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Grundlage des Guten

Der Priester und Philosoph Józef Tischner ist ein Vordenker der Gewerkschaft Solidarnosc. In seinen Schriften ging es dem vor elf Jahren verstorbenen Tischner vor allem um das Thema Verantwortung in schwierigen Zeiten.

Von Joachim Hildebrandt | 21.01.2011
    Wer war Józef Tischner? Ein Philosoph menschlicher Erfahrung? Ein verschmitzter Phänomenologe? Wenn wir das Buch aufschlagen, sehen wir gleich ein Bild von ihm Ende der 80er-Jahre. War er ein Enfant terrible des polnischen Katholizismus? Tischner lebte von 1931 bis zum Jahre 2000. Der Philosoph Piotr Olszówka hat ihn selbst persönlich kennengelernt.

    "Ja, ich hatte die Ehre, ihn zu hören als Lehrer und Philosophen, der Vorträge und Vorlesungen hielt. Das war jedes Mal ein fantastisches Erlebnis, auch menschlicher Art. Er war sehr expressiv, sehr sympathisch. Er war eigentlich die Güte in Person. Dass er ein Priester war, das vergaß man nach drei, vier Sätzen, aber dass er ein Denker war, das konnte man nie vergessen."

    Dass Tischner so souverän und unabhängig von jeglicher Autorität denken konnte, in dem kommunistisch geprägten Land Polen, lag wohl auch daran, dass er in Krakau lebte und lehrte. Tischners angenehme Ausstrahlung hatte sicherlich damit etwas zu tun, dass er gerne Begriffe, Thesen, philosophische Systeme in Metaphern verwandelte, die dem Menschen helfen sollten, die Abgründe im 20. Jahrhundert, wie Kolyma und Auschwitz, um die extremsten einmal zu nennen, besser verstehen zu können.

    "Tischners metaphorische Art zu philosophieren hat ihm natürlich viele Freunde unter den Zuhörern und Lesern gebracht, aber andererseits auch eine harsche Kritik innerhalb der Philosophie."

    Józef Tischner geht zum Beispiel der Frage nach: Wie konnte ein Mensch in der Epoche von Auschwitz und Kolyma seine Menschlichkeit bewahren? Um nicht dem Fatalismus zu verfallen und in einer Verdrängung weiterzuleben, und sich dann irgendwann daran zu erinnern, es gab mal eine Zeit, in der ich, der Mensch, der sich erinnert, ganz Mensch sein wollte. Das ist für Tischner eng verbunden mit: ganz gut sein wollte.

    "Die Erfahrungen vom Gulag, wenn Sie wollen, Auschwitz und Kolyma, sind die Symbole für diese Grenzerfahrungen der Nichtexistenz des Menschen. Es ist eine tief greifende, eigentlich existenzvernichtende Erfahrung des Menschen, dieser tatsächliche Tod des Guten im Menschen. Tischner versucht zu zeigen, dass, wenn man diesen Tod betrachtet, etwas davor existieren musste und eine Wiedergeburt auch möglich sein muss. Und diese Wiedergeburt wiederum nur in einem Dialog mit dem anderen möglich ist."

    Der Glaube an das Gute und an die Güte im Menschen ist für Tischner von großer Bedeutung. Das ist auch einer der Gründe für sein Engagement für die freie Gewerkschaft Solidarnosc.

    "Diese Rolle ist eine Rolle der Verständigung und des Brückenbauens zwischen den Lagern. Rückblickend, finde ich, ist es eine wunderbare Rolle gewesen, die er gespielt hat, weil er mit seiner "Ethik der Solidarität" ein wichtiges Werk, aber auch eine wichtige Gedankenschule entwickelt hat."

    Für Tischner bedeutete Solidarität etwas viel Tieferes und Verantwortungsvolleres als lediglich eine gewerkschaftliche Bewegung, die von vielen Menschen unterstützt wird.

