Von Wolf Biermann stammt die Liedzeile "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu". Dieses Lebensmotto ernst genommen hat der Philosoph und DDR-Regimekritiker Rudolf Bahro. Er ist zeit seines Lebens ein "Wanderer zwischen den Welten" geblieben, immer auf der Suche nach Nischen und alternativen Lebensformen in einer als feindlich empfundenen Umwelt: Vom idealistischen Kommunisten zum Kritiker des Kommunismus, vom DDR-Dissidenten zum grünen Parteifunktionär, vom nationalen Träumer zum Künder einer die Menschheit verschlingenden Apokalypse. Nie fühlte er sich ganz zu Hause, weder im "real existierenden Sozialismus" noch in der als "soziale Marktwirtschaft" verbrämten Bundesrepublik. Ost und West hatten für ihn mehr Gemeinsames als Trennendes: beide hatten sich für ihn – trotz aller Unterschiede – einer Idee verschrieben, der Idee des Fortschritts auf Kosten der Natur und des Menschen.
Fünf Jahre nach Bahros Krebstod beschreiben der Berliner Philosoph Guntolf Herzberg und der Züricher Publizist Kurt Seifert in einer umfangreichen Biographie Bahros "weiten Weg vom gläubigen Leninisten zum spirituellen Kritiker der Moderne". Die beiden Biographen sind Bahro über fachliches Interesse hinaus auch persönlich verbunden: Herzberg gehörte 1976/77 zu Bahros Helfern beim Fertigstellen des Buchs "Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus". Seit der Wende erforscht er die Vorgänge um Rudolf Bahros Verfolgung in der DDR und publizierte schon mehrfach dazu. Kurt Seifert lernte den Philosophen zu Beginn der 80er-Jahre im Westen kennen, führte einige lange Interviews mit ihm. Gestützt auf Selbstzeugnisse Bahros, auf Archivdokumente, vor allem Stasi-Unterlagen, und Zeitzeugenberichte erzählen die Autoren das Leben des in Ost und West immer unbequem gebliebenen Denkers.
Geboren 1935 im niederschlesischen Bad Flinsberg und geprägt durch den als Kind traumatisch erlebten Verlust von Familie und Heimat, studierte Bahro von 1954 – dem Jahre seines Eintritts in die SED – bis 1959 Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin. Im Krisenjahr 1956 protestierte er mit einem mutigen Wandzeitungsblatt dagegen, "dass man sich bei uns derart krampfhaft, noch dazu mit undemokratischen Methoden, gegen die polnischen und ungarischen Winde sperrt". Mitte der 60er-Jahre setzte bei ihm das große Nachdenken über die Fehler der politischen Entwicklung in der DDR ein, unbedarft teilte er seine Kritik in einem persönlichen Brief Walter Ulbricht mit. Als die sowjetische Führung den Prager Frühling in der Tschechoslowakei 1968 mit Panzern niederwalzte, entschuldigte sich Rudolf Bahro bei der Prager Botschaft für das Verhalten auch der eigenen Genossen. Bereits ein Jahr zuvor war er unliebsam aufgefallen. Damals, als stellvertretender Chefredakteur bei der FDJ-Studentenzeitschrift "Forum"; nutzte er den Urlaub seines Chefs; um Volker Brauns Stück "Kipper Paul Bauch" abzudrucken. Das Stück sollte nach dem Willen der Politbürokratie aber keinesfalls diskutiert werden. Bahro wurde infolge dieses Tabubruchs abgesetzt und in die Produktion geschickt. Dort schrieb er an seiner Dissertation über den Einsatz von Hochschulkadern in sozialistischen Betrieben. Auf Druck des Ministeriums für Staatssicherheit wurde die Arbeit allerdings mit der Begründung abgelehnt, sie genüge nicht den wissenschaftlichen Anforderungen:
Bereits damals arbeitete Rudolf Bahro parallel am Manuskript seiner fundamentalen Kritik des "real existierenden Sozialismus". Über seine Motivation sagte er:
Jedenfalls wollte ich ihnen nun meine Antwort liefern, gegen die sie ideell so ohnmächtig sein sollten, wie wir es waren gegen ihre Panzer.
Bahro wollte dabei keinesfalls die Restauration kapitalistischer Verhältnisse, sein Ansatz war die Theorie des Dritten Weges :
Ich war und bin entschieden für das nichtkapitalistische Fundament der DDR, die ich keineswegs allein oder hauptsächlich durch die Brille meiner augenblicklichen Situation betrachte. Ich denke beispielsweise auch nicht in Kategorien der Feindschaft zur Sowjetunion. Was ich bezwecke, ist Auseinandersetzung auf dem Boden dieses Fundaments, das einen gründlich erneuerten politischen und vor allem ideellen Überbau braucht. Es braucht ihn auch deshalb, weil eine solche Einrichtung; wie 1968 in Prag beabsichtigt; drüben die antikapitalistische Transformation erleichtern würde.
Als im August 1977 ein Vorabdruck aus "Die Alternative" im Spiegel erschien und Bahro in Interviews gleich mehrfach sein vernichtendes Urteil über die herrschenden Politbürokraten via Westfernsehen verbreiten konnte, wurde er vom MfS wegen des Verdachts "nachrichtendienstlicher Tätigkeit" verhaftet und im Juni 1978 vom Berliner Stadtgericht zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Die Stasi war allerdings über jeden Schritt beim Verfassen der "Alternative", beim Verfertigen und Versenden der illegalen DDR-Ausgabe, bei der Vorbereitung des Drucks und der Medienbegleitung im Westen genauestens informiert. Viel ist seither gerätselt worden, warum das MfS das Buch nicht verhinderte und Bahro erst im August 1977, zwei Tage nach der Aufsehen erregenden Publikation; verhaftet wurde. Wollte man sich keine zweite Biermann-Affäre leisten?
