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Gute Literatur zur richtigen Zeit

Die Wiederauflage des Buches "Die Ausgelieferten" von Per Olov Enquist kommt in der derzeit wankenden Welt gerade recht. Die radikale selbstkritische Befassung des Schriftstellers mit sich selbst und seinen Erkenntnisinteressen, macht das Buch heute besonders wertvoll.

Von Michael Schmitt | 26.06.2011
    Wenn die Welt, mit der wir uns eingerichtet haben, mal wieder ins Rutschen gerät, wird schnell die Forderung nach einer Literatur laut, die sich mit dem Wesentlichen befassen möge, mit dem was die Menschen jenseits ihrer Privatheit umtreibt - oder soll man besser sagen: vor sich hertreibt. Nach einer Literatur also, die sich irgendwie "engagiert".

    Im frühen Frühjahr 2011 ist vieles ins Rutschen geraten, man denke nur an Nordafrika oder an Japan. Das prägt die Schlagzeilen - und die besseren Romane zu diesen Aufbrüchen und Tragödien werden noch lange auf sich warten lassen. Aber weil gute Literatur ein langes Gedächtnis hat, weil sie langsam reift, dann aber über alle Schlagzeilen hinaus Bestand hat, kommt die Wiederauflage des über vierzig Jahre alten hochpolitischen Buches "Die Ausgelieferten" von Per Olov Enquist gerade zur rechten Zeit. Nicht durch sein Thema - obwohl die Geschichte, die darin untersucht wird, bis heute in Schweden und im Baltikum Spuren hinterlassen hat -- , sondern durch die Vielschichtigkeit der Darstellung, durch die Mischung von Reportage und Literatur und vor allem: durch die radikale selbstkritische Befassung des Schriftstellers mit sich selbst und seinen Erkenntnisinteressen, während er an diesem Buch arbeitet.

    In seinem autobiografischen Roman "Ein anderes Leben" hat Per Olov Enquist 2008 beschrieben, unter welchen Bedingungen "Die Ausgelieferten", also seine Untersuchung der Überantwortung von 146 baltischen Militärflüchtlingen an die Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, entstanden ist. Zwischen 1966 und 1968 - während in den USA die Bürgerrechtsbewegung von einer friedlichen zu einer radikalen Bewegung im Zeichen von "Black Panther" umschlägt, während der Vietnamkrieg eskaliert und während im August 1968 der Prager Frühling, die tschechische Reformbewegung, von russischen Panzern niedergewalzt wird.

    Dieser Hintergrund führt im Sommer ´68 bei Enquists schwedischem Verlag sogar zu der Erwägung, das Werk besser nur stillschweigend, quasi klammheimlich zu veröffentlichen. Denn schließlich geht es nicht nur um schwedische innere Angelegenheiten, sondern auch um ein Bild der Sowjetunion. Letztlich entscheidet der Verlag sich aber doch für die Offensive, und der Erfolg gibt den Beteiligten Recht. Per Olov Enquist wird berühmt und berüchtigt; und sein Buch dokumentiert bis heute, wie Schriftstellerei und Engagement zusammengehen können, ohne sich in ideologischen Fallstricken zu verheddern, ohne sich in wohlfeilen Gesten der Anklage zu erschöpfen.
    Er habe sich, hat Per Olov Enquist ebenfalls berichtet, seinerzeit beim Schreiben mit einem Tisch und einem Stuhl in den Heizungskeller seines Hauses in Uppsala zurückgezogen, und dort "eine furchtbare Wirklichkeit" zusammengesetzt. Und mehr als vierzig Jahre später wird man das ohne Abstriche bestätigen können. "Die Ausgelieferten" ist passagenweise gewiss ein ungefüges Buch, aber alle Teile zusammengenommen verleihen ihm auch eine ungeheure Wucht.

