Neumeister, 1959 in Starnberg bei München geboren, hat 1972 ebenfalls einen Philips-Kassettenrekorder geschenkt bekommen. Damit hat er, wie wir erfahren, die Hitparade auf Bayern 3 aufgenommen. Später die mehr "progressive" Musiksendung "Club 16". Dann begann er, mit seinen Freunden Kassetten zu tauschen. In dem Philips-Gerät lag offenbar ein Durchbruch, dessen Tragweite damals niemand vorhergesehen hat. Jetzt, in seinem vierten Buch, erzählt uns der Autor von diesen und anderen, meist auf München und die Region Starnberg bezogenen Initationserlebnissen - von den Olympischen Spielen 1972, von Uschi Obermaier und der Amon-Düül-II-Kommune in Herrsching und von den Gerüchten und Mythen darum, von dem legendären Sommer, an dem das Disko-Fieber ausbrach und von dem ersten gewollten "Kratzer der Popgeschichte" - nämlich dem auf der zweiten Veröffentlichung einer Gruppe namens "Neu!" Das war, schreibt Neumeister, der Beginn der Neuzeit: 1973.
Warum? Es war der Beginn der Neuzeit, weil heute, fast dreißig Jahre später, die alten Vinylplatten mit ihren Kratzern willkommenes Sample-Material für neue digitale Projekte sind. Die im Moment herrschende Musik der späten 90er greift die Musik der frühen 70er ja wieder auf und verarbeitet sie zu einem elektrisierten Soundtrack, auf dem die Jahrtausendwende und die mit ihr einhergehenden "Nullerjahre" gewissermaßen schon mal hörbar werden, die ersten Jahre der anstehenden, neuen Zeit. Einfach deshalb, weil zwischen der Nachkriegsgeneration und der Nach-Nachkriegsgeneration Zeit verstrichen und die junge und jüngste Vergangenheit plötzlich zum Material geworden ist, zu etwas, das einfach vorliegt.
Mit der kommenden neuen Zeit wird aber zugleich auch die Tradition neu erfunden, die Vergangenheit. Giorgio Moroders Plastikmusik, die zu Beginn der 70er von München aus die Welt eroberte und mit Donna Summer, Boney M und Silver Convention das globale Disko-Fieber auslöste, wurde damals von der intellektuellen Jugend als kommerziell abgelehnt. Statt Donna Summer oder Bee Gees hörte man lieber Velvet Underground, Mothers of Invention oder Captain Beefheart. Aber dann eben, nahezu schlagartig, Disko. Ein Paradigmenwechsel innerhalb der Jugendkultur. Eine Reaktion auf die Krise des Protests.
Jedenfalls fühlten sich die frühen 70er in den frühen 70ern selbst nicht so - und nicht so eindeutig diskogläubig - an, wie es uns Neumeister in "Gut laut" erzählt; aber von heute aus betrachtet, waren die 70er tatsächlich so, wie der Autor sie uns vorführt: Sie waren die trotzige Vorwegnahme des Endes des zu Ende gehenden Katastrophenjahrhunderts. Das weiß man aber erst heute. Derzeitige Kult-Techno-Label wie Source in Heidelberg wären nämlich undenkbar, hätte es in den frühen 70ern nicht Kraftwerk oder eben den Moroder-Klon Donna Summer gegeben.
"Wir sind die längste Zeit ein Haushalt ohne Plattenspieler gewesen. Wir sind die längste Zeit ein Haushalt mit einem, später zwei Radios gewesen. Erst Zweiundsiebzig ist das erste Tonaufzeichnungsgerät ins Haus gekommen. Erst, als das erste Roxy-Album rauskam, habe ich einen Philips-Kassettenrekorder mit einer leeren Philips-Kassette bekommen. Raoul, Roxy-Music-Fan der ersten Stunde, war der erste, mit dem ein Kassetten-Austausch entstand. Vier Jahre später: Die Entdeckung von Cluster auf der Fahrt durchs elektrisierte Land." Neumeister erzählt in "Gut laut" seine und seiner Freunde Sozialisierung und Kulturalisierung durch die Popmusik. Eine Unmenge Namen von ehemaligen oder jetzigen Pop-Größen durchziehen den Text. Dazwischen Gedanken zu dem Unterschied zwischen den Covern von LPs zu denen von CDs - oder Gedanken zu Abkürzungen wie FFB für Fürstenfeldbruck oder PLO für Palästinensische Befreiungsorganisation. Das Ganze gemischt sozusagen: abgemischt, mit Erinnerungen an Lego und Viking-Autos, an das weit geschwungene Olympiadach, an Wunschkonzerte, Diskotheken und Clubs, an Filme wie Rudolf Thomes "Rote Sonne" von 1969, an Plattencover, Hitparaden und Baufirmen wie "Hochtief". "Hochtief" etwa führt den Autor sofort zu einem anderen, ähnlich strukturierten Namen: "Gute Zeiten, schlechte Zeiten". Das darin liegende, sozusagen schlicht konstatierende Prinzip wird wohlmeinend gedeutet, die Weltanschauung des Autors somit spürbar, das ihm affine Programm. Am besten läßt es sich vielleicht mit "Say Yes" beschreiben. Das besagt implizit: Diskurs, Kritik, Protest sind Kulturtechniken, die noch dem "Katastrophenjahrhundert" angehören, das endgültig verabschiedet werden soll. "Say Yes" hieß die Produktionsfirma von Giorgio Moroder.
