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Gürzenich-Orchester Köln mit einem ehrgeizigen Projekt

Das Gürzenich-Orchester ist jenes städtische Orchester der Stadt Köln, das sich nach einem alten bürgerlichen Konzertsaal nennt, den das Orchester ab 1857 mit "Gesellschafts- und Abonnementskonzerten" bespielte. Inzwischen hat das Orchester seinen Sitz im Amphitheater-Rund der Kölner Philharmonie, wollte sich deshalb zeitweise auch Kölner Philharmoniker nennen, was sich aber nicht bewährt hat: Gürzenich-Orchester war ein gut eingeführter und viel prägnanterer Name. Wichtiger als solche Namenskapriolen ist aber der Eifer, mit dem sich das Orchester zusätzlich zu seinen städtischen Pflichten in Oper und Konzert nach und nach auch noch als ernstzunehmendes Ensemble für die Schallplatte aufbaut.

    So wird das Gürzenich-Orchester zum verlässlichen kulturellen Botschafter einer Stadt, die ansonsten vor allem mit dem possenhaften, kleinkariert-hemdsärmeligen Stil ihrer Stadtväter weit über die Domstadt hinaus Schlagzeilen macht. Oberbürgermeister Fritz Schramma, dem Kölner Künstler Anfang dieses Jahres und beileibe nicht im Karneval bereits eine "Schrammatte", eine Fußmatte mit vielen gleich mit eingebauten Fettnäpfchen überreichten - dieser Oberbürgermeister glänzt mit wunderbar indiskret gehandelten Personalien, wenn er Opernintendanten und Kulturdezernenten ebenso schnell wie er sie ausguckt auch schon wieder rauswirft, scheitert grandios mit einer Kulturhauptstadt-Bewerbung, bei der es ihm nicht einmal gelingt, die Kölner Kulturschaffenden selbst alle hinter sich zu versammeln, lässt munter eine durchaus noch benutzbare Kunsthalle abreißen und beschert der Stadt in der Manier eines Spät-68er-Revoluzzers an deren Stelle ein langjähriges, happenistisch-großes Loch und legt sich bewundernswert unsensibel auch mit überstaatlichen Einrichtungen wie der UNESCO an, die sich jetzt ernsthaft überlegt, Schrammas goethischem Bahnhofskirchlein wegen zu hoher Neubauten drumherum den Kultur-Erbe-Status abzuerkennen. Bei all diesem Dilettieren und Hasardieren freut sich der Beobachter, wenn es in Köln auch noch Einrichtungen gibt, die bewundernswert zielstrebig, kompetent und innovativ ihre Arbeit tun: das Gürzenich-Orchester gehört zum Glück dazu.

  • Musikbeispiel: Dmitri Schostakowitsch - 3. Satz (Ende) aus der Sinfonie Nr. 8

    Begonnen haben die verstärkten CD-Aktivitäten des Gürzenich-Orchesters Köln vor etwa zehn Jahren: Mit seinem langjährigen Chefdirigenten James Conlon widmete es sich vor allem den Werken Alexander Zemlinskys und machte damit eine sinfonische Musik zugänglich, die in den Konzertsälen lange ein Schattendasein gefristet hatte. Aber auch Orchesterwerke von Karl Goldmark, Viktor Ullmann oder die Aufnahmen von Violinkonzerten des 20. Jahrhunderts mit dem Geiger Vladimir Spivakov sind in guter Erinnerung. Zusammen mit der in der Nähe von Köln ansässigen Firma Capriccio hat man jetzt ein großes, sehr ehrgeiziges Projekt begonnen: Es geht um nichts Geringeres als die Herausgabe aller 15 Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch.