    "Wie beschreibt man den Mechanismus eines Gefühls? Wie beschreibt man den Mechanismus eines entstehenden Gefühls, eines sich ändernden, eines völlig verwandelten Gefühls? Wie beschreibt man den Mechanismus der Situation, die den Menschen bis zu jenem Punkt treibt, an dem eine Umkehr nicht mehr möglich ist?"

    Den Mechanismus eines Gefühls beschreiben - das zieht sich als Leitmotiv durch das ganze Buch hindurch; und es betrifft alle Ebenen, die Per Olov Enquist darstellen will. Es betrifft die Empfindungen und Verhaltensweisen der Personen, deren historischem Schicksal er nachspürt; es betrifft aber zu aller erst auch ihn selbst, als denjenigen, der sich die Dinge von außen anschaut, um sie dann, gefiltert durch die eigenen Gefühle, darzustellen.

    Dieser Prozess beginnt für Per Olov Enquist, nachdem er im Frühjahr 1966 zu einem PEN-Kongress nach New York geflogen und anschließend in die Südstaaten der USA weitergereist ist, um aus Gründen, die er selbst nicht versteht, einem Marsch der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zu folgen. Hier diskutiert man über den Vietnamkrieg; hier findet er sich einmal als einziger Weißer in einem Bus voller Schwarzer den Waffen weißer Polizisten gegenüber; hier wird er von Bürgerrechtlern auch explizit darauf hingewiesen, dass die Schweden Grund hätten, zunächst vor ihrer eigenen Tür zu kehren. In Oak Ridge, im Juni 1966, verliert er die Illusionen über sich selbst als ein politisches Wesen.

    "Er versuchte darüber nachzudenken, welches Gefühl nunmehr in ihm erloschen war, aber er konnte sich nicht darüber Klarheit verschaffen. Es musste endgültig dort unten, unter der glühenden Sonne geschehen sein, als er still dagestanden hatte und sich zum ersten Mal darüber klar geworden war, dass er die ganze Zeit nichts weiter getan hatte als stillzustehen und zuzusehen. Er hatte es innerlich schon immer gewusst, seine Moralität war eine Sache der Empfindungen, er hatte immer den Weg des geringsten Widerstandes gewählt, die Geste statt der Handlung, das Gefühl statt der Tatsachen. Während seines ganzen erwachsenen politischen Lebens hatte er davon geträumt, Anteil zu nehmen, wie selbstverständlich und bedeutungsvoll zu agieren. Während seines ganzen erwachsenen politischen Lebens hatte er in den Gesten Zuflucht gesucht, die ihm als Alibi dienen konnten, die ihn beruhigen und ihm das Gefühl geben konnten, frei zu sein. Dies war eine ausgezeichnete Demonstration. Sie würde ihm für mindestens zwei Jahre Ruhe verschaffen."

    Per Olov Enquist ist 1966 zweiunddreißig Jahre alt, er hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, unter anderem "Der fünfte Sommer des Magnetiseurs"; er ist ein bekennender Linker, der trotz vieler Vorbehalte den schwedischen Sozialdemokraten nahe steht, er ist ein Freund des jungen Olof Palme. An all dem wird die Arbeit an den "Ausgelieferten" nichts entscheidend ändern - nur das gute Gewissen eines Linken wird auf der Strecke bleiben, die Koordinaten zur Beurteilung von Politik werden sich grundlegend verschieben.

    Man müsste teilnehmen und zugleich die Tatsachen durchschauen können; seine Unwissenheit mindern, aber nicht die Anteilnahme, schreibt er dazu; und ein paar Seiten später, selbstkritisch und selbstquälerisch:

    "'Es gibt eine Einsicht, die nur eine Ausdrucksform für Selbstmitleid und Apathie ist', dachte er. Eine schöne Formulierung, sehr gut. 'Eine Apathie, die einer allzu privaten Reaktion auf Furcht und Unverständnis entspringt' - das klang noch besser, obwohl etwas schwerfällig."

