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Gustav und Alma Mahlers Ehekrieg

"Purgatorio", auf Deutsch "Fegefeuer" - so hat der Hamburger Ballettchef John Neumeier sein neues Stück genannt. Es geht darin um die Ehe des österreichischen Komponisten Gustav Mahler und seiner Frau Alma. Und Neumeier findet, dass dieser Titel eines Sinfonie-Satzes von Mahler auch dessen Ehe treffend beschreibt.

Von Andreas Berger |
    Es muss ein heißer Sommer gewesen sein im Jahre 1910. Gereizte Nerven, chromatisch überspannte Akkorde, eine Künstler-Ehe vor dem Zusammenbruch. Alma Mahler hat das Komponieren aufgeben müssen. Nur Eheweib, nicht Kollege könne sie ihm sein, das fordert Gustav Mahler vor der Heirat. Und nun taucht da dieser junge gut aussehende Architekt Walter Gropius auf, verdreht Alma den Kopf und stürzt Mahler in eine Schaffenskrise.

    Die in wenigen Wochen skizzierte zehnte Sinfonie bleibt Fragment. Einen Satz überschreibt er "Purgatorio" – Feuer der Läuterung. John Neumeier hat so nun auch sein neuestes Mahler-Ballett übertitelt, gewidmet jenem Schmerzenswerk und den Beziehungsturbulenzen kurz vor Mahlers Tod. Er will dabei ausdrücklich auch Alma gerecht werden und schickt der ohnehin langen Sinfonie noch eine Stunde mit ihren Liedern voraus. Die schwelgen mal wagnerisch, dann operettig und bilden auf diese Weise den Untergrund für eine typische Kolportage.

    Noch streng eingehakt unter Mahlers Arm strebt Hélène Bouchet als Alma in die Gegenrichtung. Und zwar nicht mehr dem Komponieren zu, sondern einem Traum in Weiß und Barfuß: Thiago Bordin als Gropius liegt schon bald als nackte Versuchung auf dem Rasenstück. Bis sie endlich auch im Nachthemd wie Senta auf dem Schiffsbug erscheint und sich in seine Arme und das Meer der Leidenschaft stürzt. Rollend, kreiselnd, ausgelassen. Dann Arbeitslicht: Mahler ertappt die beiden Liebenden. Die Noten fallen ihm aus der Hand.

    Das ist so unnötig aufwendig und doch konventionell erzählt wie Almas Lieder. Genial wird Neumeier erst wieder, wenn er im zweiten Teil Mahlers schmerzliches Genie aufspürt. Was bei Alma süßlich ausgesungen wird, sind bei Mahler nur noch melancholische Zitate eines alten Traums von Glück, hin und wieder aufscheinende Motivfetzen, harmonisch zerborsten, rhythmisch zerstückt. Das private Purgatorio entspricht den insgesamt gebrochenen Weltverhältnissen. Und so lässt Neumeier, der schon sieben andere Mahler-Sinfonien in Tanz versetzt hat, hier immer wieder die Bühne von neuen Gruppierungen entern, die sich ablösen, verschränken, wiederkehren und verwickeln.

    Zentralfigur ist nun der charismatische Lloyd Riggins als Gustav Mahler. Der ist ausgefaltet in vier springende und sich überschlagende Jungs in Slip und Frackrock. Überhöht in den weicheren Linien des "Creator Spiritus", also seines schöpferischen Geistes, den Alexandre Riabko mit Drehungen und Armgirlanden als endlose Melodie durchs Geschehen zieht. In Joelle Boulogne und Carsten Jung verkörpert sich das Adagio als klassisches Tänzerpaar. Wie Stimmen einer Partitur treten Paare auf und ab, es walzern Wiener Schatten im schwarzen Gesellschaftshabit durchs Bild und Tänzer in Trainingskleidung als "Neue Wege".

    Dazwischen werden private Schlüsselsituationen sichtbar. Mahlers hochgespannter Pas de deux mit Alma, der sie in seinen Armen beengt und dann selbst strauchelt. Dann sein Ringen und Händedruck mit Gropius – Mahler selbst hatte eine Aussprache herbeigeführt. Neumeiers Männer-Pas-de-deux suggeriert zugleich Faszination wie Erschrecken vor dem konkurrierenden Männlichen. Spannend auch die Verschränkung von Werk und Biografie. Als Alma und Gropius sich umarmen, lösen sie eine Werkkrise aus und bringen Mahlers Geschöpfe zum Zerfließen.

    Andererseits findet Mahler, wenn er von seinen Figuren aufgesogen oder von der Welt überrannt wird, Trost in den Armen des Schöpfergeists. Im Finale setzt die Verklärung ein. Das Ewig-Weibliche in Gestalt der Mutter bereitet Mahler auf den Tod vor. Anna Polikarpova verkörpert sie mit in sich ruhenden Bewegungen. Das Fegefeuer ist ausgestanden, das Werk gibt auch als Fragment Zeugnis davon. Alma naht sich Mahler mit der Teetasse, rührend langsam legen sie die Arme um einander. Sein Kopf liegt tot in ihrem Schoß.

    Mit diesem zweiten Teil ist Neumeier eine packende Künstler-Collage im Stile seines Nijinsky-Balletts gelungen, den ersten hätte es nicht gebraucht. Almas Lieder mögen schön sein für den Salon, und Charlotte Margiono singt sie mit schön fülligem, in der Höhe aber nicht immer frei leuchtendem Sopran. Doch sie haben keine Chance gegen Mahlers tiefschürfend komplexe und welthaltige Sinfonik, die Generalmusikdirektorin Simone Young mit den Hamburger Philharmonikern mit großem Atem und dynamischer Vielfalt ausbreitet. Starker Applaus und Bravos.