Aber weiter im Text: Da fährt - sehr schön - plötzlich der ICE Teresa Orlowski vorbei. Darauf folgen Gedanken zur Verständnisgeschichte des Namens der epochemachenden Popgruppe "Kraftwerk": erst radioaktivitätverfechtend, dann radioaktivitätskeptisch sei der Name verstanden worden. So Neumeister. Später, vielleicht auch früher - das spielt für den Text nicht wirklich eine Rolle - Gedanken dazu, was Tankstellen vor zwei Jahren noch nicht im Angebot hatten, besser: was es vor zwei Jahren sogar alles überhaupt noch nicht gegeben hat.
Neumeisters "Gut laut" ist also ein gedankenreiches Buch. Assoziativ folgt es seinen Gedanken, die ihren Ursprung in Beobachtungen, Wahrnehmungen, Feststellungen haben. Es ist insofern durchaus welthaltig. Ganz sicher, was die Namen anbelangt. Seit Moroder etwa heißt München Mjunik. MUC I und MUC II, der alte und der neue Flughafen. IGA für Internationale Gartenausstellung und so weiter. Dazwischen, zwischen der Auflistung von Namen und Gedanken, passiert in dem Text, der sich "Roman" nennt, wenig, eigentlich fast gar nichts. Man hört Musik, man fährt Auto, man besucht einen Club. Man räsonniert. Man fährt, in den ausgehenden 90ern, als Beifahrer zu Clubs, zu Plattenläden, zu musikbesessenen Freunden oder auf Konzerte, und erinnert sich dabei an damals, an die frühen 70er, als alles anfing. Darüber spricht man mit den gerade anwesenden Freunden: dem Fahrer und denen im Fond. Jeder hat zu den Erinnerungen etwas beizutragen: Entweder etwas Präzisierendes oder etwas Überraschendes, etwas, was Brücken schlägt zwischen damals und heute: Querverweise, Analogien, Fußnoten, ergänzende Beobachtungen. Die Geschichte wird so unentwegt umgeschrieben, umgedeutet, neu bewertet. Genau in der Weise, wie Techno arbeitet, wie Sampling funktioniert, wie Musik-Kompilationen erstellt werden. Neumeisters Text stellt sozusagen einen Sound her, nämlich den Sound der 90er. Sound favorisiert den Blick für das Gesamte, für Gestalt, Muster und Ikonographie. Der Sound arbeitet mit Erinnerungen, ohne selber eine zu sein. Das ist dem Autor mit "Gut laut" überzeugend gelungen. An zentraler Stelle des Buches heißt es: "Ich meine, Frage an Carl, warum ist uns Musik so verdammt wichtig geworden? Weil, sagt Carl ohne Zögern, alles andere nicht halb so aufregend war. Zu Carl: Die Musikbesessenen in meiner näheren Umgebung haben in der weit überwiegenden Mehrheit aus ihrer Musikbesessenheit einen oder mehrere Berufe gemacht, in der weit überwiegenden Mehrheit üben sie jetzt einen mehr oder weniger provisorischen Besessenheitsberuf aus, zu dem sie einzig ihre Fixierung auf ihre Besessenheit brachte, und zu dem sie in jeder Hinsicht zu beglückwünschen sind. Musikbesessene, die früher nur Kassetten zusammengestellt hätten, kompilieren jetzt ein Album nach dem andern."
Musik ist also das Thema bei Neumeister wie anderen, sogenannten popliterarischen Neuerscheinungen, weil alles andere "nicht halb so aufregend war". Musik steht für erlebtes Leben. In den Texten fällt ihr, der Musik, die Aufgabe des Platzhalters zu. Mit einer Kaskade von Namen aus dem Musikbereich werden die Empfindungen benannt, Weltanschauungen, Ästhetiken. Aber die Empfindungen, Weltanschauungen, Ästhetiken selbst werden nicht beschrieben. Sie sind indirekt erschließbar. Und was mit dem Ort geschieht, an dem die Empfindungen stattfinden - mit dem Erlebnisbehälter Körper -, davon wird überhaupt nichts erzählt. Keine einzige Regung - erst recht keine diffizile, schwierige, uneindeutige - wird gezeigt als eine, die man gehabt hat. Man hat Spaß, oder man hat keinen. Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Hochtief. Das erlebte Leben, das Uneindeutige, Zwiespältige, Zwielichtige, Zweischneidige, bleibt ausgespart; es wird nur unentwegt darauf verwiesen. Über die Nennung von Musik, von der Begeisterung, die sie ausgelöst hat. Eigenartig.