    Was aber kann man gegen schön formulierte Apathie tun? Der erste Schritt: Der Schriftsteller, der über das gesamte Buch hin als aktiv recherchierende und reflektierende Instanz präsent sein wird, distanziert sich sprachlich von sich selbst. Enquist schreibt dieses Buch nicht im Stil eines Ich-Erzählers, sondern fasst sich selbst abstrakt als den "Untersucher". Das mag wie ein recht simpler Kunstgriff anmuten, wird aber schnell als Qualität erkennbar. Es trennt das Buch vom klassischen Roman, es trennt ihn von einer Art der Geschichtsschreibung, die vorgibt, objektiv sein zu können; und es trennt ihn auch vom betont subjektiven "New Journalism", der zu dieser Zeit in den USA aufblüht und beispielsweise die Vietnam-Reportagen im "New Yorker" prägen wird. Und um den Vergleich noch weiter zu treiben: Es trennt Enquists Denkweise auch von jener recht pathetischen Variante der Abkehr von ehemals linken Leitbildern, die ein paar Jahre später in Frankreich nach der Lektüre der Bücher von Alexander zu beobachten sein wird.

    Worum es in "Die Ausgelieferten" geht, lässt sich schnell zusammenfassen, aber dann nur in mühsamer Kleinarbeit klären. 146 Balten, die sich kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in altersschwachen Booten über die Ostsee nach Schweden gerettet haben, werden nach monatelangem Aufenthalt in bewachten schwedischen Lagern an die Sowjetunion ausgeliefert. Sie haben teils als Freiwillige, teils als Zwangsrekrutierte, teils als Offiziere, teils als einfache Soldaten in Einheiten der deutschen Waffen-SS gedient und gegen die Sowjetunion oder gegen Partisanen gekämpft. Diese Auslieferung gilt als eine in der schwedischen Geschichte "einzigartige Affäre", sie zieht sich vom Sommer 1945 bis in den Januar 1946 hin und nimmt mit dem Abtransport der Balten auf einem sowjetischen Schiff kein Ende, sondern wirkt als politisches Problem, als moralische Frage, als Riss im Selbstbild des Landes fort.

    Anfang Mai 1945 sind diese Balten in Schweden angekommen, so wie einige zehntausend zivile Flüchtlinge vor ihnen. Sie werden in Lagern untergebracht, wie einige tausend deutsche Soldaten auch; sie leisten Arbeitseinsätze und werden zum Problem, als eine vage sowjetische Anfrage nach einer möglichen Auslieferung von der schwedischen Regierung im November 1945 in einer Art von vorauseilender Bereitwilligkeit positiv beantwortet wird.

    Darauf kommt es zu Hungerstreiks unter den Balten, zu Selbstverstümmelungen und zu Selbstmorden, aber damit kann die schließlich stattfindende Auslieferung nicht verhindert werden. Und die, das ist das Problem, überantwortet nach allgemeinem Dafürhalten die 146 Männer dem sicheren Tod. Denn die Sowjetunion gilt nach Kriegsende nicht mehr als Befreier, nicht mehr als das Land, das den zähesten Kampf gegen die Armeen Nazideutschlands geführt und die meisten Opfer gebracht hat, sondern nur mehr als kommunistisches Gespenst, als eine Diktatur, die mit den Ausgelieferten kurzen Prozess machen wird.

    Es sei ihm bei der Arbeit an diesem Buch weniger um eine "baltische Tragödie" gegangen, sondern um ein "schwedisches Dilemma", erklärt Per Olov Enquist 1968; er hat Aktenberge bewältigt, die zeitgenössische Presse durchforstet, zahllose Zeitzeugen und Beteiligte befragt, Politiker und auch viele Balten. Manche Namen hat er zum Schutz von Personen geändert. Er hat sich in sein Material hinein gewühlt und ist vor dem erschrocken, was in seinem eigenen, sozialdemokratisch-idyllischen Heimatland in den späten 30ern und während des Krieges alles möglich gewesen zu sein scheint:

    "Während der Wochen, in denen er die Dossiers las, wurde er oft von einem hilflosen Staunen ergriffen; ihm wurde schwindlig, als befände er sich plötzlich in einer Landschaft, die nicht wirklich sein konnte, nicht wirklich sein durfte. Was er hier an den Lesetischen der Carolina Rediviva in Uppsala im Herbst 1966 las, waren Märchen, trockene korrekte Märchen aus einer Traumwelt, jedenfalls nicht aus einer schwedischen Welt. Was er las, war das offizielle gedruckte Material, der öffentliche Untersuchungsbericht des Staates. Aber er wusste auch, dass dieses Material nicht vollständig war, einiges hatte man zu den Geheimakten gelegt. Dieses Material war so schrecklich, dass man es nicht einsehen durfte.

    (...)

    Damals, dachte er, hat es verflucht noch mal keine Proteststürme gegeben, wie viele auch umgebracht wurden. Einige Tage lang schien diese Erkenntnis ein neues Licht auf die Frage der Auslieferung der Balten zu werfen: als würde die Gleichgültigkeit eines Volkes, eines Teils der Öffentlichkeit und der Presse diesen administrativen Morden gegenüber die Meinung über die Auslieferung der Balten auf einen völlig neue Grundlage stellen. Aber so war es nicht, obgleich er noch lange darüber verwundert war, dass Flüchtlinge von der politischen Linken mit solcher Beharrlichkeit härter behandelt worden waren als Flüchtlinge aus dem anderen Lager, dass die Humanität offenbar immer ideologischen Gesetzen gefolgt war."

    Es gibt eine Tradition der Sympathie mit der politischen Rechten und mit den Nazis im sozialdemokratischen Paradies, es gibt eine Tradition der Schikane und der Ab- oder Ausweisung jüdischer Flüchtlinge. Das ist die eine Seite.

    Nicht weniger schwer zu fassen sind auf der anderen Seite die Zustände in den Lagern, in denen die Balten während dieser Monate untergebracht sind. Die 146 Militärflüchtlinge sind keine geschlossene Gruppe. In den teilweise selbstverwalteten Lagern, zeitweise Zaun an Zaun mit gefangenen deutschen Waffen-SS-lern, übernehmen die ehemaligen Offiziere schnell das Sagen. Aber ihre Interessen unterscheiden sich von denen der ehemaligen Mannschaftsdienstgrade, etwa bei der Bewertung der politischen Lage: So wie die gefangenen Deutschen und viele Exil-Balten hoffen manche darauf, den Krieg gegen die Sowjetunion wieder aufnehmen zu können, um die baltischen Staaten, die nun Sowjetrepubliken sein sollen, zu befreien. Es werden Fluchtpläne geschmiedet und Hungerstreiks organisiert. Rivalisierende Parteien kämpfen um die Vormacht, es bilden sich Formen einer eigenständigen Lagerjustiz, die von den Schweden unterbunden werden muss. Und manchmal beschimpfen die Balten sich gegenseitig als Nazis, wenn das den Interessen der Gruppierungen dient.

    Diese Balten sind eine kleine Gruppe mit eigenen Regeln - und je mehr Zeit vergeht, desto bedenklicher wird ihre Situation.

    "Es war ein sehr warmer Sommer mit viel Sonne und frischer Luft. Außerdem war Friede in der Welt. Dies alles ist ein Bestandteil eines Gesamtbildes: wie kleine Zwischenfälle immer größer werden und sich schließlich zu einer großen Krise auswachsen: Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Die Lagerinsassen müssen gemerkt haben, wie etwas angeflogen kam, allmählich und unmerklich, ein kühler Windhauch, eine schleichende Krankheit, eine Pest, die sie unverschuldet traf. Sie merkten plötzlich, dass ihre Popularität außerhalb des Lagers nicht groß war und dazu noch abzunehmen schien."

    Nicht weniger schwer nachzuvollziehen ist der Umgang der schwedischen Bürokratie mit diesem Problem - denn Staat und Beamte müssen, nachdem sie vor und während des Zweiten Weltkrieges gegenüber den Deutschen ziemlich entgegenkommend agiert haben, in einer grundlegend geänderten Situation weiterarbeiten.

