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Günter Graffenberger: Von Memel bis Stockholm. Erinnerungen eines auslandsdeutschen Journalisten

Zitat von Günter Graffenberger:

Henning von Löwis |
    Wie still es hier ist. Nur knapp 50 Kilometer entfernt von Klaipeda oder Memel, wie es damals hieß, und wo alles begann. Hier in Nida am Kurischen Haff scheint die Zeit stillzustehen. Die Wellen des Haffs gluckern wie eine zufriedene Henne und plätschern gemächlich an den Strand. Das Wasser ist trüb, fast dunkelbraun. Ob da noch Fische leben können, geht es mir durch den Kopf? Früher, als Kind habe ich hier geangelt, und die Barsche bissen wie Zunder, sagte mein Onkel Gulbis, der hier als Kurenfischer mit seinem Teitelkahn sein Lebensbrot verdiente. Ich liege hier am Haffufer im Sommer 2001 und schaue hinüber zur Festlandseite, die sich schemenhaft wie ein dunkler Wald am Horizont abzeichnet. Dort drüben bin ich geboren. Kaukehmen, so hieß es damals, als es deutsch war. Jetzt heißt es Jasnoje und ist russisch, gehört zum so genannten Kaliningrader Gebiet. Nidden, wo ich am Haffufer liege, heißt auch nicht mehr so wie damals, sondern auf litauisch Nida.

    Löwis: Günter Graffenberger - eine Stimme so unverwechselbar wie das Land, aus dem diese Stimme stammt: das Land an der Memel - Ostpreußen. Als Korrespondent berichtete er viele Jahre lang aus Skandinavien - über Alltägliches und Spektakuläres, wie die KSZE oder die Ermordung Olof Palmes, die durch die jüngsten Ereignisse erneut in den Blickpunkt rückt. Günter Graffenberger war unser Mann im Norden, doch mit dem Herzen blieb er im Osten. West-Deutschland, Rest-Deutschland - das war nicht seine Welt.

    Und so suchte er denn eine Art Ersatz-Heimat in Skandinavien. An seinem Lebensabend zieht es Günter Graffenberger mit Macht zurück an die Orte der Kindheit - zumindest besuchsweise. Als Zehnjähriger hatte er ein Stück Weltgeschichte erlebt - damals an jenem 23. März 1939, als Adolf Hitler in Memel die Rückkehr des Memellandes zum Deutschen Reich verkündete.

    Günter Graffenberger, von Memel bis Stockholm das ist geografisch gesehen gar nicht mal so weit. Doch wenn ich Ihr Buch lese, habe ich den Eindruck, dass dazwischen Welten liegen.

    Graffenberger: Es ist eigentlich der Versuch, die Geschichte des Memellandes in Zeitrafferform anhand der dramatischen und rein persönlichen Familienereignisse in jüngster deutscher Vergangenheit aufzuzeichnen. Der Vater im deutschen KZ, der Sohn auf einer Nazi-Eliteschule, später verheiratet mit einer Jüdin, die in der Kristallnacht glücklicherweise bis nach England fliehen konnte. Alles ineinander verwoben, so dass ich selbst, als ich das erste Buchexemplar in der Hand hielt und durchblätterte, mich fragte, wie war das alles nur möglich?

    Löwis: Als Sie zehn Jahre alt waren, wurde das Memelland wieder deutsch. Wie haben Sie den 23. März 1939 erlebt?

    Graffenberger: Ich stand neben meinem Vater vor dem Theater in Memel oder in Klaipeda, wie die Litauer sagen, und oben auf dem Balkon erschien ein Mann, der mir zwar von Photos her bekannt war, den ich aber nie zuvor gesehen hatte und den ich jetzt zum ersten Mal hörte. Der ein sehr gutturales Deutsch sprach, was ich gar nicht verstand, was ich gar nicht begriff. Ich verstand und begriff auch gar nichts, was er da vom Balkon des Theaters sagte, als er sagte, die Freude zur Rückkehr zu Deutschland. Und mein Vater stand neben mir, und mein Vater machte ein sehr ernstes Gesicht, und ich merkte meinem Vater an, dass er sich sehr ernste Gedanken machte, und dass er sich keinesfalls freute über die Rückkehr zu Deutschland. Als wir dann nach Hause kamen, das dauerte ja nicht so lange, dann klopfte es an der Tür, dann kam die Polizei. Und dann wurde der Vater abgeholt.

    Löwis: Sie schreiben in Ihrem Buch, Schweden und Finnland, das sei gewissermaßen für Sie Ostpreußen Nummer zwei. Wenn ich das Buch lese, habe ich den Eindruck, dass Sie ein Leben lang auf der Suche nach der verlorenen Heimat waren und sie nie wirklich gefunden haben. Ist das richtig?

