Mittwoch, 24. April 2024

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Günter Grass und der Fußball
Mein Ball hat eine Delle

Im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund wird eine Ausstellung zu Günter Grass und seiner Leidenschaft für den Fußball eröffnet. Es geht dabei auch um das grundsätzliche Verhältnis von Fußball und Literatur.

Von Jessica Sturmberg | 04.10.2020
Günter Grass sitzt auf einem Tribünensessel
Günter Grass bei einem WM-Fußballspiel 2006 (imago images / Eduard Bopp)
DER BALL IST RUND
Meiner hat eine Delle.
Von Jugend an drücke
und drücke ich; aber
er will nur einerseits rund sein.
Für den Schriftsteller Günter Grass sind die Verhältnisse nicht so rund, nicht so simpel und einfach strukturiert, wie sie in den Sepp Herberger zugeschriebenen Fußball-Weisheiten vermittelt werden. Der Direktor des Deutschen Fußballmuseums Manuel Neukirchner sagt:
"Günter Grass entwirft eine Antithese zu Sepp Herberger. Sepp Herberger hat einfache Bilder formuliert und hat darin die Gesetzmäßigkeiten des Fußballs ausgedrückt. Aber nicht nur das, er hat in diesen Sprüchen wie der alemannische Erzähler Johann Peter Hebel ein Stück die Welt erklärt. Der Ball ist rund – eine ganz einfache These"
… der Grass mit einem Gegenbild widerspricht, die Delle als Gegenentwurf für die gutgemeinten Lebensweisheiten. Es ist eben doch komplexer. Auch auf dem Fußballplatz.
Auch für Günter Grass, der gerne auf Seiten der Außenseiter steht, der sich vom FC St. Pauli und SC Freiburg und ihrem jeweiligen Umfeld angezogen fühlt. Und mit zunehmendem Alter bei Spielen der Nationalmannschaft eine neue Beziehung entdeckt. Museumsdirektor Neukirchner ist Literaturwissenschaftler und sieht bei Grass die Veränderung seiner Haltung zu Deutschland auch im Fußball beschrieben. Manchmal kann auch die Aufladung eines Fußballländerspiels die eigene emotionale Verortung deutlich machen:
"Er hat in seinem Tagebuch geschrieben. Bei der Fußballweltmeisterschaft 1990 habe ich mich dabei ertappt, dass ich im Halbfinale gegen England der deutschen Nationalmannschaft die Daumen gedrückt habe und in seinem Tagebuch schreibt er später bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 – ich habe mich dabei ertappt, dass ich im Stadion die deutsche Nationalhymne mitgesungen habe. Das aus dem Munde von Günter Grass, dem Mahner, dem politischen Moralisierer, der eher die Distanz gesucht hat als die Nähe zu seiner Heimat auch – das ist schon bezeichnend und zeigt so ein Stück auch den Prozess, den er in den Jahren vielleicht zurückgelegt hat, auch mit der Annäherung zu Deutschland."
Grass-Ausstellung in Lübeck
Ausstellung in Lübeck - Günter Grass, der Fußballfan
Günter Grass war ein großer Fußballfan – Spiele verfolgte er gerne im Stadion. Sein Fußballerherz schlug dabei immer für die Underdogs. Das Günter Grass-Haus in Lübeck hat jetzt eine verschobene Ausstellung eröffnet, die die große Liebe zwischen dem Dichter Grass und dem Ballsport zeigt.
Günter Grass und der Fußball ist eine Beziehung, die der Literaturnobelpreisträger von 1999 auch literarisch verarbeitet hat. Im Mittelpunkt der Ausstellung im Fußballmuseum stehen die drei Kapitel in seinem Werk "Mein Jahrhundert" von 1999, in denen er die bis dahin drei aus seiner Sicht bedeutendsten Spiele aufarbeitet.
"Im Kapitel 1903 beschäftigt er sich mit dem ersten Endspiel um die deutsche Meisterschaft in Altona, das wurde noch auf einem Exerzierplatz ausgetragen des Militärs, weil es noch keine Fußballplätze gab",
sagt Manuel Neukirchner. Damals besiegte der VfB Leipzig den deutschen Fußballclub Prag mit 7:2. Auf dem Hintergrund des Historischen nimmt Grass die Erzählperspektive von historischen Persönlichkeiten oder fiktionalen Person auf dieses Ereignis ein und vermischt so Phantasie mit historischer Genauigkeit, sagt Neukirchner:
"Die Geschichte nimmt auch Bezug auf Migrationsgeschichte, er deutet nämlich in diesem Text auch an die Entwicklung des Fußballs in den 30er Jahren am Beispiel von Fritz Szepan und von Ernst Kuzorra, deren Eltern aus den Masuren stammen und seine Mutter hatte ja auch eine kaschubische Herkunft und damit verweist dieser Text auf seine eigene Migrationsbiographie und auch auf das Thema Minderheiten, das hat ja Günter Grass durch sein gesamtes Werk auch begleitet."
Ferenc Puskás und die Salamifabrik
Im Kapitel 1954 lässt er den fiktiven Erzähler Radio hören, die Reportage Herbert Zimmermanns vom Finale in Bern klingt sofort auch bei allen Nachgeborenen in den Ohren, aber es geht nicht um das abermalige Wiederaufleben des Mythos, sagt Neukirchner:
"Nein. Er nimmt vielmehr die rasante Kommerzialisierung des Fußballs und der Gesellschaft in den 50er Jahren vorweg, er zeigt Ferenc Puskás, das ist der große Star der Ungarn gewesen und Fritz Walter als die ersten Stars, die sich vermarkten. Puskás mit einer eigenen Salamifabrik, er hat ja dann auch für Real Madrid gespielt."
Das dritte Kapitel ist 1974 das Bruderduell – die BRD gegen die DDR im Hamburger Volksparkstadion. Hier lässt Grass den im Gefängnis sitzenden DDR-Spion Günter Gulliaume das Spiel im Fernsehen schauen. Er ist zerrissen ist, zu wem er halten soll.
Zu diesen drei Kapiteln gibt es Exponate wie das letzte erhaltene Originalticket zum Finale 1903, den originalen Endspielball von Bern - damals gab es nur den einen Ball - und zum Bruderduell 1974 das Tauschtrikot von Uli Hoeneß und Hans-Jürgen Kreische.
Der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, Franz Beckenbauer, beim Einzug in des Volksparkstadion in Hamburg am 22.06.1974. Die bundesdeutsche Elf verlor in der Vorrunde der Fußball-Weltmeisterschaft das Spiel gegen die DDR überraschend mit 0:1 Toren. Torschütze war Jürgen Sparwasser. Ganz rechts der Schiedsrichter Ramon Bareto Ruiz (Uruguay).
Fußball-WM-Vorrunde 1974 (picture-alliance/dpa / Heinrich Sanden)
"Es war ja den DDR-Spielern verboten, mit den Westmächten Trikots zu tauschen, deswegen musste das still und heimlich in der Kabine stattfinden. Berti Vogts ist mit einem Wäschekorb aller Trikots in die Kabine der DDR-Spieler gegangen und dann hat er im Gegenzug die DDR-Trikots bekommen und zwei davon stellen wir aus",
sagt Manuel Neukirchner und er betont dabei auch, dass zu den Highlight-Exponaten auch die Nobelpreisurkunde von Günter Grass gehört. Vielleicht ist gerade sie das Zertifikat, dass die Hochwertigkeit literarischer Verarbeitung des weltumspannend beliebtesten Sports verkörpern soll. Auch wenn Grass, wie er in der Erinnerung auflebt - mit Pfeife im Stadion am Millerntor, nicht der einzige war, der die Leidenschaft für das Spiel in poetischer Auseinandersetzung auslebte.
Auch die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek machte sich auf die Suche nach der Wahrheit auf dem Platz, Ulla Hahn beschrieb die Sehnsucht des Balls zum Tor, Ror Wolf verfasste das Klagelied der tausenden Trainer auf den Rängen und hinter den Bildschirmen in seinem
FUßBALL-SONETT NR. 4
Das ist doch nein die schlafen doch im Stehen.
Das ist doch ist das denn die Möglichkeit.
Das sind doch Krücken. Ach du liebe Zeit.
Das gibts doch nicht. Das kann doch gar nicht gehen.
Die treten sich doch selber auf die Zehen.
Die spielen viel zu eng und viel zu breit.
Das sind doch nein das tut mir wirklich leid.
Das sind doch Krüppel. Habt ihr das gesehen?
Na los geh hin! Das hat doch keinen Zweck.
Seht euch das an, der kippt gleich aus den Schuhn.
Ach leck mich fett mit deinem Winterspeck.
Jetzt knickt der auch noch um, na und was nun?
Was soll denn das oh Mann ach geh doch weg.
Das hat mit Fußball wirklich nichts zu tun
Der Schriftsteller Ror Wolf sitzt am Dienstag (26.02.2008) in seiner Wohnung in Mainz vor einem Bücherregal auf einem Sofa.
Zum Tod von Ror Wolf - Fußball als Klangkunst
Berühmt wurde Ror Wolf mit seinen Fußball-Hörspielen: Montagen aus zerschnipselten Zitaten von Fußballspielern, Kommentatoren und Zuschauern. Doch der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller war weit mehr als ein "Fußball-Poet".
Dieses und zehn weitere Gedichte bedeutender Schriftstellerinnen und Schriftsteller, angefangen mit Günter Grass, werden ebenfalls im Rahmen der Ausstellung zu sehen und zu hören sein. Aber was macht überhaupt gelungene Poetik und Literatur zum, vom oder über den Fußball aus? Der emeritierte Stanford-Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht sieht als Kriterien dafür:
"Über Fußball bestimmte historische Momente zu rekonstruieren. Und Vergegenwärtigung, das wäre für mich das zentrale Wort für Gelingen, also Vergegenwärtigung verschiedener Stimmungen, Momente, Ereignisse, das könnte eine zentrale Bindung des Gelingens sein."
Es ist nicht immer eine einfache Beziehung zwischen Literatur und Fußball. Anhänger des einen sind nicht gleich Anhänger des anderen und es braucht gelegentlich ein bisschen Zeit, um die Gedanken und Denkanstöße zu erfassen und für sich zu verarbeiten. Manchmal auch mehr als eine Spiellänge, hier die Gedanken von Ilse Aichinger:
Ein Spiel dauert 90
Minuten. Und wie lange
Dauern 90 Minuten? Wie
Lange dauern sie ohne
Gesellschaft? Und wer
Erträgt sie?