    Wie organisiert sich also Politik, wie werden Entscheidungen vorbereitet, welche Organe sind daran beteiligt und wie greifen sie als Zahnrädchen einer großen Maschine in einander? Ein erheblicher Teil von Per Olov Enquists Untersuchungen widmet sich der detaillierten Rekonstruktion dieser Prozesse: in Interviews mit alt gewordenen Politikern, die als verantwortliche Minister oder im Außenpolitischen Ausschuss Verantwortung trugen, in Gesprächen mit ehemaligen Wachleuten; oft in Gesprächen mit Männern, die sich nur mehr ungern erinnern, weil sie sich seinerzeit zwischen ihren politischen Überzeugungen, dem Druck der öffentlicher Meinung und persönlichen Gewissensfragen aufgerieben haben.

    Das schlechte Gewissen beruht auf der außerordentlich lax ausgelegten Neutralität im Zweiten Weltkrieg, die großen Raum für Sympathien mit dem Dritten Reich gelassen hat. Die politischen Skrupel entspringen der Einschätzung der Sowjetunion, die man nach Kriegsende nicht vor den Kopf stoßen könne, indem man ihr die Auslieferung verweigert. Und der Druck der öffentlichen Meinung entsteht durch eine Presse, die gegen die Menschen mordende stalinistische Sowjetunion polemisiert.

    "Es wurde oft von der Feigheit und Nachgiebigkeit der schwedischen Regierung gesprochen. Man habe sich dem Willen einer Großmacht gebeugt, wie man zuvor den Deutschen nachgegeben hätte. Es wurde von der moralischen Pflicht der Balten und Deutschen gesprochen, nach Russland zu gehen, um das wiederaufzubauen, was die deutsche Wehrmacht in Trümmer gelegt hatte. Es wurde die Notwendigkeit betont, eine individuelle Prüfung der Balten durchzuführen, um eventuelle Kriegsverbrecher auszusondern, und die Notwendigkeit, dies nicht zu tun. Die öffentlichen Meinungsäußerungen wurden als echter und spontaner Ausdrucks des Volkswillens gewertet. Die Volksmeinung wurde andererseits als von gewissen reaktionären prodeutschen pressure groups organisiert dargestellt, die für die Gesamtbevölkerung alles andere als repräsentativ seien. Das Asylrecht wurde eingehend diskutiert. Man erörterte die Vergangenheit der Balten, ohne sich auf irgendwelche Fakten stützen zu können. Man debattierte über den Auslieferungsbeschluss von Juni, im gleichen Halbdunkel, ohne genaue Kenntnis der Hintergründe. Man diskutierte die russische Rechtspflege."

    Vielleicht kann man zum Vergleich an die Debatten denken, die beispielsweise in der Bundesrepublik mit dem Historikerstreit der späten 80er einhergingen und später mit der Enttarnung von Stasi-Mitarbeitern; vielleicht auch an die Debatten, die Götz Aly in den 90ern mit seinen Forschungen zu den jungen Funktionseliten des Dritten Reiches provoziert hat. Ganz aktuell womöglich auch an die Streitigkeiten um die Traditionen des Auswärtigen Dienstes unter Hitler, die jüngst durch den Bericht über "Das Amt" angefacht worden sind.

    Per Olov Enquist nimmt 1968 manches davon schon voraus, und er beschreibt seine eigene Wahrnehmung in der Art einer chronologischen Schichtung, einer Überlagerung und ständigen Umdeutung. Als Elfjähriger hat er die zeitgenössischen Zeitungsartikel um die Jahreswende 45/46 wahrgenommen; als Erwachsener untersucht er sie nun. Er beschreibt, dass er lange darin vor allem eine Hetzkampagne der politischen Rechten habe sehen wollen, also eine Kampagne zur Einstimmung der Schweden gegen die Auslieferung. Aber nach und nach habe sich doch auch das Bild vom bösen Russland eingebrannt, die Angst vor einem "unbestimmten Etwas", das die Balten immerhin zu Hungerstreiks und Selbstverstümmelungen getrieben habe. Und er protokolliert, wie im Selbstgespräch des "Untersuchers" die eigene eindeutige Position zu erodieren beginnt.

