das Bekenntnis zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das Bekenntnis zu Freiheit und Eigenverantwortung, das Bekenntnis zu den Traditionen, die das Zusammenleben dieser Gesellschaft prägen – die Aufklärung, der Humanismus, das Christentum, das Judentum –, und das Bekenntnis dazu, mit guten Gründen sich darüber freuen zu können, in Deutschland zu leben.
Birke: Welchen Platz hat der Islam, immerhin die Religion von mehreren Millionen Bürgern, die in der Bundesrepublik leben, in diesem Patriotismuskonzept?
Müller: In der Bundesrepublik Deutschland leben drei Millionen Muslime. Die wollen wir in diese Gesellschaft integrieren. Was die Entstehung der Strukturen in dieser Gesellschaft anbetrifft hat der Islam dazu weniger Beiträge geleistet. Das ist einfach eine historische Tatsache. Gleichwohl muss es unser gemeinsames Bestreben sein, Gemeinsamkeit mit den Muslimen zu finden. In vielen Fällen ist Integration ja auch gelungen. Ich glaube, man darf das nicht pauschalieren. Was wir nicht akzeptieren dürfen ist, dass teilweise auch unter Missbrauch des Islam Parallelgesellschaften etabliert werden in der Bundesrepublik Deutschland, eine Situation, in der es sozusagen ein zusammenhangloses Nebeneinander unterschiedlicher Gemeinschaften, egal, ob das religiös oder nichtreligiös geprägt ist, gibt. Das ist etwas, was in einem Staat, was in einem Gemeinwesen nicht akzeptabel ist.
Birke: Würden Sie schon von Parallelgesellschaften sprechen in der Bundesrepublik?
Müller: Wenn ich mir die Situation in einigen Großstädten in der Bundesrepublik Deutschland anschaue, dann, glaube ich, dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass es diese Parallelgesellschaften gibt.
Birke: Welche Konsequenzen hat das für die Politik? Ist Multi-Kulti gescheitert?
Müller: Multi-Kulti definiert als zusammenhangloses Nebeneinander unterschiedlicher gesellschaftlicher Strukturen ist kein Zukunftsmodell, das kann nur scheitern. Und ich glaube, dass es da in der Vergangenheit viel Naivität gab, nicht nur bei uns, beispielsweise auch in den Niederlanden, wo ja mittlerweile auch Linke sagen: Wir haben gedacht, wir seien tolerant, und wir stellen heute fest, wir waren naiv. Also die Vorstellung, Multi-Kulti im Sinne eines zusammenhanglosen Gemischs unterschiedlicher Gesellschaftsstrukturen, unterschiedlicher Kulturen, unterschiedlicher Lebensentwürfe ohne einen gemeinsamen Grundkonsens, das ist kein Zukunftsmodell. Das muss scheitern. Und ich glaube deshalb, dass man das als politisches Programm auch nur ablehnen kann.
Birke: Herr Müller, dieser gemeinsame Grundkonsens, worin sollte der bestehen? Eid auf die Verfassung auch für Leute, die hier nur ständige Aufenthaltsberechtigung haben wollen, Anerkennung unserer Grundwerte – worin sollte der bestehen?
Müller: Bekenntnis zur Verfassung, Bekenntnis zur Rechtsordnung, Akzeptanz der Traditionen, die diese Gesellschaft prägen, und natürlich auch die Bereitschaft derjenigen, die hier her kommen und dauerhaft hier leben wollen, sich mit uns zu verständigen, das heißt unsere Sprache zu lernen. Und ich glaube, dass man das auch verlangen kann, dass man das ohne Probleme verlangen kann. Wer Mitglied dieser staatlichen Gemeinschaft werden will, wer also die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben will, ich meine, der muss sich auch zu dieser Staatsordnung bekennen. Und deshalb habe ich überhaupt kein Problem damit, mir vorzustellen, dass so – wie in vielen anderen demokratischen Gesellschaften auch – auch in Deutschland künftig ein Eid auf die Verfassung zur Bedingung der Einbürgerung gemacht wird.
Birke: Nur ein Eid, oder sollte man auch sicherstellen, dass die Leute auch die Verfassung und unsere Demokratie verstehen, sprich sollten sie einen Kurs absolvieren und eine Prüfung machen?
Müller: Mit dem neuen Aufenthaltsgesetz, das zum 1. Januar in Kraft tritt, sind diese Integrationskurse ja vorgesehen. Ich halte das auch für richtig. Diese Integrationskurse beschäftigen sich eben nicht nur mit der Vermittlung der deutschen Sprache, sondern auch mit der Vermittlung der Grundlagen unserer Gesellschaft. Das ist gut so, das muss so sein. Wenn ich etwa an das Thema Gleichberechtigung von Mann und Frau denke, dann weiß ich, dass da erheblicher Handlungsbedarf besteht.