    Pünktlich im Jahre 2006, zum 100. Geburtstag des 1975 verstorbenen großen russischen Komponisten, sollen sie vorliegen. Als erste Aufnahme aus diesem Zyklus veröffentlichte Capriccio schon jetzt vorab die 8. Sinfonie. Und nach dieser ersten "Kostprobe" steht zu erwarten, dass eine technisch und musikalisch hochwertige und künstlerisch sehr authentische Gesamtausgabe herauskommen wird, denn als Dirigent hierfür konnte Dmitri Kitajenko gewonnen werden, der seit seiner frühen Jugend mit Schostakowitschs Musik vertraut ist.

    Geboren in Leningrad, einer der Wirkungsstätten von Schostakowitsch, konnte er schon als Kind den Komponisten erleben, war 1949 als Mitglied im Knabenchor an der Uraufführung des Oratoriums "Das Lied von den Wäldern" beteiligt und durfte als 13-jähriger mit seinen Eltern zur Uraufführung von Schostakowitschs 10. Sinfonie. Das war für ihn ein prägendes Erlebnis, vor allem deshalb, weil sein Vater, ein Ingenieur, der zehn Jahre in einem Lager hatte verbringen müssen, von dieser tragischen Musik so aufgewühlt war, dass er auch lange Zeit nach dem Konzert noch schweigsam und in sich versunken war. Persönlich kennen gelernt hat Kitajenko den Komponisten 1971 als Chefdirigent der Stanislawski Oper in Moskau, wo er "Katerina Ismailowa" einstudierte. Damals beantwortete der längst weit über die Sowjetunion hinaus bekannte Komponist in aller Kollegialität die Fragen des noch jungen Kitajenko und gab ihm entscheidende Anregungen. Noch heute - so Kitajenko ein wenig pathetisch - habe er Schostakowitschs leise Stimme im Ohr, wenn er seine Werke studiere.

  • Musikbeispiel: Dmitri Schostakowitsch - 4. Satz: Largo aus der Sinfonie Nr. 8

    Schostakowitschs Achte ist die zweite der "Kriegssinfonien", 1943 komponiert. Aus einer überaus einfachen Keimzelle, einem Sekundschritt aufwärts und dann wieder abwärts, entwickelt der Komponist das vielleicht traurigste Orchesterstück des 20. Jahrhunderts, elegisch, melancholisch, tragisch, stellenweise dramatisch, teilweise bis ins Groteske verzerrt und am Ende immer noch untröstlich. Entstanden mitten im Krieg, in unmittelbarer Nähe von Tod und Unmenschlichkeit, unsagbarem Leid und hoffnungsloser Verzweiflung, vielleicht als Versuch, das Unerträgliche psychisch und künstlerisch zu verarbeiten. Vorbei die Zeiten, wo man Sinfonien nach dem faustischen Motto "Durch Nacht zum Licht" anlegen konnte, wo am Ende eine Lösung oder gar eine Erlösung steht.

    Das beste, was am Ende noch möglich ist, ist ermattendes Verklingen, Müdigkeit, Ruhigstellen der Gedanken durch ein bisschen Schlaf. Keine logische Entwicklung, wo eins aus dem anderen folgt, bestimmt die Großform dieses Werkes, sondern eher ein Tableau unterschiedlicher Ausdrucks-Charaktere ohne eindeutige Zielrichtung. Wo der Boden unter den Füßen wegzubrechen scheint, sucht Schostakowitsch ein wenig Sicherheit auf andere Art zu finden, durch strenge Konstruktion von Themen und Motiven aus der erwähnten Keimzelle, durch Verklammerungen über die Sätze hinweg. Der Glaube an das musikalische Material und an die Möglichkeit, es zu ordnen und ihm Sinn einzuhauchen - dieser Glaube ist noch nicht ganz verloren gegangen und scheint dem Komponisten nach den Gräueln von Hitler und Stalin noch einen gewissen Halt zu geben.

  • Musikbeispiel: Dmitri Schostakowitsch - 2. Satz (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 8


    Titel: Dmitri Schostakowitsch - Sinfonie Nr. 8
    Orchester: Gürzenich-Orchester Köln
    Leitung: Dmitri Kitajenko
    Label: Capriccio
    Labelcode: LC 08748
    Bestellnr.: 71013