Samstag, 20. April 2024

Archiv


Gutachten mit politischem Zündstoff

Claudia Pechstein hat dem Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne eine eher seltene Gelegenheit geboten: Gleich mehrfach sahen die Richter Anlass, ihr Urteil mit Ironie zu würzen. Rechtfertigungsversuche für überhöhte Blutwerte wie drückende Schlittschuhe oder arktische Kälte beim Weltcup in Hamar gaben das leicht her.

Von Grit Hartmann | 28.11.2009
    Mit Ironie quittierte der CAS aber auch ein wissenschaftliches Gutachten zur Entlastung der Eisschnellläuferin. Es stammt vom Berliner Charité-Professor Christof Dame. Mit Hilfe von Algorithmen entdeckte er eine Mutation des Epo-Gens bei Pechstein. Die Richter merken an, von derlei Mutationen seien "zwischen 34 und 50 Prozent der weiblichen Bevölkerung" betroffen. Inwiefern das die Blutbildung beeinflusse, wisse auch Dame nicht, daran arbeite er noch. "Faszinierende Forschung", befand der CAS am Ende – nur leider, so der trockene letzte Halbsatz, ohne "jeden konkreten Hinweis, der speziell im Fall der Athletin hilfreich wäre".

    Das kuriose Zeugnis birgt politischen Zündstoff. Winfried Hermann, der sportpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, jedenfalls ist alarmiert. Dem Deutschlandfunk sagte Hermann, er werde das Zustandekommen der Dame-Expertise am Mittwoch im Sportausschuss auf die Tagesordnung setzen und dazu dringliche Fragen an das Bundesministerium des Innern richten. Hermann spricht von einem "ungeheuerlichen Vorgang", den das Parlament aufklären müsse.
    Was Hermann bei der Lektüre des CAS-Urteils empört hat: Ausgerechnet für das Dame-Gutachten durfte die Beamtin Pechstein die "Heilfürsorge" ihres Arbeitgebers, der Bundespolizei, in Anspruch nehmen. Als das Ende Oktober bekannt wurde, beschwichtigte das BMI: Die Bundespolizei habe nur eine Kostenzusage zur Untersuchung an der Charité gegeben, um "krankheitswertige hämatologische Störungen auszuschließen". Sodann seien die Befunde Professor Dame "im Einverständnis" mit Pechstein zur Verfügung gestellt worden. Das Gutachten bezahle sie selbst.

    Auf Nachfrage des Deutschlandfunks blieb das BMI bei dieser Darstellung. Sie ist in der Tat klärungsbedürftig. Denn das BMI verweigert die Antwort auf die Frage, welcher zweite Charité-Experte Pechstein untersucht haben könnte. Zudem: Dame plauderte selbst aus, dass seine Diagnostik über die Bundespolizei abgerechnet werde. Er behauptete auch, die Bundespolizei habe seine Studie in Auftrag gegeben.

    Heilfürsorge darf nur gewährt werden, um Krankheiten auszuschließen oder ihnen vorzubeugen – wie die Diagnose einer weit verbreiteten Mutation mit unklarer Wirkung dazu passt, bleibt ein Rätsel. Befördert wird der Eindruck, dass Steuermittel unter falschem Label geflossen sind, durch einen weiteren Hinweis im CAS-Urteil: Nur ein einziger Experte, so ist nachlesbar, habe Pechstein unter medizinischen Fragestellungen untersucht, und zwar der Ulmer Hämatologe Hubert Schrezenmeier. Er verneinte krankhafte und genetische Ursachen für überhöhte Blutwerte überzeugend, und sein Gutachten lag bereits Ende Juli vor.

    Winfried Hermann will deshalb wissen, wann das BMI die Finanzierungszusage für den Entlastungsversuch gab und wer dafür verantwortlich war. Er wird nachfragen, wie der Auftrag an den Charité-Professor präzise lautete und ob die Möglichkeit vereinbart wurde, von Pechstein Geld zurückzufordern. Er sagt, er sei gespannt auf die Antworten. Fallen die unbefriedigend aus, wird Hermann den Sportausschuss zur Einschaltung einer Instanz drängen, vor der auch Ministeriale ausreichend Respekt haben - des Bundesrechnungshofes.