Birke: Sollte man auch so weit gehen, wie es ja einer Ihrer CDU-Kollegen, nämlich der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende Christoph Böhr vorgeschlagen, dass man jetzt die Nationalhymne bei Abiturfeiern einführt, um dem Patriotismus hier noch mehr Ausdruck zu verleihen, zum Beispiel?
Müller: Ich gehöre einer Partei an, die in der Vergangenheit teilweise dafür beschimpft wurde, dass sie am Ende ihrer Veranstaltungen die Nationalhymne gesungen hat. Ich habe das immer mit innerer Überzeugung und mit großer Freude getan. Ich kann mir das vorstellen, dass wir das Singen der Nationalhymne auch an anderen Stellen stärker exerzieren. Auch das ist ein Stück Darstellung von Gemeinsamkeit und nationaler Identität. An welchen Stellen, darüber wird man noch einmal reden müssen. Ob wir so weit gehen wie in den Vereinigten Staaten, in denen ja praktisch täglich in der Schule das Bekenntnis zur Verfassung ausdrücklich stattfindet, ist eine andere Frage. Aber mehr Bekenntnis zu den Symbolen der nationalen Identität halte ich für vernünftig.
Birke: Noch einmal auch zu der Frage der Integration und des Zusammenlebens mit den Muslimen. Sollte man in den Moscheen Deutsch als Amtssprache einführen?
Müller: Ich halte es für wünschbar, dass in den Moscheen Deutsch gesprochen wird. Natürlich brauchen sie dann auch die Geistlichen, die Imame, die der deutschen Sprache mächtig sind. Insofern ist sicherlich das Thema: Sollen wir nicht auch für eine Imamausbildung in Deutschland in deutscher Sprache sorgen – ein Thema, das eher Handlungsverpflichten des Staates, das Handlungsverpflichten bei uns begründet, als dass es etwas begründet, was anderen abzuverlangen ist. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen. Also, wenn irgend möglich, sollte in den Moscheen auf Deutsch gepredigt werden.
Birke: Da haben Sie aber eine andere Meinung als Ihr Parteifreund Roland Koch, Ministerpräsident von Hessen, der sagt, er gäbe sich nicht der Illusion hin, dass man per Gesetz die Sprache in kirchlichen Räumen regeln könnte.
Müller: Die Frage, etwas als wünschbar anzusehen und die Frage, es sozusagen im Wege eines Gesetzesbefehls und unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchzusetzen, sind zwei verschiedene Dinge. Ich habe ja sehr bewusst gesagt, ich halte es für wünschbar und ich hoffe, dass es möglich ist, im Dialog auch mit den islamischen Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland, mit den Betreibern der Moscheen in Deutschland zu erreichen, dass diesem Wunsch Rechnung getragen wird.
Birke: Wenn man die Sprache vermitteln will, dann muss man doch ganz früh anfangen, im Kindergarten. Was tut das Saarland, was regen Sie an, was man tun soll mit Ausländerkindern, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind? Sollte man Pflichtkurse in den Kindergärten einführen?
Müller: Also wir müssen Angebote in den Kindergärten schaffen. Übrigens – und auf diesem Weg sind wir im Saarland – Angebote nicht nur für die Kinder, sondern auch Angebote für die Mütter dieser Kinder, weil es in vielen Fällen mindestens ebenso wichtig ist, dass die Mütter die Sprache lernen wie es wichtig ist, dass die Kinder dies tun. Also Sprachförderung im Kindergarten, das ist notwendig. Wir müssen die Kinder, wenn wir in der – wie ich meine – glücklichen Situation sind, sie bereits im Kindergartenalter hier in der Bundesrepublik Deutschland zu haben, in die Lage versetzen, über ein ausreichendes Maß an Deutsch zu verfügen, wenn sie in die Schule kommen. Sie müssen so viel Deutsch können, dass sie dort dem Unterricht folgen können. Da ist es auch nicht so wichtig, ob wirklich dann das Einschulalter sklavisch beachtet wird. Entscheidend ist ein ausreichendes Maß an sprachlicher Kompetenz. Die entsprechenden Kurse werden in den Kindergärten angeboten.
Birke: Herr Ministerpräsident, ich wollte Sie bitten, ein paar Halbsätze einfach zu ergänzen. Dass Oskar Lafontane nicht mein Gegner bei der letzten Wahl war . . .
Müller: . . . habe ich bedauert. Ansonsten ist das Thema für mich erledigt, da ich mich lieber mit der Zukunft als mit der Vergangenheit beschäftige.
Birke: Mit Blick auf die nächsten Wahlen ist die Unionsführung . . .
Müller: . . . in einer guten Situation und auf dem richtigen Weg.
Birke: Im Falle eines Unionswahlsieges 2006 werde ich . . .
Müller: . . . alles dazu beitragen, was ich kann, dass Deutschland endlich wieder auf den Weg des Wachstums und der Schaffung neuer Arbeitsplätze kommt.
