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Gute Laune, schlechte Laune

Laut einer amerikanischen Studie lässt sich an den britischen Charts ablesen, wie die Stimmung im Vereinigten Königreich ist. Sprich: Steht fröhliche Musik an der Spitze, herrschen gute Zeiten, und melancholische Musik verkauft sich gut, wenn es den Briten schlecht geht. Der Gemütszustand Wut fehlt bei der Studie jedoch komplett.

Von Amy Zayed |
    Ausschnitt aus einer Politiksendung der BBC 1977: "Das von Streiks zerrissene Großbritannien erlebt eine Krise, die niemanden verschont. Weder alte, noch junge, noch kranke. Sogar Kinderkliniken bekommen die Auswirkungen von Streik und Arbeitslosigkeit zu spüren. Die Gewerkschaften fordern ein wöchentliches Mindesteinkommen von 60 Pfund. Die Regierung behauptet, dafür sei kein Geld da. Die Vorhersage für Großbritannien ist grau bis stürmisch."

    Wir schreiben das Jahr 1977. Trotz der Arbeitslosigkeit und des Streiks hört sich Großbritanniens aktuelle Hitparade alles andere als depressiv an. Es herrscht Discofieber. Und auf den obersten Chartplätzen tummeln sich Songs wie "So you win again" von "Hot Chocolate", Donna Summers "I feel love" oder "Yes sir, I can boogie" von Baccara. In der Indie- und Underground-Szene ist allerdings ein neuer Trend aus London angesagt, und der klingt zumindest zeitgemäß zornig: Punk. Die "Sex Pistols" sind das Aushängeschild. Die von Manager Malcolm Mclarren und Designerin Vivian Westwood entdeckte Band ist das Sprachrohr für Aggressionen gegen das System.

    Sex Pistols: "Wir sind die einzigen, die meinen, was wir sagen. Die meisten anderen Bands sind doch bloß nette Schleimbeutel, die ein bisschen Spaß haben wollen. Wir wollen die Leute zum Nachdenken bringen. Und das ist in der Tat beängstigend."

    Der ehemalige New Order- und Joy Division-Bassist Peter Hook war damals noch ein Teenager, für den Punk eine große Inspiration war. Doch nicht um Melancholie und Hoffnungslosigkeit zu verarbeiten, sondern um mit Musik etwas zu verändern.
    "Als ich die Sex Pistols zum ersten mal live gesehen habe, öffnete sich für mich ein Tor zu einer neuen Welt. Ich war gerade 21 und der Punk veränderte mein Leben. Plötzlich sah ich einen Ausweg aus dieser trüben Existenz, in der es keine Hoffnung zu geben schien. Ich wurde ein Punk, weil es bedeutete, dass ich mich endlich gegen das System auflehnen konnte."

    Doch ein Gefühlszustand wie Wut, für viele Musiker eine treibende Kraft, kommt in der Studie der amerikanischen Forscher gar nicht vor. Zeitsprung. Wir schreiben das Jahr 1992. Premierministerin Margaret Thatcher hat vor zwei Jahren die Kopfsteuer eingeführt, die Arbeitslosigkeit ist besonders im Norden Englands unglaublich hoch. John Major übernimmt als neuer Premier eine ungeliebte Regierung, doch eine Alternative scheint es nicht zu geben. Musikalisch allerdings herrscht schon wieder die reine Euphorie. Diesmal mit Euro-Dance. Snaps "Rhythm is a dancer" oder Kws." Please don't go" tummeln sich auf Platz 1. Und es gibt eine neue Droge, die die Tänzer aufputscht: Ecstasy. "The Shamen" huldigen ihr im Song "Ebeneezer Good", wobei der Name ein radiotaugliches Synonym für Ecstasy ist.

    So ganz geht also die These der Soziologen von der Coastal Carolina University nicht auf. Es ist einfach viel zu pauschal und ungenügend, zu behaupten, die Musik sei traurig, wenn es gesellschaftlich und finanziell gerade bergab, und fröhlich, wenn es aufwärts geht. Popkultur funktioniert anders, sagt auch Rebecca Ellis, Bildungsleiterin des British Music Experience Museums:

    ""Ich glaube, dass wir in Großbritannien dann am kreativsten sind, wenn uns etwas wirklich inspiriert. Das können soziale, kulturelle oder politische Strömungen sein. Dann schaffen wir etwas ganz Neues. Das kann traurig oder fröhlich sein. Hauptsache, wir können uns damit identifizieren."

    Ein gutes Beispiel dafür ist die Musikszene der ehemaligen Industriestadt Manchester. Die klang in den 80ern und 90ern völlig gegensätzlich. Rebecca Ellis:

    "Die trostlosen, leer stehenden Fabriken, die fast Mahnmale für den Frust waren, wurden plötzlich zu Clubs. Und auf die melancholischen "Joy Division", "New order" und die "Smiths" folgten die tanzbaren "Stone Roses", "Charlatans" oder "A Guy Called Gerald". Dancemusik war einfach eine Weiterentwicklung. Eine neue Art, sich popkulturell auszudrücken."

    Bis heute verändert sich Popkultur in Großbritannien stetig. Der Londoner Politrocker Billy Bragg hält die Studie für absoluten Blödsinn. Popkultur wäre langweilig, wenn man sie so pauschal definieren würde, sagt er.

    "Wir Briten tendieren immer zu Musik, wenn uns etwas beschäftigt. Aber doch nicht so platt! Wir mischen verschiedene Einflüsse zusammen und machen daraus etwas Neues, was nicht nur musikalische Weiterentwicklung beinhaltet, sondern auch Mode, Design und Kunst. Vor einigen Jahren habe ich mit Damon Albarn zusammen eine "Africa express show" gespielt. Da habe ich ein altes englisches volkstümliches Revolutionslied aus dem Jahr 1649 zu einem Punkstück vertont. Und dabei hat mich ein afrikanischer Musiker begleitet, der Einflüsse aus einem alten Stammeslied eingebracht hat. Das ist Popkultur, worauf wir stolz sein können."