    Graffenberger: Ja, das ist ein völlig richtiger Eindruck, den Sie haben. Ich bin also ein sehr bewusster Ostpreuße mit sehr starken Gefühlen für Ostpreußen. Das hat mich auch behindert in vielem, Karriere anderswo zu machen, weil es mich immer wieder nach Ostpreußen zurückgezogen hat. Ich war ja in Amerika vorher als Korrespondent, sollte nach Amerika zurückgehen oder nach England zurückgehen, und ich habe auf diese großartige Karriere damals verzichtet. Mein Chef damals in Hamburg, der hat gesagt, wie kann man nur so wahnsinnig sein, einem so uninteressanten Land wie Schweden den Vorzug zu geben, vor Amerika oder vor England. Und ich habe gesagt, ich möchte - damals konnte man ja nicht nach Ostpreußen fahren in den 60er Jahren - und ich habe gesagt, hier in Schweden sitze ich vor der Haustür Ostpreußens, und ich möchte zurück nach Ostpreußen und habe also bewusst Skandinavien gewählt. Als ich das erste Mal durch Skandinavien fuhr, ich glaubte, ich fahre durch Masuren, durch das Samland oben am Kurischen Haff oder am Frischen Haff. Finnland und Schweden waren also, wenn Sie so wollen, das Spiegelbild Ostpreußens. Sie haben Recht, es war Ostpreußen Nummer zwei, und das hat mich eigentlich hier festgehalten.

    Löwis: Ein Zitat aus Ihrem Buch: "Ich habe meinen Beruf als Journalist geliebt, aber ich habe ihn auch gehasst". Hass ist ja ein sehr starkes Wort. Woraus ist der Hass erwachsen?

    Graffenberger: Die Art und Weise, wie wir als Journalisten bei der Europäischen Sicherheitskonferenz 1975 in Helsinki behandelt wurden - das war ja der Auftakt der europäischen Versöhnungspolitik, die ‚75 eingeleitet wurde. Der Breschnew war da aus der Sowjetunion, Präsident Ford aus Amerika war da, Giscard d’Estaing aus Frankreich, Helmut Schmidt und Honecker, also kurzum alles, was Rang und Namen hatte war dort in Helsinki im Finlandia-Haus versammelt. Wir waren 500 Journalisten, und die Art und Weise, wie wir behandelt wurden - also die Reden, die dort zum Fenster hinaus gehalten wurden, wenn dann die Übersetzungen eintrafen aus dem Englischen, Französischen, Spanischen oder Russischen, die wurden da irgendwie auf einen Pressetisch geknallt, und da rissen sich 500 Journalisten um einen Stapel von Übersetzungen, ohne zu wissen, worum es sich eigentlich handelt, und dann stiegen sie auf Tische und verhökerten dann diese Reden: Ich brauche einen Giscard d’Estaing, biete drei Helmut Schmidt an oder einen Honecker oder einen Ford oder einen Breschnew an. Und ich stand dabei und dachte, das ist so ekelhaft, wie wir als Journalisten hier von den Politikern behandelt werden. Die hätten uns ihre Reden eigentlich per Post zuschicken können, und die ganzen Konferenzen wären unnötig gewesen. Aber diese Art als Journalist behandelt zu werden, erinnerte mich an einen Ausspruch Lenins, der einst sagte: "Journalisten sind nichts anderes als Transmissionsriemen der Partei". So wurden die Journalisten in der Sowjetunion behandelt, das weiß ich aus meinen Reisen in die Sowjetunion, und so behandelte man uns damals. Ich fand das entwürdigend, und ich fühlte mich angeekelt, und ich habe diese Konferenz in Helsinki damals wirklich gehasst, wenngleich ich mir durchaus bewusst bin, dass hinter den Kulissen natürlich große Politik verhandelt wurde. Nur darüber erfuhren wir als Journalisten ja nichts.

    Löwis: Stichwort Sowjetunion. Günter Graffenberger, Sie haben 1945 schlimme Dinge mit eigenen Augen gesehen. Die Russen haben 1945 ihre Heimat erobert und besetzt, und trotzdem haben Sie, wie Sie schreiben, eine Vorliebe für die Russen. Wie passt das zusammen?

