Donnerstag, 28. März 2024

Günter Kunert zum Kriegsende
"Eine Geschichte unaufhörlicher Verluste"

Günter Kunert, am 6. März 1929 geboren, wuchs als umsorgtes Einzelkind in Berlin auf. Seine jüdische Mutter war Hausfrau, der christliche Vater Kaufmann. Erschreckt hat ihn, wie schnell nach dem Krieg die Verdrängung begann - und der Verlust von Menschen weiterging.

08.05.2005
Der Schriftsteller Günter Kunert beobachtete im Mai 1945 den Einmarsch der Russen in Berlin-Weißensee.
Der Schriftsteller Günter Kunert beobachtete im Mai 1945 den Einmarsch der Russen in Berlin-Weißensee. (dpa / Georg Wendt)
"Meine Herkunft wurde mir ziemlich früh bewusst, noch lange vor der Schulzeit. Denn meine Mutter pflegte mich immer zu warnen, bestimmte Wörter nicht auszusprechen, wenn ich mit anderen Kindern spielte, auf der Hut zu sein, und es war mir ganz klar, woran das lag. Ich lebte ja im Grunde wie innerhalb einer jüdischen Familie, der einzige in Anführungsstrichen "Arier", der einzige Goi, war mein Vater. "

"Und er kam dann zu uns, hatte so einen kleinen Rucksack und verabschiedete sich von meiner Mutter und mir. Und er schenkte mir, er hatte einen sehr schönen Schnurrbart, er schenkte mir seine Schnurrbartbürste. Das war wie so ein letztes Zeichen, das ist die Erbschaft, das überlasse ich dir, und ich werde wahrscheinlich nicht wiederkommen. Und er ist auch nicht wiedergekommen. "

Günter Kunert blieb mit seinen Eltern in der Reichshauptstadt, die ab Herbst 1943 zum Ziel massiver Luftangriffe wurde. Aus "rassischen Gründen" bekam die Familie Kunert in den Luftschutzkellern die schlechtesten Plätze.
"Die meinen ja nicht mich, wenn sie Bomben abwerfen"
"Achtung, Achtung, wir geben eine Luftwarnmeldung. Feindliche Bomberverbände mit wechselnden Kursen …"

"Wir saßen im Keller und hörten, wie die Bomben fielen. Die Explosionen kamen immer näher. Und dann fing der Boden an zu schwanken wie ein Schiff im Sturm. Das Licht ging aus, die Frauen schrieen, und ich fand das irgendwie aufregend, muss ich gestehen. Ich hatte überhaupt keine Angst, weil ich mir sagte, diese Leute sind meine Alliierten, und die versuchen, diesen Krieg und diese Zeit und den Terror zu beenden, und die meinen ja nicht mich, wenn sie ihre Bomben abwerfen. "

Als die Rote Armee im April 1945 die Reichshauptstadt erreichte, zählte die Berliner Bevölkerung noch rund 2,8 Millionen Menschen. Nur 6.000 Juden hatten Krieg und Verfolgung in der Stadt überlebt. Am 20. April 1945 eröffnete die sowjetische Artillerie das Feuer auf Berlin. Fünf Tage später schwor Propagandaminister Josef Goebbels die Bevölkerung ein letztes Mal zur unabdingbaren Treue auf den Führer ein:

Goebbels, 25. April, letzte Rundfunkrede: "Meine Berliner Volksgenossen und Volksgenossinnen! In den zurückliegenden Wochen ist in der Reichshauptstadt ein beachtliches Verteidigungswerk geschaffen worden, was von den Außenbezirken bis in die Stadtmitte reicht. An den Mauern unserer Stadt wird und muss der Mongolensturm gebrochen werden."


"Die Russen kamen ja fast von allen Seiten und lagen in Weißensee und schossen dann über den S-Bahn-Damm, der wie ein Schutzwall war, mit Minenwerfern. Und weil ich es nicht in diesem Keller dauernd aushalten konnte, stand ich dann im Hausflur, aber in einem toten Winkel und konnte schräg auf die Straße sehen. War also bis zu einem gewissen Grade geschützt."

Radiomeldung zu Hitlers Tod: "Aus dem Führerhauptquartier wird gemeldet, dass unser Führer Adolf Hitler heute Nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzuge gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist."

"Und plötzlich erschienen zwei Sowjetsoldaten. Und an der Ecke standen schon kapituliert habende Soldaten, und einer, der sich so schick gemacht hatte, mit so einer Schirmmütze und so einer Tarnjacke, auf den gingen die gleich zu: du Offizier! Nein, nein, nein! Um Gottes willen! Überhaupt nicht! Waffe! Und dann nahmen die dem die Pistole weg. Chitler kaputt! Sie konnten ja kein "h" sprechen. Chitler kaputt! "
Als stünde die Zeit still ... Das Bild zeigt das zerstörte Nürnberg, Text: 8. Mai 1945,
Schon bald begann die Verdrängung
Mit der Kapitulation von General Weidling, dem Befehlshaber des Berliner Verteidigungsbereichs, war der Krieg am 2. Mai 1945 in der Reichshauptstadt zu Ende.

"Die erste Überlegung war: Wo kriegen wir was zu essen her? Ich glaube nicht, dass die Leute im ersten Moment überhaupt daran dachten, ob sie befreit sind, ob sie besiegt sind, ob das die Stunde Null ist oder was eigentlich. Aber es dauerte gar nicht lange, und das hat mich eigentlich ein bisschen erschreckt - schon so nach zwei, drei Monaten: die Verdrängung begann. Die Leute erfuhren nun, was geschehen war. Die Massenmorde, angeblich hatte keiner was gewusst. Erschreckend. Eine Geschichte unaufhörlicher Verluste, die mit dem Jahr ’45 noch gar nicht zu Ende war. Denn es tauchten Leute auf, die überlebt hatten, aber sie tauchten nur auf, um nach Amerika zu gehen. Und so habe ich also auch diese Leute noch verloren und eben dann auch Bekannte, die entweder auswanderten oder nach Westdeutschland verzogen. Es war doch ein ständiger Verlust, muss ich sagen. "