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Gute Argumente gegen den freien Markt

Flexible Löhne, Monetarismus, das freie Spiel der Kräfte auf den Weltmärkten: Für James K. Galbraith ist klar, wohin all diese Theorien und angeblichen ökonomischen Weisheiten gehören: Auf den Müllhaufen der Geschichte.

Von Conrad Lay | 05.07.2010
    Ratschläge auf dem Totenbett mögen nicht immer die besten sein. Der renommierte amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith gab seinem Sohn James K. Galbraith kurz vor seinem Tod folgenden Rat auf den Weg:

    Du solltest ein kleines Buch über die räuberischen Unternehmen schreiben. Das könnte dich zum führenden Ökonomen deiner Generation machen.
    Nach einer kleinen Pause fügte der Vater mit seiner "üblichen Bescheidenheit" hinzu:

    Wenn ich es noch tun könnte, würde ich dich in den Schatten stellen.
    Wie vom Vater geheißen, deckt James K. Galbraith nun die Schwachstellen der neoliberalen Ideen auf. Als Keynesianer stellt er voller Verwunderung fest, dass sich seine politischen Kontrahenten, die Neoliberalen unter Reagan, gar nicht an ihre eigenen Theorien hielten, als sie sahen, dass sie damit in Schwierigkeiten geraten würden. Der Autor schreibt:

    Der Monetarismus wurde begraben, als er zur Rezession von 1982 führte; die Steuersenkungen mussten in verschiedenen Steuerreformen und Steuererhöhungen von 1982 bis 1993 wieder wettgemacht werden, und die Deregulierung des heikelsten Sektors - des Bankenwesens - wurde rückgängig gemacht, nachdem sie dem Spar- und Leihfiasko der späten 1980er-Jahre den Weg bereitet hatte.
    25 Jahre später sei von dem neoliberalen Programm in den Vereinigten Staaten nichts mehr übrig geblieben. Dass Steuererleichterungen sich selbst finanzieren könnten, weil dadurch mehr investiert und die Wirtschaft angekurbelt würde, das glaubt - laut Galbraith - in den USA kaum noch jemand. Das ist deshalb interessant, weil diese Kunde hierzulande von liberaler Seite weiterhin verbreitet wird. Man hinkt eben diesseits des Atlantiks etwas hinterher - was nicht gerade eine neue Erfahrung darstellt. An die Stelle des freien Marktes sieht Galbraith nun die Strukturen des sogenannten "Räuberstaates" treten. Er schreibt:

    Es ging darum, die vorhandenen Strukturen der staatlichen Macht - die Institutionen, die während des New Deal geschaffen worden waren - in eine Maschine zur privaten Vermögensanhäufung und Machtsicherung zu verwandeln.
    James Galbraith führt dafür eine Reihe von Beispielen an, von der privaten Rentenversicherung bis hin zum Gesundheitswesen, auf dessen Pfründe die privaten Versicherer nicht verzichten wollten. Seitdem geht es nicht mehr um die Kontroverse zwischen "Staat" und "Markt", sondern darum, wie man an einem Staat verdienen kann, der langsam wieder an Gewicht gewinnt. Wenn es im Untertitel des Buches heißt "Was gegen den freien Markt spricht", so meint Galbraith damit, dass die Marktideologien in Amerika einem Realitätstest nicht standhielten und es heute längst darum gehe, wie man den Staat kontrollieren und mit ihm Geld machen könne. Der Wirtschaftswissenschaftler kritisiert dies vornehmlich aus wirtschaftlichen Erwägungen: Denn die Ausplünderung des Staates führe nicht zu mehr Produktivität und höherer Konkurrenzfähigkeit, sondern schütze die zurückgebliebenen, nicht modernisierten Sektoren der US-Wirtschaft, von der Kohle-, Stahl- und Automobilindustrie bis hin zu Unternehmen im Militärsektor.

    Im Gegenzug hofft Galbraith darauf, dass die technologisch fortgeschritteneren Unternehmen zusammen mit Gewerkschaften und Vertretern der Zivilgesellschaft ein neues Staatsverständnis entwickeln. Vorbild ist das skandinavische Modell: eine Gesellschaft mit klaren Regeln, hohen Löhnen und wenig sozialer Ungleichheit - also ziemlich genau das Gegenteil dessen, was die USA in den vergangenen 30 Jahren erlebt hatten. Doch das Anschreiben gegen Deregulierung und "Räuberstaat", das der Vater dem Sohn ans Herz gelegt hatte, könnte sich leicht als voreilige Polemik erweisen, könnte auf Abwege führen, nämlich dazu, einen der wichtigsten Aspekte neoliberaler Wirtschaftspolitik zu übersehen: die Auswirkungen auf das internationale Finanzwesen. Mit seiner Hochzinspolitik Anfang der 80er-Jahre sicherte sich Reagan die Vormachtstellung des Dollars. Galbraith kommentiert:

    Reagans Wirtschaftspolitik schuf ein neues, auf dem Dollar basierendes System, das zur Grundlage der Weltwirtschaft wurde. Dies sollte den Vereinigten Staaten einen riesigen Vorteil verschaffen, auf Kosten aller anderen Volkswirtschaften. Denn jetzt begannen die meisten Länder, sich gegen die weltweite finanzielle Unsicherheit abzusichern, indem sie Geldreserven anlegten, die zur Hauptsache aus amerikanischen Staatsanleihen bestanden.
    Das Ausmaß, wie viel Geld sich die Vereinigten Staaten leihen konnten, wurde allein dadurch bestimmt, wie viel amerikanische Staatsanleihen andere Länder kaufen wollten. Je mehr die Weltwirtschaft wuchs, desto mehr solcher Schuldverschreibungen wurden - etwa von China - gekauft, desto höher war die negative Handelsbilanz der Vereinigten Staaten.

    So konnte das amerikanische Handelsdefizit praktisch grenzenlos anwachsen - die Nachfrage der Weltwirtschaft bestimmte das Ausmaß.

    James Galbraith hat ein Buch gegen Deregulierung geschrieben, größtenteils mit guten Argumenten, doch es stellt sich heraus, dass andere Faktoren mindestens so wichtig waren: nämlich das internationale Gleichgewicht, das über die Stärke des Dollars entscheidet. Denn dessen Sonderstellung war an sicherheitspolitische Garantien geknüpft. Nach dem Ende des Kalten Krieges, nach den Rückschlägen im Irak und in Afghanistan ist die Ausgangslage jedoch eine andere. Insofern stellt sich die Frage, ob sich die Vereinigten Staaten die Politik der finanziellen Vormachtstellung weiterhin leisten können. Die Stärke des Buches von James Galbraith liegt in einer Lehre, die auch diesseits des Atlantiks Aufmerksamkeit verdient. Sie lautet: Schaue nicht nur auf die Rede von den neoliberalen Ideologien, sondern darauf, was in der praktischen Politik daraus gemacht wird.

    Conrad Lay rezensierte James K. Galbraith: Der geplünderte Staat - oder was gegen den freien Markt spricht. Das Buch ist erschienen im Rotpunktverlag, hat 320 Seiten und kostet 24 Euro und 50 Cent, ISBN: 978-3-85869-417-1.