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Grundschule-Gesamtschule-Gymnasium?

"Warum wollen Sie Ihr Kind denn jetzt schon aufs Gymnasium geben?", fragte mich neulich ganz entsetzt die Grundschullehrerin meiner Tochter. Und noch bevor ich zu einer Erklärung ansetzen konnte, präzisierte sie mit strengem Ton: "Sie rauben dem Mädchen ein Jahr seiner Kindheit!" "Warum das?" "Na, auf dem Gymnasium, da müssen die Kinder doch ganz anders ran, da wird doch schon richtig gearbeitet!"

Von Eva-Maria Götz |
    Ihre Erklärung gab mir zu denken. Abgesehen davon, dass ich bisher immer davon ausging, dass auch in der Grundschule "richtig gearbeitet" werden sollte: Wieso raube ich meiner Tochter ein Stück Kindheit, wenn ich sie auf einer höheren Schule anmelde, und das bereits in der 5. statt erst in der 7. Klasse, wie es in Berlin und Brandenburg das Schulgesetz vorsieht.

    Sind Gymnasien kinderfeindliche vorsintflutliche Lehranstalten? Bin ich eine Rabenmutter, wenn ich mich um die optimale Förderung meiner Tochter bemühe? Muss ich mich als überehrgeizige Eislaufmutti abstempeln lassen, wenn ich die Möglichkeit ausnutze, die das Schulgesetz eben auch vorsieht und meine Tochter eine Aufnahmeprüfung an einem der wenigen Gymnasien macht, die bereits ab der 5. Klasse einschulen.

    Ich muss sagen, bis zu diesem merkwürdigen Zusammentreffen auf dem Schulflur morgens um viertel vor acht, hatte ich dem Thema "vorzeitigem Schulwechsel" nicht allzu viel Bedeutung beigemessen. Wir sind erst vor kurzem ins Brandenburgische gezogen, meine Tochter hat einen Schulneustart also grade erst hinter sich und die Möglichkeit, noch einmal drei Jahre auf einer Schule zu bleiben, bis zum nächsten, ganz offiziellen Wechsel fanden wir zunächst einmal gut. Es war eher die Tatsache, dass meine Tochter in der neuen Klasse nicht soviel Anschluss gefunden hatte, die uns zu neuen Überlegungen kommen ließ. Aber etwas an der Haltung dieser Klassenlehrerin hat mich doch nachhaltig irritiert und so begann ich zu forschen.

    Was wird denn den Kindern, die mit dem Schulstoff der Grundschule bis dahin keinerlei Schwierigkeiten haben, in der 5. und 6. Klasse an spezieller Förderung geboten? Nicht viel, so sagten mir Eltern älterer Kinder, die das Problem schon selbst durchlebt und durchlitten hatten. "Mein Sohn musste der Deutschlehrerin immer helfen, Diktate zu korrigieren, was er haßte. "Lehrer spielen" nannte sie das und es war ihre Art der Begabtenförderung, für ihn war es eher eine Zumutung, zumal es ihn auch sozial aus der Klassengemeinschaft ausgrenzte" , berichtete mir eine Mutter. "Meine Kinder haben sich in der 5. und 6. Klasse entsetzlich gelangweilt", erzählte mir eine andere. "Der Unterricht war derartig anspruchslos und die beiden so unterfordert, dass wir bald Schwierigkeiten hatten, sie überhaupt noch zur Mitarbeit in der Schule zu bewegen. Sie hatten bald nichts mehr als Unsinn im Kopf." "Als meine Tochter endlich aufs Gymnasium kam", erzählte mir ein Vater, "wurde festgestellt, dass sie elementare Rechtschreibschwierigkeiten hatte. Durch viel Üben und Nacharbeiten bekamen wir das Problem innerhalb einiger Monate wieder in den Griff. An der Grundschule war das gar nicht aufgefallen, da gehörte sie zu den unauffälligen Klassenbesten. Aber da bestand der Deutschunterricht auch im Wesentlichen aus dem Auswendiglernen von Diktattexten und dem Ausfüllen von Lückentexten auf den Arbeitsblättern."

    Harte Urteile, dachte ich und: sicherlich Einzelfälle! Sind nicht grade die Grundschullehrer für ihr großes Engagement bekannt? Hat die IGLU- Studie nicht bewiesen, dass unser Schulsystem grade und vor allem in der Primarstufe auf solidem Fundament steht? Und predigen die Schulforscher nicht seit den PISA- Ergebnissen den langjährigen Verbleib in heterogenen Klassengemeinschaften als das Non plus Ultra der Schulformen?

    Individuelle Förderung, dachte ich, das ist doch das Gebot der Stunde, das auch alle Bildungspolitiker in ihren Sonntagsreden parat haben. Und alle Pädagogen auch, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, alleine vor einer überfüllten und in ihrer Heterogenität fast nicht mehr handhabbaren Klasse ums Überleben zu kämpfen.

    Differenzierung, schrieb ich mir auf meinen Schmierzettel, als ich mich zum nächsten offiziellen Elterngespräch in der Schule wieder einfand. "Was bieten Sie denn hier an dieser Schule in der 5. und 6. Klasse an Differenzierungsunterricht an?", woraufhin mich die Lehrerin genauso erstaunt und leicht peinlich berührt ansah, wie ich sie einige Wochen zuvor. "Differenzierung, ach wissen Sie, wir müssen hier eigentlich nicht differenzieren, wir haben ja hier keine Ausländer in der Klasse " war ihre offene und ehrliche Antwort. Und ich war sprachlos.

    Auch dies ist sicherlich ein Einzelfall und eine vollkommen subjektive Geschichte. Aber wir werden die Sache mit dem vorzeitigen Schulwechsel hin aufs Gymnasium jetzt doch lieber intensiv vorantreiben!