    Graffenberger: Ich habe eine große Vorliebe für die russische Literatur, und ich habe eine große Vorliebe für die russischen Menschen. Ich habe die Vergewaltigungen erlebt in Marienberg im Erzgebirge nach dem Kriege, wo ich meine Familie wieder fand. Trotz all dieser schrecklichen Dinge, die ich tagtäglich erlebt habe - meine Tante, die im neunten Monat war, ich konnte sie befreien, zwei Russen wollten sie noch vergewaltigen, und ich ging dazwischen und wurde zusammengeschlagen, und ein russischer Offizier kam mir da zu Hilfe. Also ich hätte allen Anlass gehabt, die Russen zu hassen. Aber ich habe sie nicht gehasst. Umgekehrt am nächsten Tag, als wir betteln gingen, wir hatten ja nichts zu essen gehabt, da haben die Russen uns Kartoffelschalen gegeben, damit wir etwas zu essen hatten. Bei den russischen Menschen - und wenn man russische Literatur liest, weiß man: dort sind immer zwei Seelen in einer Brust, die grausame und die sehr menschliche. Es kommt darauf an, auf welche man gerade zufällig stößt. Ich habe beide Seiten kennen gelernt, und dies Erlebnis beispielsweise in einem Hotel in Tblissi im Kaukasus, als ich ins Hotel runterkam und frühstücken wollte. Da war eine lange Schlange von Menschen, die vor einem Tresen standen, hinter dem sich eine Babuschka bewegte, und die den ersten fragte, was er wollte, und er sagte, ‚ich will ein hartgekochtes Ei haben’. Sie nahm dann ein Ei, tat es in das kochende Wasser, und nach vier Minuten kam sie zurück und gab dem das hartgekochte Ei. Und fragte den zweiten, was er wollte, und er sagte, ‚ich möchte ein hartgekochtes Ei haben, poshaluista. Sie sagte, gut, nahm das Ei und steckte es wieder in das kochende Wasser. Nach vier Minuten kam sie zurück und gab ihm das hartgekochte Ei. Ich war also Nummer 13 in der Schlange, ich konnte mir also vorstellen, wann ich an der Reihe war. Ich hätte auch nur sagen können, ich möchte ein hartgekochtes Ei haben. Poshaluista, hätte sie gesagt, und ich verzichtete also auf das Frühstück und ging woanders essen. Aber ich fand diese Szene so großartig, so menschlich. Das zeigt auf der einen Seite die Unzulänglichkeit in der riesigen Sowjetunion. Auf der anderen Seite habe ich viele menschliche Begegnungen auf meinen Reisen im Kaukasus in Russland erlebt. Ich habe auch Russisch gelernt, ich spreche es miserabel, aber ich verstehe es zumindest ein bisschen. Ich liebe die Russen, ich mag sie.

    Löwis: Sie haben zur Feder gegriffen, um aus eigenem Erleben das zu schildern, was einmal war und vermutlich nie mehr wiederkommt. Woran denken Sie da vor allem? Was ist verloren?

    Graffenberger: Verloren ist natürlich Ostpreußen. Wer heute nach Königsberg kommt, der kann ja nun wirklich nicht behaupten, dass das noch Königsberg ist. Das ehemalige Königsberg erinnert an Nowosibirsk und nicht an Königsberg. Königsberg gibt es nicht mehr, selbst wenn das Schloss inzwischen restauriert ist - der Dom natürlich - und Ostpreußen finden Sie nur noch in Memel, nur noch in der Altstadt. Das kleine Memel ist heute eine 250.000/300.000 Hafenstadt. Es ist Klaipeda, nicht mehr Memel. Kommen Sie nach Danzig, kommen Sie nach Allenstein oder kommen Sie nach Insterburg, dort gibt es also Bauten, die nun nichts mehr mit Deutschland zu tun haben. Die ganze Landschaft ist verwachsen und verwildert, die Natur hat überhand genommen. Die Natur holt sich das zurück, was ihr einst abgerungen worden ist. Wenn das so weitergeht, und es geht offenbar so weiter - die letzten Berichte besagen das ja im Kalinigrader Gebiet - die Verwilderung nimmt überhand. Lediglich mit Ausnahme des Memellandes. Dort im Memelland auf der litauischen Seite - Ostpreußen wurde ja dreigeteilt in einen litauischen, russischen und polnischen Teil - lediglich auf der litauischen Seite kann man sagen, erinnert mich Ostpreußen nach wie vor an meine Heimat. Die Litauer tun also was für das Land. Und ich glaube auch in Masuren, die Polen tun was, aber im Kaliningrader Gebiet ist es also so entsetzlich, weil das ganz einfach nicht mehr Ostpreußen ist. Und ich will auch dorthin nicht mehr. Ich will mir das bewahren, was in meinem Herzen und in meiner Seele tief eingeprägt ist.

    Löwis: "Von Memel nach Stockholm"- eine Welten-Wanderung über die Ostsee - und Deutschland liegt ganz weit weg. Sie mussten 1945 Ostpreußen verlassen, sind Sie je in Deutschland angekommen?

    Graffenberger: Nein, leider nicht. Ich habe viele Jahre in Deutschland gelebt, in Bremen, in Hamburg. Aber ich habe mich eigentlich nie, nie so wohlgefühlt wie in Ostpreußen. Vermutlich bin ich zu sehr geprägt worden von der ostpreußischen Landschaft als dass ich mich hätte wohlfühlen können. Vielleicht mit Ausnahme Schleswig-Holsteins, wo der Dialekt ähnlich ist wie im Ostpreußischen, wo die Landschaft in Bremen und im Raume Hamburg und Schleswig-Holstein, in Mecklenburg ähnlich ist, aber das übrige Deutschland ist mir immer sehr fremd geblieben. Ich fühle mich eigentlich in Deutschland nicht wohl, nicht mehr wohl.

    Löwis: Das Buch von Günter Graffenberger ist in der edition zeitbrüche des Fibre Verlages erschienen: Günter Graffenberger: Von Memel bis Stockholm. Erinnerungen eines auslandsdeutschen Journalisten, Osnabrück 2002.