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Gülsün Karamustafas "Chronographia"
Ironie und Mitgefühl zugleich

In ihrer Ausstellung "Chronographia" im Hamburger Bahnhof in Berlin thematisiert die türkische Künstlerin Gülsun Kramustafa Grenzübertritt, Flucht und Migration. Zu sehen sind persönliche Erinnerungsstücke und kunsthistorische Zeugnisse des Osmanischen Reiches. Das Werk spiegelt die politische Sprengkraft von Karamustafas künstlerischer Haltung und ihres Engagements für die schwachen und Ausgegrenzten.

Von Carsten Probst |
    Trödel steht auf einem Tisch
    Objekte der Begierde sehen für jeden anders aus - Külsün Karamustafa zeigt einen Ausschnitt aus der Türkei in "Choregraphia" (imago / SMID)
    Nach dem Ende der Sowjetunion kamen immer mehr Menschen aus Russland, vom Balkan und aus den Staaten rund um das Schwarze Meer in die Türkei, um dort ihr Hab und Gut zu verkaufen. Auch viele Frauen betrieben diesen Handel, wobei das Hab und Gut, das sie verkauften, oftmals ihr eigener Körper war. Für das Geld, das sie dadurch einnahmen, kauften sie türkische Waren und transportierten sie im Koffer unverzollt zurück in ihre jeweiligen Heimatländer, wo diese Waren wegen der Versorgungsengpässe dringend gebraucht wurden. In Istanbul und in anderen türkischen Städten entstanden deshalb in den neunziger Jahren Marktplätze mit billigen Produkten. Gülsün Karamustafa erkannte damals schnell die menschlich dramatische Dimension hinter diesem eigenartigen grenzüberschreitenden Wirtschaftskreislauf, der den Menschenhandel mit einschloss.
    Sie begann selbst, auf diesen Märkten einzukaufen, und zwar jeweils genau im Warenwert von hundert Dollar. Das entsprach dem Mindestpreis, den eine Frau aus Russland, der Ukraine oder Bulgarien damals verlangen konnte, wenn sie ihren Körper in Istanbul anbot. Die Waren, oft Kleidungsstücke, Unterwäsche, aber auch viel Nippes, packte sie in einen Koffer und transportierte alles unverzollt über verschiedenste Staatsgrenzen hinweg nach Zürich. Dort errichtete sie im Ausstellungsraum Shedhalle einen kleinen Marktstand, an dem sie die Produkte ihrerseits zum Verkauf anbot. So wiederholte sie es anschließend bis 2001 vier weitere Male an anderen westlichen Ausstellungsorten. 2003 führte sie ein Reenactment der Aktion an der Berliner Volksbühne auf.
    Geschlechterrolle bereits in den 70ern ihr Thema
    "Objects of Desire", so lautet der Titel dieser Arbeit, und sie charakterisiert Gülsün Karamustafas künstlerische Vorgehensweise geradezu mustergültig. Sie ist von Ironie und Mitgefühl gleichermaßen geprägt. Sie habe Kunst nie zur Selbstbestätigung gebraucht, sagt sie von sich selbst. Eher habe sie Kunst immer als eine Bürde, als einen schweren Auftrag empfunden. Ihre "Prison Paintings" entstanden in den späten 1970er-Jahren, als Gülsün Karamustafa nach dem Militärputsch in der Türkei wegen ihrer politischen Haltung mit ihrem Mann Sadik inhaftiert war. Die damals 32-Jährige hielt darin den Alltag im Frauengefängnis fest, Eintönigkeit, Unterdrückung, Krankheit und Tod ihrer Mitgefangenen. Schon hier thematisierte sie Geschlechterrollen, aber auch den Bruch von Tradition und Moderne oder die Verwendung von Stoffornamenten, lauter Merkmale, die in ihrem weiteren Werk immer wieder eine zentrale Rolle spielen würden.
    Überall in dieser Retrospektive trifft man auf teils persönliche Erinnerungsstücke, auf kunsthistorische Zeugnisse des Osmanischen Reiches ebenso wie auf Textil- und Materialkompositionen, die äußerlich durchaus kitschig wirken, hinter denen sich jedoch verlorene, entwurzelte Identitäten verbergen. In einem Saal finden sich lauter mit Steppdecken gefüllte Gitterkörbe, die die Besucher selbst nach Belieben bewegen können. Steppdecken bezeichnet Karamustafa als "Schutz des Schlafes", Sinnbild für die wenigen Besitztümer von Flüchtlingen, Migranten, Vertriebenen. Wer wüsste besser als Gülsün Karamustafa selbst, dass das Flüchtlingsthema in Wirklichkeit alles andere als aktuell ist? Immer wieder kehren ihre Arbeiten zum Moment des Grenzübertritts der Überwachung zurück.
    Viel mehr als nur die Nachbildung von persönlichen Schicksalen
    Ihre Großmutter emigrierte Ende des 19. Jahrhunderts von Bulgarien in die Türkei. Wertsachen und persönliche Besitztümer wurden am eigenen Körper und in der Kleidung der Kinder versteckt und so über die Grenze gebracht. Gülsün Karamustafa zeigt dies mit drei schlichten kleinen Kinderwesten, in die sie eigene, wertvolle Aufzeichnungen und Gegenstände eingenäht hat. Doch in Wirklichkeit ist das Grenzüberschreitende in ihrer Arbeit viel mehr als nur die Nachbildung von persönlichen Schicksalen. Es spiegelt die politische Sprengkraft von Karamustafas künstlerischer Haltung, ihres Engagements für die schwachen und Ausgegrenzten, das heute unter dem Regime Erdogan, von unverbrauchter Aktualität ist.