    "Dies ist für meine Begriffe seine wichtigste Errungenschaft, die Ethik der Solidarität ist ein Meilenstein in der Bildung einer neuen polnischen Nation. Zu Tischner muss man sagen, dass die Phänomenologie eine Möglichkeit eröffnet hat, die ideologischen Barrieren zwischen den Lagern der Philosophen zu durchbrechen. Das ist die Quintessenz des dialogischen Denkens, dass wir nicht ausschließen und vernichten den Gedanken des anderen, sondern in einem konstruktiven Dialog sind, der zu einer Lösung kommt, aber nie eine absolute Lösung erreicht mit dem anderen Denken."

    Das Buch ist entstanden in einem Zeitraum von zehn Jahren. Der Titel des Buches knüpft an Roman Ingardens "Streit um die Existenz der Welt" an. Tischner möchte seinem Lehrmeister damit seine Verehrung ausdrücken. Seine These lautet: Selbst wenn der Mensch tot ist, wie manche Strukturalisten behaupten, so bedeutet dies vor allem, dass er existiert hat. Und wenn er existiert hat, kann er wiedergeboren werden.

    "Die Agathologie bedeutet für Tischner eine grundlegende Haltung im Denken, die nicht vom apriorischen Denken ausgeht, sondern von einer Erfahrung, die keine Instanz außer dem Dialog mit dem anderen hat. Das heißt, wenn ich einen anderen treffe und sein Gesicht, Angesicht, des anderen betrachte, dann ergibt sich, meint Tischner, eine Grundlage des Guten.

    Das Fundament ist minimalistisch und meint: Du sollst nicht töten! Dieses Verbot kommt aber nicht von einer Instanz draußen, nicht etwa von Gott, sondern bezieht sich und gründet sich in dem Dialog Angesicht zu Angesicht zweier Menschen."

    Aus dem Dialog baut sich die Agathologie Tischners, die Wissenschaft vom Guten, auf. Und den Gedanken, das Böse sei ein Ergebnis dessen, sich nicht selbst erkennen zu wollen, greift Tischner auch auf. Der Preis dafür sei ja der Verlust der Freiheit.

    "Die Selbsterkenntnis ist vor allem die Erkenntnis der eigenen Verantwortung des Ich, nicht einer abstrakten Verantwortung von Wir oder von Uns oder von den anderen, sondern meiner eigenen Verantwortung. Erst dann erkenne ich mich als mich selbst. Der Andere ist aber auch ein möglicher Störfaktor, das heißt, wenn ich den anderen in mich reinlasse, aber nicht als den anderen mir gegenüber akzeptiere und betrachte im Dialog, dann ist er eigentlich ein Hindernis bei der Selbsterfahrung eigener Verantwortung."

    Dieses Buch kann auch eine Bedeutung für den polnisch-deutschen Dialog bekommen. Es kann ihn neu befruchten.

    "Es wird bei Tischner nie zu finden sein, dass er den anderen, zum Beispiel den Deutschen, als den eigentlich Verantwortlichen ausmacht und sagt: Der ist der Böse, das ist das Böse."

    Das Buch ist hervorragend übersetzt und mit einer Einführung versehen worden von Steffen Huber. Es hat schöne Fotos von Tischner selbst, auch als Kind oder unterwegs mit Schülern. Man sieht, dass er ein begeisterter Redner war. Angenehm ist es zu lesen, dass bei Tischner sämtliche Schuldzuweisungen an die Deutschen oder an den Kommunismus oder den

    Nazismus fehlen. Man spürt, dass es ihm darum geht, eine menschliche, eine existenzielle Erfahrung der Verantwortung aufzuzeigen. Als Möglichkeit eines Dialogs, der ein Neuanfang im Denken und in einem Zusammenleben sein kann.


    Józef Tischner: "Der Streit um die Existenz des Menschen"
    Suhrkamp Verlag, 364 Seiten, aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Steffen Huber, 24.90 Euro, 2010