In den Kapiteln über die Prozessfarce, über die Haft im berüchtigten Stasi-Knast Bautzen II und schließlich in der Schilderung des spektakulären Abschiebens in den Westen kommt auch ausführlich die Rolle von Bahros Verteidiger Gregor Gysi zur Sprache. Nach Aktenkenntnis wird dem Anwalt bescheinigt, alles getan zu haben, was im Interesse des Mandanten möglich war; auch Notizen über Gespräche mit einem Stasi-Offizier, die Gysi bestreitet, geführt zu haben, besagten da nichts Anderes. Allein schon die ausführliche Darstellung des Prozesses, den Bahro in der DDR über sich ergehen lassen muss, würde die Lektüre der Biografie lohnen. Im Mittelabschnitt des Buches über Bahros Wirken in der alten Bundesrepublik bis zur 89er Wende geht es vor allem um Bahros geistig-politische Konzepte nach seinem Eintritt bei den Grünen, die ja in ihrer Anfangszeit auch unbequemen Denkern eine Heimat boten. Bahro trat in dieser Zeit für die Blockfreiheit der beiden deutschen Staaten ein und propagierte darüber hinaus sein Konzept eines "Öko-Sozialismus". Gegen Realpolitiker wie Joschka Fischer konnte er sich damit aber nicht durchsetzen, und konsequenterweise verließ er die Grünen 1985.
Die Biografie erörtert auch Bahros zweites, weit weniger als die "Alternative" beachtetes Hauptwerk "Logik der Rettung", in dem er seine schwer fassbare idealistische Utopie eines ökologischen "Gottesstaats" entwickelte:
Wenn wir das Abenteuer der menschlichen Existenz nicht vorzeitig beenden, Raum und Zeit für ihren eigentlichen Sinn bewahren wollen, dürfen wir auf dieser endlichen Erde nicht länger einen schrankenlos expansiven Lebensstil pflegen. Letztendlich ging es um eine Lebensform, die von allen Menschen der Welt verträglich, kulturell autonom, friedlich nach innen und außen praktiziert werden könnte.
1983 besuchte Bahro ein Seminar der Baghwan–Sekte in den USA. und setzte sich damit dem später oft erhobenen Vorwurf aus, fremd gesteuert zu sein. Praktisches Erproben seiner theoretischen Konzepte suchte er in einer alternativen Gemeinschaft, die er 1987 in Niederstadtfeld begründet. Dort ereilte ihn auch die Nachricht vom Sturz des SED-Regimes und dem Fall der Mauer.
Damit beginnt der dritte und letzte Teil des Buches. Er beschreibt das tragische Desaster von Bahros Rede auf dem außerordentlichen Parteitag der SED/PDS, in der er, inmitten des Zusammenbruchs der DDR und der allgemeinen Gier auf die westliche Konsumwelt, die ökologische Wende empfiehlt. Am Ende des Weges zu einem modernen-kritischen "spirituellen Kommunismus" stehen Bahros, anfangs massenhaft und zuletzt nur noch im engeren Zirkel besuchten, Vorlesungen in dem eigens für ihn an der Humboldt-Universität etablierten "Institut für Sozialökologie". Nicht wenige sahen darin zum Schluss vor allem die Selbstinszenierung dieses zeitlebens von sich und seiner Sendungskraft zutiefst überzeugten Menschen.
Die Biographie spart Nahsichten auf die privaten Seiten im Leben Rudolf Bahros nicht aus, die ohnehin von seinem Philosophendasein kaum abzutrennen sind. Sehr offen wird darüber geschrieben, wie Naivität und Selbstüberhebung in seinem Wesen nicht zuletzt auch seine privaten Beziehungen belasteten. Die über 650 Seiten, inklusive Nachworte, Anmerkungen und umfangreicher Literaturliste sind eine spannende Lektüre auch für den, der Bahros Konzepte nicht überzeugend findet. Die entscheidende Frage dabei ist, ob man Bahros Problembewusstsein und seinen Lösungsansatz für relevant hält oder nur für eine weitere Spinnerei eines abgehobenen Intellektuellen.
Die Urteile über Bahro sind demzufolge konträr, ja fast antagonistisch: Für das SED-Regime war er der verräterische Konterrevolutionär, für oppositionelle Geister der DDR der mutige theoretische Systemüberwinder. Auch in der westlichen Welt steht Respekt gegen Ablehnung und Hohn: Während die Einen ihn für einen kühnen Theoretiker halten, sehen andere in ihm den missionarischen Eiferer und pessimistischen Künder der Apokalypse. Rudolf Bahro, einer der eigenwilligsten Denker im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, unbestechlicher Kritiker des realen Sozialismus wie des kapitalistischen Wachstumswahns, bleibt umstritten. Seine Biographie ist eine wichtige Ergänzung, um den Menschen und damit den Philosophen Bahro besser verstehen und bewerten zu können. Dafür sei den Autoren und dem Verlag gedankt.
Wolf Dietrich Fruck über Guntolf Herzberg und Kurt Seifert: Rudolf Bahro - Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie. Christoph Links Verlag Berlin, 480 Seiten, Euro 24,90.