Freitag, 19. April 2024

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Gulag in Deutschland

Am 14. Januar 1950 - fast auf den Tag genau vor fünfzig Jahren - setzte der Vorsitzende der Sowjetischen Kontrollkommission, Armeegeneral Wassili Iwanowitsch Tschuikow, in Berlin-Karlshorst seine Unterschrift unter ein Schreiben, das an Walter Ulbricht gerichtet war, damals in dessen Eigenschaft als Stellvertreter des DDR-Ministerpräsidenten. Der Kernsatz des Schreibens:

Karl Wilhelm Fricke | 16.01.2000
    "Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass laut Beschluss der Regierung der UdSSR alle Internierungslager, die unter Kontrolle der sowjetischen Behörden in Deutschland standen - Buchenwald, Sachsenhausen und Bautzen -, liquidiert werden."

    Ulbricht reagierte auf Tschuikows Brief mit der Versicherung, die "vorgeschlagenen Maßnahmen" fänden "die volle Zustimmung der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik", wobei er übersah, dass die Maßnahmen gar nicht vorgeschlagen, sondern eben beschlossen worden waren und der Zustimmung der Regierung um so weniger bedurften, als in der DDR damals die sowjetische Besatzungsmacht ohnehin das Sagen hatte. Hans Warnke, Staatssekretär im DDR-Innenministerium, war da realistischer. Auf einer Pressekonferenz nahm er wie folgt Stellung zu Tschuikows Mitteilung:

    Hans Warnke: "Danach werden auf Beschluss der Regierung der UdSSR aus den drei vorhandenen Lagern Sachsenhausen, Buchenwald und Bautzen insgesamt 15 038 Personen entlassen, von denen 5 504 von sowjetischen Gerichten verurteilt sind. 10 513 Personen, die von sowjetischen Gerichten verurteilt sind, werden zur Verbüßung ihrer Strafe an die deutschen Organe übergeben. Des Weiteren werden 3 432 Personen übernommen, gegen die von den deutschen Organen eine Untersuchung eingeleitet wird zur Feststellung begangener Verbrechen. Stellen die Untersuchungsorgane eine Schuld fest, so wird über diese von deutschen Gerichten geurteilt. Wir haben diesen Beschluss der Regierung der UdSSR mit Befriedigung aufgenommen. Der Beschluss spricht noch einmal aus, dass die große Sowjetunion zur deutschen demokratischen Regierung das Vertrauen besitzt, dass sie aus eigener Kraft in der Lage ist, den deutschen demokratischen Staat zu sichern und weiter zu festigen."

    Mit der Auflösung der Internierungslager - die Bevölkerung nannte sie damals übrigens durchweg "Konzentrationslager", während sie vom NKWD intern als "Speziallager" bezeichnet wurden - mit ihrer Auflösung also endete ein düsteres Kapitel politischer Verfolgung auf dem Territorium der DDR - wenn auch nicht das letzte. Seine Anfänge reichten zurück bis in die Schlussphase des Zweiten Weltkrieges. Die ersten, meist provisorischen Lager entstanden 1945 im Fronthinterland der aus Polen ins Deutsche Reich vorrückenden Kampftruppen der Roten Armee. Grundlage war ein als streng geheim klassifizierter Befehl Lawrenti Pawlowitsch Berijas vom 11. Januar 1945.

    "Befehl des Volkskommissars für Inneres Nr. 0016 'Über Maßnahmen zur Säuberung des Hinterlandes der Roten Armee von feindlichen Elementen’"

    Dieser Befehl wurde in der Folgezeit mehrfach ergänzt, geändert und präzisiert - entscheidend war eine am 18. April 1945 erlassene Order:

    "Befehl des Volkskommissars für Inners Nr. 00315 'Zur teilweisen Abänderung des Befehls des NKWD der UdSSR Nr. 0016 vom 11. Januar 1945"

    In diesem ebenfalls von Berija unterzeichneten Befehl wurde unter Punkt 1 fest-gelegt:

    "Von den Frontbevollmächtigten des NKWD der UdSSR sind künftig beim Vorrücken der Truppen der Roten Armee auf das vom Feind befreite Territorium bei der Durchführung tschekistischer Maßnahmen zur Säuberung des Hinterlandes der kämpfenden Truppen der Roten Armee von feindlichen Elementen zu verhaften: a) Spione, Diversanten und Terroristen der deutschen Geheimdienste; b) Angehörige aller Organisationen und Gruppen, die von der deutschen Führung und den Geheimdienstes des Gegners zur Zersetzungsarbeit im Hinterland der Roten Armee zurückgelassen wurden; c) Betreiber illegaler Funkstationen, Waffenlager und illegaler Druckereien (...); d) aktive Mitglieder der nationalsozialistischen Partei; e) Führer der faschistischen Jugendorganisationen auf Gebiets-, Stadt- und Kreisebene; f) Mitarbeiter von Gestapo, 'SD’ und sonstigen deutschen Straforganen; g) Leiter von Gebiets-, Stadt- und Kreisverwaltungen sowie Zeitungs- und Zeitschriftenredakteure und Autoren antisowjetischer Veröffentlichungen."

    Unter Punkt 6 sah der NKWD-Befehl vor:

    "Um die Verhafteten an Ort und Stelle unterzubringen, haben die Frontbevollmächtigten des NKWD der UdSSR die nötige Anzahl von Gefängnissen und Lagern einzurichten."

    Auf diesen Befehlen Berijas basierte im wesentlichen der Aufbau des Gefängnis- und Lagersystems zunächst im Wartheland, in Ost- und Westpreußen sowie in Oberschlesien, danach in der Mittelmark und in Ostsachsen, schließlich in Mecklenburg, im Raum Berlin, in Westsachsen und in Thüringen. Frühzeitig, meist schon 1946, wurden die Lager jenseits von Oder und Neiße vom NKWD aufgegeben. Dagegen hatte sich bis Herbst 1945 das System der NKWD-Speziallager in der SBZ - der sowjetischen Besatzungszone - konsolidiert. Konkret existierten zu diesem Zeitpunkt die Lager Bautzen, Berlin-Hohenschönhausen, Buchenwald bei Weimar, Frankfurt/Oder, Fünfeichen bei Neubrandenburg, Jamlitz bei Lieberose, Ketschendorf bei Fürstenwalde, Mühlberg an der Elbe, Sachsenhausen bei Oranienburg und Torgau/Fort Zinna sowie Werneuchen/Weesow. Die meisten dieser Lager unterhielt das NKWD - seit 1946 in MWD umbenannt - bis zum Sommer 1948, bis zu einer ersten Entlassungsaktion, von der insgesamt rund 28 000 Internierte erfasst wurden. Über diesen Zeitpunkt hinaus hielt die sowjetische Geheimpolizei in Deutschland lediglich noch die Speziallager Bautzen, Buchenwald und Sachsenhausen für erforderlich - Bautzen und Sachsenhausen übrigens zunehmend als Gewahrsame für Tausende politisch Verurteilte sowjetischer Militärtribunale. Wie leicht es in der ersten Nachkriegszeit geschehen konnte, als "feindliches Element" im Sinne des Berija-Befehls verdächtigt und Opfer einer Verhaftung zu werden, haben viele Zehntausende Menschen in den von der Roten Armee eroberten Gebieten zu spüren bekommen. Einer von ihnen war der 1987 verstorbene Journalist John Brech. Er berichtete 1980 in einer Deutschlandfunk-Dokumentation:

    John Brech: "Am 19. Mai 1945 wurde ich in Berlin-Wannsee von einem Zivilisten, der sich als Offizier des sowjetischen Überwachungsdienstes ausgab, zu einer Unterhaltung gebeten, die sich während der Fahrt auf einem Lastwagen als Verhaftung erwies. Auf der sowjetischen Dienststelle wurde ein kurzes Protokoll aufgenommen über meine Tätigkeit in den letzten Jahren. Und diese freundliche Einvernahme diente dann als Unterlage für meine Überführung ins Konzentrationslager Sachsenhausen. So einfach war das damals im Mai 1945. Meine Frau bekam über diesen Vorgang keinerlei Nachricht. Erst auf illegale Weise, durch einen Schmuggelbrief, konnte ich sie ein paar Wochen später über meinen Verbleib unterrichten. Das Protokoll, das ich unterschrieben hatte, war in kyrillischer Schrift verfasst. Es enthielt nach der Übersetzung keine Anklage, sondern lediglich wenige Sätze über meine letzte Tätigkeit als Journalist im Fachbereich Wirtschaft. Warum ich verhaftet wurde, das blieb unerwähnt. Später erfuhr ich von einem wohlwollenden sowjetischen Funktionär, dass ich als aktiver und mit Namen bekannter Journalist das Hitler-Regime unterstützt hätte und dadurch als potenziell gefährlicher Deutscher interniert worden wäre. Die Internierung dauerte von Mai 1945 bis Februar 1950."

    Während ein Großteil der Internierten gleich im Frühjahr und Sommer '45 festgenommen wurde, häufig aufgrund von Denunziationen durch Mitglieder der KPD, löste der Ende August '45 erlassene Befehl Nr. 42 der Sowjetischen Militäradministration eine neue Verhaftungswelle aus. Durch ihn wurde bestimmt, dass sich alle ehemaligen Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen sowie alle ehemaligen Offiziere bei den Stadt- und Kreiskommandanturen der Roten Armee registrieren zu lassen hatten. Meist wurden sie dabei sofort festgenommen. Die Verhaftungen erstreckten sich zudem bis hinein in das Jahr 1946 - wie im Fall Werner Sauerzweig, ehemals Kriegsfreiwilliger der Waffen-SS, festgenommen am 23. März 1946 in Staßfurt, Alter 21 Jahre.

    Werner Sauerzweig: "Durch das Militärgefängnis in Staßfurt kam ich nach drei Wochen in das GPU-Kreisgefängnis Calbe an der Saale und von dort in das russische Militärgefängnis nach Magdeburg. Die einzige Vernehmung, die ich hatte, geschah in Staßfurt um Mitternacht, wo ich aus der Zelle geholt wurde und wo mir dann vorgehalten wurde, was ich alles verbrochen haben sollte. Es hatte überhaupt keinen Zweck zu reden. Der russische Kommissar schrieb jede Frage in russisch auf, meine Antwort ebenfalls. Eine Dolmetscherin übersetzte jeweils meine Antworten. Ich hatte das Gefühl, hier kannst du reden, was du willst, die glauben dir doch nichts. Nach etwa zwei Stunden war die Vernehmung beendet, gegen früh am Morgen ging ich in die Zelle zurück, und damit war für mich die erste Vernehmung durch die GPU erledigt. Es sollte keine weitere folgen. Über das russische Militärgefängnis Magdeburg kam ich dann in das Zuchthaus nach Halle und von dort schließlich 1947 in das KZ Buchenwald."

    Solche Erfahrungen, das belegen Erlebnisberichte ehemaliger Internierter, waren durchaus typisch. Indes durften Historiker im Staat der SED die Geschichte der Speziallager nie erforschen. Erstmals wurden offiziell konkrete Angaben dazu 1990 in einer sowjetischen Denkschrift niedergelegt. Neben einer Übersicht über die Lager enthielt sie folgende Zahlen:

    "Sowjetische Archivdokumente belegen, dass in den genannten Lagern in der Zeit ihres Bestehens von 1945 bis 1950 122.671 Deutsche einsaßen, von denen 45.262 wieder auf freien Fuß gesetzt wurden. 14.202 Häftlinge wurden dem MdI der DDR übergeben. 12.770 Personen wurden in die UdSSR gebracht. 6.680 Personen wurden in Kriegsgefangenenlager überführt. 212 Häftlinge flüchteten. In der gesamten Zeit verstarben nach vorhandenen Angaben 42.889 Personen infolge von Krankheit, vor allem in den Jahren 1945 - 1947. Durch das Militärgericht wurden 756 Personen zum Tode verurteilt."

