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Guillaume de Machaut: Messe de Nostre Dame
Ein Avantgardist seiner Zeit

Guillaume de Machaut – Musiker, Dichter und Kleriker - zählte mit seinem künstlerisch anspruchsvollen Œuvre zu den größten Komponisten des 14. Jahrhunderts. Machauts "Messe de Nostre Dame" steht im Mittelpunkt einer bemerkenswerten CD mit dem belgischen Vokalensemble "Graindelavoix", die kürzlich erschienen ist.

Von Helga Heyder-Späth | 19.06.2016
    Vokalensemble Graindelavoix
    Das belgische Vokalensemble Graindelavoix um Bernd Schmelzer wendet sich in seiner jüngst erschienenen CD dem Musiker Guillaume de Machaut zu. (Charlie de Keersmaecker)
    Er war Kleriker, Diplomat und Literat – und er war der erste Komponist, der mit einem erstaunlich geschlossenen, künstlerisch anspruchsvollen Œuvre in die Geschichte einging. Guillaume de Machaut gilt als Wegbereiter der sogenannten Ars Nova, jener neuen Kunst, mit der man im 14. Jahrhundert innovative Wege beschritt: hin zu einer kunstvollen und zunehmend komplexen Mehrstimmigkeit. Ein berühmtes Beispiel für diesen avantgardistischen Stil des ausgehenden Mittelalters ist Machauts "Messe de Nostre Dame". Sie steht im Mittelpunkt einer bemerkenswerten CD mit dem belgischen Ensemble "Graindelavoix", die kürzlich beim Label Glossa erschienen ist und die wir Ihnen heute vorstellen. Im Studio begrüßt Sie dazu Helga Heyder-Späth.
    Musik 1: Guilaume de Machaut: Kyrie Anfang aus: Messe de Nostre Dame Graindelavoix
    Seit Björn Schmelzer sein Ensemble "Graindelavoix" 1999 gegründet hat, sorgt er mit seinen unkonventionellen Interpretationen immer wieder für Aufsehen. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der Musik des Spätmittelalters und der Renaissance. Ihre jüngste CD-Produktion widmen Schmelzer und seinen Sängerkollegen jetzt der "Messe de Nostre Dame" von Guillaume de Machaut, also einem Klassiker des 14. Jahrhunderts. Einen Ausschnitt aus dem "Kyrie" haben Sie gerade gehört.
    Herausragende Persönlichkeit
    Machaut war in mehrfacher Hinsicht eine herausragende Persönlichkeit. Vermutlich in der Nähe von Reims geboren, machte er zunächst als Sekretäre der Herzöge von Luxemburg Karriere. In den 1340er Jahren ließ er sich dann als Kleriker in Reims nieder, stand aber weiter im regen Austausch mit vielen fürstlichen Mäzenen vor allem in Frankreich, denen er etliche seiner literarischen Werke widmete.
    Unter seinen Kompositionen nimmt die "Messe de Nostre Dame" eine ganz besondere Stellung ein. Sie ist die früheste überlieferte vollständige Vertonung des Mess-Ordinariums aus der Hand eines einzelnen Komponisten. Schon diese Tatsache macht das Werk zu einer musikgeschichtlichen Sensation. Dass man es auch noch relativ gut datieren kann, nämlich auf die Zeit um 1360, hat viele Historikerherzen höherschlagen lassen.
    Machauts Werke sind hauptsächlich in sechs umfangreichen Büchern überliefert, die alle auf seine eigenhändigen Zusammenstellungen zurückgehen. Auch das hat vor ihm wohl noch kein Komponist mit diesem Anspruch auf Vollständigkeit getan. Offensichtlich ging es Machaut dabei unter anderem darum, seine Werke für die Nachwelt zu erhalten. Das legen die vielen Hinweise nahe, die er nicht nur in seinen musikalischen, sondern auch in seinen literarischen Werken gibt. Daraus spricht ein gesundes – aber für das 14. Jahrhundert durchaus ungewöhnliches – Selbstbewusstsein eines Musikers, der sich seiner Bedeutung für nachfolgende Generationen sicher war. Mit seiner "Messe de Nostre Dame" brachte Machaut diesen Anspruch besonders deutlich zum Ausdruck. Sie wurde höchstwahrscheinlich nach seinem Tod in einer Gedächtnismesse für ihn und seinen Bruder gesungen, die Machaut noch zu Lebzeiten selbst bestellt hatte.
    "Emotionale" Wirkund der Musik
    In seinen Dichtungen spricht Machaut – modern gesprochen – auch über die emotionale "Wirkung" seiner Musik. Eben diese Unmittelbarkeit ist ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Aspekt in der Machaut-Interpretation von "Graindelavoix". Besonders eindringlich zeigt sich das im "Agnus Die".
    Musik 2: Guilaume de Machaut: Agnus Dei aus: Messe de Nostre Dame Graindelavoix
    Wie auch einige andere Sätze aus der "Messe de Nostre Dame" beruht das Agnus Dei, das Sie eben gehört haben, auf einem liturgischen Cantus firmus. Er ist geschickt in den dicht gewebten polyphonen Satz eingeflochten. Machaut verwendet hier den Kompositionsstil der sogenannte Isorhythmie, bei der bestimmte rhythmische Strukturen mehrfach wiederkehren, während die Melodieverläufe durchaus variieren können. Es ist ein vergleichsweise komplexer Stil. Ihm stellt Machaut im Gloria und Credo, also in den textreicheren Teilen des Mess-Ordinariums, eine schlichtere, homophone Schreibart gegenüber. In diesen Sätzen steht dann die Deklamation des Textes im Vordergrund, und abgesehen von der kurzen Intonation am Anfang, verzichtet Machaut darin auch weitgehend auf die Verwendung von liturgischen Melodien.
