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"Grundordnungen" Europas

Europa - alle reden über Europa, viele wollen zu Europa gehören, nach Europa gelangen, doch was ist Europa überhaupt? Vor diesem Hintergrund hat das Bundesforschungsministerium vor drei Jahren ein interdisziplinäres Projekt zur Grundlagenforschung europäischer Identitäten ins Leben gerufen.

Von Frank Hessenland |
    "Heute ist Griechenland der einzige europäische Staat, der für manche seiner Staatsbürger die Scharia gelten lässt."

    Unter dem amüsierten Gelächter des etwa 30 Personen umfassenden Publikums im Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung verkündete gestern der Publizist Dimitri Kisoudis Erstaunliches. Ausgerechnet der agrarische, erzkonservative christlich-orthodoxe Staat Griechenland, der in seiner ersten Verfassung 1820 noch verankerte, dass Grieche nur sei, wer an Christus glaube, ein Staat, der heute Unterzeichner der europäischen Menschenrechtskonvention und Mitglied der EU ist, soll die konservativ islamische Rechtsprechung, die Scharia verwirklichen, gegen deren Anwendung auch griechische Nato-Truppen in Afghanistan stehen? Ja, sagt Kisoudis und das schon eine ganze Weile, wenn auch nur für seine muslimischen Bürger.

    "Als dem griechischen Staat 100 Jahre nach seiner Gründung Westthrakien einverleibt wird, erhalten die türkischen Muslime mit der griechischen Staatsbürgerschaft ihren rechtlichen Status als eine religiöse Minderheit. Wie die Griechen im Osmanischen Reich dürfen sie ehe- und erbrechtliche Angelegenheiten nach dem religiösen Recht regeln."

    Als eine typische an den Rändern Europas aufzufindende Diachronie, also etwa Unzeitgemäßigkeit, bezeichnen die zehn namhaften Kulturwissenschaftler des Projektes "Grundordnungen in Europa” Kisoudis Scharia-Entdeckung. Seit drei Jahren forschen sie daran, solch widersprüchliche Erscheinungen in Europa zu finden, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Europa in seiner Geschichte alles hatte, nur keine einheitliche Grenze, keine einheitliche Identität, so der georgische Projektkoordinator Zaal Andonikashvili:

    "Es gibt eben dieses Geflecht verschiedener Ordnungen, die nicht unbedingt gleichzeitig sich zueinander verhalten, es gibt keine Synchronität, sondern ein Geflecht zwischen Synchronitäten und Diachronitäten unterschiedlicher Ordnungen, Religionsordnungen, Affektordnungen, Textordnungen, Grundordnungen, die wir auch so sehen müssen."

    Je weiter man nach Osten geht, desto uneinheitlicher, widersprüchlicher und verwirrender werden die Identitäten, welche die europäischen Völker schon einmal angenommen haben. Der Balkan erst heidnisch, dann griechisch-römisch dann christlich, dann muslimisch überformt, orientierte sich erst an Byzanz, dann an Istanbul, später an den Illyrern, dann an der slawischen Völkerfamilie, nur um nun an den Westen anzudocken. Das christliche Rom umfasste das nördliche Afrika, das muslimische Osmanische Reich erstreckte sich bis Wien. Immer waren scheinbar "ewig-gültige" Grundordnungen im Spiel, die vor allem viele Kriege mit sich brachten. Kriege, nicht nur zwischen Staaten, sondern auch zwischen Dörfern und Familien, sagt Dimitri Kisoudis und erzählt, was passierte als die griechisch-westthrakischen Dörfer mit Atatürks am Westen orientierten Reformen konfrontiert wurden.

    "Fezträger prügelten sich mit Hutträgern, die Hutträger forderten an den Schulen der türkischen Minderheit die lateinische Schrift einzuführen, Fezträger wollten mit der arabischen Schrift die religiöse Erziehung fortschreiben. Seither besteht der Streit in der Minderheit Westthrakiens fort."

    Für Sigrid Weigel, Leiterin des mit etwa anderthalb Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium geförderten interdisziplinären Projekts, ist die Vergegenwärtigung der vielfältigen Geschichte Europas ein Beitrag zum Friedensdienst, weil nur Eindeutigkeit zum Krieg anreizt. Europa, also nicht so sehr als eine Idee oder Identität, sondern als Methode des Umgangs.

    "Es geht darum das Bild der europäischen Tradition und Geschichte zu vervielfältigen und aus den vergangenen Konfliktfeldern etwas zu lernen auch für den gegenwärtigen Umgang. Das ist das programmatische Ziel, dass wir interessiert sind daran, zu studieren, inwieweit es möglich ist auch über Verhandlungen mit diesen Differenzen umzugehen. Das schließt genauso ein das Studium von Feindschaften, Feindeskulturen, also dem Misslingen solcher Verhandlungen, als auch die gelungenen Verhandlungen."

    Infos:

    Grundordnungen: Wechselbeziehungen zwischen Geographie, Religion, Kultur und Gesetz