Aber: Wo ist es hinverschwunden, das bundesrepublikanische Leben, seine Wirklichkeit? Für Neumeister und andere ist dieses echte, fühlbare, da draußen am Fenster schlapp oder dröge oder mäßig tosend vorbeiziehende Leben fast ausschließlich wahrgenommen, fast nirgends empfunden, fast nirgends erlebt, erlitten. Es ist wahrgenommen als Abkürzung, als Cover, als Titel, als Automarke, als Radiogerätbezeichnung, als Sendungstitel, als Label und so weiter. Es ist wahrgenommen in der Haltung des teilnehmend beobachtenden Konsumenten. Es ist wahrgenommen als Text; worauf dieser Text selbst aber wiederum deutet, davon wird nur sehr sparsam, spärlich erzählt.
Neumeisters Roman ist also eigentlich der Kommentar zu jenem Text, der sich nur auf eine zum Produkt abgemagerte Wirklichkeit bezieht. Dieser hochformalisierte, die Realität real an den Hauswänden oder auf den Verpackungen beschriftende, aus dem Radio oder Fernseher plärrende Text, der im Prinzip nur aus den Eigennamen besteht, den die Produkte, Sendungen oder Quizmaster tragen, dieser letztlich tautologische, nur auflistende Text, dessen Aufgabe allein darin besteht, zu markieren, wird nun seinerseits von Neumeisters Text unablässig markiert. Es ist beinahe so, als würde jemand bei jeder Zeile eines Katalogs an den Rand notieren, was er beim Lesen dieser Zeile gerade gedacht hat. Meinetwegen auch gefühlt. Und obendrein den Katalog selbst in der Notiz noch genauestens markieren und deuten. Auf dieser Seite hier, wo ich das und das angemerkt habe, steht unten rechts noch die Seitenzahl. Etwa in der Art. Bibelexegese. Das Verfahren grenzt natürlich an Metaphysik, ist eine Sonderform der Scholastik - und es tritt interessanterweise genau bei den Texten massiv auf, die als "Popliteratur" apostrophiert wird und deren erklärtes Ziel es ist, die Metaphysik und die Verständniswut auszumerzen. Die nicht so wie Handke -Texte geschrieben sein wollen. In Wahrheit sind diese Pop-Texte - auf alle Fälle die deutschsprachigen -, und ist Neumeisters Text der endlose Kommentar zu einer fast nur noch vermittelt wahrgenommenen, "zweiten" Wirklichkeit. Ein Kommentar zur Metaphysik der Moderne. Oder, positiv gewendet: Die Vermittlung selbst ist das Thema von "Gut laut". Die Vermittlung, die Aufzeichnung, die Speicherung, der Umgang mit dem vorgefundenen Material: "Wir sind die längste Zeit ein Haushalt ohne Plattenspieler gewesen. Bis zur Olympiade sind wir ein Haushalt ohne Fernseher gewesen. Bis zur Olympiade sind wir ein Haushalt mit einem Grundig-Radio im Wohnzimmer und einem Grundig-Radio in der Küche gewesen. Bis einundsiebzig sind wie ein Haushalt ohne jegliches Tonaufzeichnungsgerät gewesen. Erst ein Jahr vor der Olympiade sind wir ein Haushalt mit einem Kassettenrekorder der Marke Philips geworden. Schließlich hat Philips, ich meine, schließlich haben ein oder mehrere Techniker von Philips dieses praktische Gerät auch erfunden. Tonbandgeräte warten längst nicht so praktisch. Tonbandgeräte waren längst nicht so billig. Die Kindheit endet mit dem Einstieg in die Unterhaltungsmedien. Was ich sagen will: obwohl sich meine Gedanken 1971 hauptsächlich um die imposanten Bauten der 20. Olympischen Spiele drehten, begann ich noch vor den 20. Olympischen Spielen die ersten Kassetten zu bespielen. Wahlloses Aufnehmen aus dem Radio. Ganze Hitparaden, ganze Wunschkonzerte ohne Kabel, nur mit Mikrophon. Das erste aufgenommene Stück war ein Soundtrack. Die Titelmelodie vom Kommissar als erstes aufgenommenes Stück."
Neumeister beschließt seinen Roman mit folgenden, Umgangssprache und Gebrauchsanleitung vermischenden, Sätzen: "CD is aus. Kassette läuft noch." Tatsächlich, der Roman "Gut laut" ist selbst ein Aufzeichnungsgerät, ein Kassettenrekorder. Sicherlich aber ein bemerkenswertes Stück Literatur.