    Musik 3: Guilaume de Machaut: Credo (Anfang) aus: Messe de Nostre Dame Graindelavoix
    Mit der stilistischen Vielfalt, der rhythmischen Raffinesse und den unerhört neuen harmonischen Zusammenklängen erweist sich Guillaume de Machaut als Avantgardist des 14. Jahrhunderts: "Man kann sich vorstellen, dass die Sänger nach der Erfahrung, Machauts Messe zu singen, nicht die gleichen waren wie vorher", so beschreibt Björn Schmelzer im Einführungstext zu seiner Neueinspielung die Wirkung, die Machauts "Messe de Nostre Dame" auf seine Zeitgenossen gehabt haben muss. Und man möchte ergänzen, dass diejenigen, die heute Schmelzers Interpretation hören, auch andere Klangwelten im Kopf haben als zuvor. Da sind zunächst einmal die unkonventionellen Stimmfärbungen von "Graindelavoix". Sie haben nichts mit dem verhalten-ästhetisierenden Stimmansatz zu tun, der bei den meisten renommierten Vokalensembles heute Standard ist, vor allem dann, wenn sie sich dem geistlichen Repertoire der Renaissance widmen.
    "Graindelavoix" hat da ein anderes, sehr charakteristisches Klangideal. Es entsteht unter anderem dadurch, dass alle Ensemblemitglieder unterschiedliche Erfahrungen und Ausbildungen mitbringen und ganz bewusst auch ihr persönliches, mal raues, mal näselndes Timbre. Hier verschmelzen die Traditionen der nordeuropäischen Gesangskultur mit der volkstümlicheren der Mittelmeerländer, wie sie heute zum Beispiel noch auf Korsika oder Sardinien zu hören ist. Zu Machauts Zeit waren die Grenzen da noch fließend.
    Lateinische Texte mit altfranzösischer Färbung
    Erstaunlicherweise entsteht bei Graindelavoix trotzdem ein charakteristischer Ensembleklang. Zugegeben – er ist im ersten Moment gewöhnungsbedürftig, auch, weil die Sänger die lateinischen Texte mit altfranzösischer Färbung aussprechen. Aber je mehr man sich einhört, desto mehr Reize kann man der Interpretation abgewinnen. Es ist regelrecht spannend zu verfolgen, wie die einzelnen Sänger ihre Partien mit unmittelbarer Natürlichkeit und individueller Emphase gestalten. Das tut nicht nur in den mehrstimmigen Sätzen seine eindringliche Wirkung, sondern auch in den einstimmigen liturgischen Gesängen, die Schmelzer zwischen die Sätze der Messe einstreut.
    Musik 4: Guilaume de Machaut: Alleluya: Post partum virgo Graindelavoix
    Die einstimmigen liturgischen Gesänge mit denen Schmelzer Machauts "Messe de Nostre Dame" ergänzt, stammen unter anderem aus einem Missale aus Reims. Das ist vor allem deshalb so schlüssig, weil Machaut ja selbst zwischen 1337 und seinem Tod 1377 Kanonikus an der Kathedrale in Reims war.
    Wie schon seine früheren Produktionen stellt Schmelzer auch seine Machaut-Aufnahme auf den Boden einer fundierten Quellenkenntnis. Trotzdem scheiden sich wohl auch an dieser CD wieder die Geister. Die offene Stimmfärbung der Sänger von "Graindelavoix", vor allem aber ihr freizügiger Umgang mit improvisierten Verzierungen und Glissandi ist sicher nicht jedermanns Sache. Aber es gibt ja durchaus mittelalterliche Quellen, die beschreiben, dass in den Kirchen laut und vor allem mit großer Inbrunst gesungen wurde. Schmelzers Ansatz ist also eine schlüssige aufführungspraktische Option, die ebenso wenig Anspruch auf historische "Korrektheit" haben kann wie viele konventionellere Ansätze auch. Davon abgesehen ist so etwas wie "historische Authentizität" gar nicht Schmelzers Ziel, wie er in seinem Einführungstext ausdrücklich betont. Sein Ideal ist eine ebenso individuelle wie emotionale Interpretation des 21. Jahrhunderts, die die rund 650 Jahre alte Musik Machauts fremd und gleichzeitig erstaunlich vertraut wirken lässt. Das erreicht Schmelzer mit beeindruckender Suggestivkraft und bietet so eine reizvolle Diskussionsgrundlage dafür, etablierte Aufführungspraktiken der frühen Mehrstimmigkeit neu zu überdenken.
    Hier ist zum Schluss eine weitere Kostprobe: ein Ausschnitt aus der Marien-Motette "Felix virgo mater". Sie ist eine von zwei Machaut-Motetten, die das Programm abrunden.
    Musik 5: Guilaume de Machaut: Felix Virgo mater / Inviolata genitrix / Tribulatio proxima Graindelavoix
    Mit ihrem nächsten Projekt geht Graindelavoix übrigens eine Wechselbeziehung zwischen Kunst, Architektur und Musik ein. Zu der Ausstellung "Göttliche Interieurs" mit Kirchendarstellungen aus der Rubenszeit, die seit dem Wochenende im Museum Mayer van den Bergh in Antwerpen zu sehen ist, haben die belgischen Musiker die passende Musik beigesteuert.
    Guillaume de Machaut: Messe de Nostre Dame
    Graindelavoix
    Leitung: Björn Schmelzer
    Glossa GCD P32110 (Vertrieb Note 1)
    Preis: 17,90 Euro