    Wahrscheinlich lagen die Zahlen nicht unerheblich höher. Wie schon zuvor reklamierte das Moskauer Innenministerium auch 1990 zur Rechtfertigung der Internierungslager die im Oktober 1946 erlassene Direktive Nr. 38 des Alliierten Kontrollrats betreffend die Bestrafung von Kriegsverbrechern und Nationalsozialisten sowie die Internierung "von möglicherweise gefährlichen Deutschen". Sie darf folglich im historischen Zusammenhang nicht ignoriert werden. Aber sie wurde anderthalb Jahre nach Berijas Befehlen erlassen, sie war für die Errichtung des NKWD-Lagersystems in Deutschland nicht konstitutiv. Ehemaligen Funktionsträgern und nominellen Mitgliedern der NSDAP sowie unter sogenanntem Werwolf-Verdacht stehenden Hitler-Jungen, aus all denen sich im wesentlichen das erste Häftlingskontingent rekrutierte, folgten bald auch politisch Verurteilte sowjetischer Militärtribunale - jedenfalls in Bautzen und Sachsenhausen -, die keine ehemaligen Nationalsozialisten waren, sondern "Klassenfeinde", widerständige Sozialdemokraten und bürgerliche Oppositionelle. Selbst Staatssekretär Warnke musste das in seiner Pressekonferenz einräumen, wenn auch verklausuliert:

    Hans Warnke: "Verhaftet worden sind solche Leute, die nazistisch tätig waren, zumindest im Sinne des Nationalsozialismus gearbeitet haben. Die sind interniert zu dem Zwecke, damit wir hier möglichst mit wenig Störungen unsere demokratischen Ordnung aufbauen. Was später verhaftet worden ist ... beziehungsweise kann es auch morgen sein... Wir werden solche Leute verhaften. die ob als Spion, ob als Saboteur gegen unsere Ordnung arbeiten."

    Während die früheren SS-Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald nach ihrer Nutzung als MWD-Speziallager in der DDR später zu Gedenkstätten ausgebaut wurden, diente das Zuchthaus Bautzen, in dessen Glacis sich die Baracken des Speziallagers befanden, fortan als Strafvollzugsanstalt. Die meisten der über zehntausend Verurteilten, die 1950 nicht zur Entlassung kamen, sondern der Volkspolizei übergeben wurden, blieben noch jahrelang in Bautzen hinter Gittern. Die rund 3 400 Internierten, die ebenfalls in deutsche Hände übergeben wurden, sind 1950 in den Waldheimer Prozessen unter Missachtung elementarer Rechtsgrundsätze zu hohen Zuchthaustrafen, 32 zum Tode verurteilt worden. Seitdem sich die Archive in der ehemaligen DDR und zum Teil auch in der ehemaligen UdSSR geöffnet haben, konnte sich die Forschung der Geschichte der sowjetischen Speziallager erstmals anhand offizieller Akten zuwenden.

    Der Bonner Historiker Jan Lipinsky ist Autor mehrerer wissenschaftlicher Arbeiten über die sowjetischen Speziallager. In dem folgenden Interview fragte ich ihn einleitend nach der Funktion der sowjetischen Lager in Deutschland.

    Jan Lipinsky: Die Speziallager in der SBZ/DDR standen unter der direkten Befehlsgewalt Berijas, des Moskauer Innenministers. Stalin wurde über Einrichtung und Betrieb der Lager laufend unterrichtet. Sie dienten nicht der Bestrafung nationalsozialistischer deutscher Schuld. Selbst die Moskauer Führung sah keinen Zusammenhang zwischen Lagerhaft und Entnazifizierung. Die Lager waren meiner Ansicht nach von Anfang bis Ende ein notwendiges terroristisch-repressives Mittel zur Begründung und Sicherung kommunistischer Herrschaft. Sie dienten zur Säuberung der deutschen Gesellschaft von sogenannten feindlichen Elementen, von ehemaligen und gegenwärtigen Gegnern des Sowjetsystems sowie zugleich zur Beschaffung von Arbeitskräften. Die totalitäre Besatzungsmacht schuf sich mit den Lagern und damit mit der realen Drohung mit Willkür, Unrecht und Tod das ihr genehme Klima von Einschüchterung, Angst, Verunsicherung, Opportunismus und Resignation. Davon zeugen zuhauf willkürliche Verhaftungen, Verschleppungen in offiziell nicht genannte Lager, langjähriges Fest- halten dort ohne Gerichtsverfahren und ohne Benachrichtigung der Angehörigen wie die Verheimlichung selbst der Todesfälle.