Birke: Die Diskussion um die Kanzlerkandidatur bei der Union . . .
Müller: . . . findet statt, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist. Das ist nicht der jetzige Zeitpunkt.
Birke: Führt ein Weg an Angela Merkel überhaupt noch vorbei?
Müller: Dies ist kein Halbsatz, sondern eine Frage. Und diese Frage werde ich beantworten, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um die Kanzlerdiskussion zu führen.
Birke: Wir sind auch wieder zu den Fragen zurückgekehrt, möchte ich jetzt noch zur Systematik erläutern, Herr Ministerpräsident. Wenn Angela Merkel beim Parteitag ihr gutes, ihr sehr gutes Ergebnis von vor zwei Jahren nicht wiederholen kann, ist das dann eine Schlappe, eine Niederlage?
Müller: Angela Merkel wird ein gutes Ergebnis bekommen. Die entscheidende Aufgabe dieses Parteitages besteht darin, einen Schlussstrich unter die Turbulenzen der vergangenen Wochen zu ziehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Parteitag dies leisten wird und auf dieser Grundlage dann entschlossen mit inhaltlich ausformulierten Positionen die politische Auseinandersetzung mit Rot-Grün zu führen. Der Parteitag wird die Union voran bringen.
Birke: Nun sind ja einige prominente Unionsführer, nämlich Friedrich Merz ist ausgeschieden, Seehofer als Gesundheitsexperte – ist die Unionsführung gut aufgestellt? Friedrich Merz hat dies öffentlich bezweifelt.
Müller: Friedrich Merz hat ja gerade in diesen Tagen darauf hingewiesen, dass er eben nicht auf Dauer ausgeschieden ist aus der Wahrnehmung auch parteipolitischer Verantwortung, sondern dass er sich durchaus vorstellen kann, auch in diesem Bereich noch einmal Verantwortung zu übernehmen, auch Funktionen zu übernehmen. Auch Horst Seehofer ist nach meiner Sicht völlig logisch, dass jemand, der in einem zentralen Punkt der Gesundheitspolitik mit der Linie der Union nicht übereinstimmt, nicht als stellvertretender Fraktionsvorsitzender die Gesundheitspolitik vertreten kann. Insofern war seine Entscheidung, den stellvertretenden Fraktionsvorsitz zurück zu geben, logisch zwingend. Ich glaube nicht, dass das die Handlungsfähigkeit der Union wesentlich beeinträchtigt. Wir haben hervorragende Wirtschaftspolitiker, wir haben hervorragende Finanzpolitiker, wir haben hervorragende Gesundheitspolitiker über Friedrich Merz und Horst Seehofer hinaus, und beide werden ja weiter in der Unionsfamilie mitmachen.
Birke: Herr Ministerpräsident, trotz Teilentschuldung durch den Bund in Höhe von 6,6 Milliarden ist das Saarland hoffnungslos mit 7 Milliarden verschuldet bei einem Jahresetat von 3,3 Milliarden, um nur mal die Relationen darzustellen. Werden Sie wieder nach Karlsruhe gehen, um eine neue Teilentschuldung durch den Bund zu beantragen?
Müller: Das wird man sehen müssen. Fakt ist, die Haushaltsnotlage des Landes besteht fort. Die Ursache dafür liegt allerdings nicht auf der Seite des Landes. Wir haben alle Vereinbarungen der Teilentschuldung auf Punkt und Komma eingehalten. Wir haben sie übererfüllt. Das Saarland hat in den vergangenen Jahren die geringsten Steigerungsraten des Landeshaushaltes aller Bundesländer und auch deutlich geringere Steigerungsraten als der Bund. Wir haben also konsequent gespart. Wir haben kein Ausgabenproblem, wir haben ein Einnahmeproblem. Die Steuereinnahmen sind dramatisch weggebrochen. Wir haben acht Steuerschätzungen in Folge mit immer wieder neuen Steuerlöchern, die dabei aufgerissen worden sind – das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb ist es nicht gelungen, im Wege der Teilentschuldung die Haushaltsnotlage zu überwinden. Wenn die Haushaltsnotlage fortbesteht, besteht natürlich auch der Anspruch auf solidarische Bewältigung derselben fort. Diesen Anspruch wollen wir im Verhandlungswege mit dem Bund besprechen. Die Saar-Gemeinschaftsinitiative hat mich beauftragt, entsprechende Gespräche mit dem Bund, mit dem Bundesfinanzminister aufzunehmen. Wir werden sehen, wie er reagiert. Wenn der Rechtsanspruch, den uns das Bundesverfassungsgericht zugesprochen hat, auf Bundesseite keine Berücksichtigung findet, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als diesen Rechtsanspruch dann auch beim Bundesverfassungsgericht geltend zu machen.
Birke: Vielen Dank für dieses Gespräch.