    Würden Sie mir zustimmen, dass man gleichwohl die Speziallager nicht aus ihrem historischen Kontext - der Entnazifizierung - herauslösen kann?

    Jan Lipinsky: Richtig ist, dass die Sowjets unter dem gesamtalliierten Mäntelchen ihre Besatzungspolitik in Deutschland fort- und umgesetzt haben, sie selbst aber den Lagern keine entnazifizierende Wirkung zumaßen. Im Laufe der fünf Jahre nach Kriegsende differenzierte sich das durch Moskauer Vorgaben und durch gezielte Verlegungen... differenzierte sich die Lagergesellschaft immer stärker. Und zwar in das nicht verurteilte sogenannte Spezialkontingent und in die sogenannten Verurteilten, die von sowjetischen Militärtribunalen zu vieljährigen Haftstrafen abgeurteilt waren. Grundsätzlich stammten alle diese Lagerinsassen aus allen sozialen Schichten und Altersgruppen. Sie gehören zunehmend bürgerlichen Parteien an. Mit über 90 Prozent überwogen in den Speziallagern Deutsche. Unter den Ausländern dominierten Russen, unter anderen Angehörige der Wlassow-Armee, verschleppte Ostarbeiter oder sogenannte weiße Emigranten. Von der Lagerpopulation waren 6 bis 10 Prozent Frauen. Die Männer, der überwiegende Teil also, waren zu etwa 45 Prozent älter als 45 Jahre. Die Männer zählten überwiegend zu den Arbeitern und Angestellten.

    Die Speziallager waren Bestandteil des sowjetischen GULag-Systems. Gab es Gemeinsamkeiten, gab es Unterschiede in den Lebensbedingungen der Häftlinge?

    Jan Lipinsky: Die Gemeinsamkeiten der Lager mit dem GULag-System sind offensichtlich der lebensbedrohliche, ja, lebensvernichtende Mangel an Verpflegung, an Hygiene und an Gesundheitsfürsorge, die alltäglichen und allgegenwärtigen Schikanen, bewusst hingenommenes Massensterben und die strenge Durchsetzung der Total-Isolation von der Außenwelt, sowie häufige Verlegung und Deportation. Doch es gab auch einen, so meine ich, maßgeblichen Unterschied zum GULag. Er bestand in dem bis 1949 fast durchweg in den Lagern auf deutschem Boden geltenden Arbeitsverbot, in dem von oben verordneten Zwang zum lebenszerstörenden Nichtstun.

    Lassen sich allgemeingültige Aussagen über das sogenannte Lagerregime machen - Sie haben es ja eben schon in etwa umrissen?

    Jan Lipinsky: Entscheidend ist, dass alle Lager von Moskau aus zentral geführt und überwacht wurden. Für alle galt somit die gleiche Lagerordnung. Die obersten Ziele waren totale Isolation der Insassen und jegliche Verhinderung von Fluchten. Dem sowjetischen Wachpersonal war bedingungslos zu gehorchen. Eine deutsche Lagerverwaltung fungierte oftmals als kameradenschindender Handlager. Den Alltag in den Lagern prägten langwierige Zählappelle je morgens und abends, dreimalige unzureichende Mahlzeiten, die überwiegend aus klitschigem Brot und Wassersuppen bestanden, sowie Filzungen, allseits drohende Bunkerstrafen, allgegenwärtiges Ungeziefer, Krankheiten und das qualvolle Dahinsiechen. In allen Lagern starb jeder dritte Lagerinsasse an körperlicher und geistiger Auszehrung vor den Augen der laufend informierten Moskauer Führung. Selbst über Tatsache, Zeitpunkt und Ort des Todes erhielten die Angehörigen keinerlei offizielle Nachricht.