    "'Warum, zum Teufel, kannst Du nicht einfach nach humanitären Prinzipien denken? Warum musst du - nur weil du mit der Linken sympathisierst .- eine absolut unmögliche Sache verteidigen?"

    Die einzelnen Schicksale werden für den Untersucher nach und nach bedeutsamer als die Vorstellungen, in deren Dienst sie instrumentalisiert werden. Er wechselt also nicht die politische Seite, sondern er schlägt sich auf die Seite der Einzelnen und ihrer persönlichen Erfahrungen. Das ist für den Schreibenden selbst ein schmerzhafter Prozess, er gipfelt in der Fiktion eines sehr ironischen und sehr bitteren Briefes an den großen Vorsitzenden Mao, in einer Antwort auf dessen katechismusartige Lehren über die Tatsachen der Geschichte und wie damit zum Nutzen der Menschen umzugehen sei. "Vorsitzender Mao", heißt es, "mein Problem besteht darin, das ich eine bestimmte politische Situation inmitten einer völlig anders gearteten politischen Situation beschreibe", und es scheine "als wäre jeder Versuch, die sozialistische Front zu zersplittern oder aufzulockern oder in Frage zu stellen, ein Verrat."

    Doch wie könne er, fragt er weiter, seinen heutigen Wertvorstellungen entsagen, um zu rechtfertigen, was seinerzeit geschehen sei?

    "'Tatsachen sind alle Dinge, die objektiv existieren' sagen Sie. Aber hier sitze ich auf meinem subjektiven Nachttopf, und damals und heute vermengen sich wie Luftspiegelungen."

    Der letzte Schritt, der für den Untersucher irgendwann noch zu tun bleibt, ist schließlich eine Reise ins Baltikum, auf den Spuren der Namen, die er aus den Berichten über die Ausgelieferten kennt. Man rät ihm davon ab, weil er gewärtigen müsse, dass man ihn und seine möglichen Gesprächspartner überwachen werde, dass er sogar Menschen damit gefährden könne. Enquist reist dennoch - und bringt als wesentliches Ergebnis mit zurück, dass von den 146 Balten, die durch die Auslieferung angeblich dem Tod überantwortet worden waren, nur etwa 30 in der Sowjetunion tatsächlich vor Gericht gestellt worden sind. Man habe die meisten umgehend freigelassen, man habe sie als Arbeitskräfte beim Wiederaufbau nach dem Krieg gebraucht; man habe sie aber zumeist und auf Dauer nur wie Menschen zweiter Klasse behandelt.

    Ist das ein Trost oder verstärkt das nur die Verwirrung? Die Reaktionen in Schweden steigern jedenfalls zunächst die Verstörung - denn die gleichen Gesprächspartner, mit denen Enquist bis dahin über die seinerzeitige Bedrohung der Balten diskutiert hat, zeigen sich nun seltsam unberührt von der Tatsache, dass diese Ängste in den meisten Fällen grundlos gewesen sind. Ist vielleicht das erst die wirkliche Abdankung der Politik vor den Forderungen der Humanität?
    "Er wusste trotzdem, dass diese Menschen weder Zyniker, Menschenverächter noch mit moralischer Blindheit geschlagen waren. Sie waren aber seit so langer Zeit daran gewöhnt, die Legionäre und die Auslieferung als ein politisches Argument zu betrachten, dass sie darüber die Menschen vergessen hatten.

    (...)

    Ihren Tod hat wohl kaum jemand gewünscht, aber man hatte sie sich jahrelang als tot vorgestellt, und daraus hatte sich eine Tragödie entwickelt, die im Laufe der Jahre die Schwelle des Sublimen erreichte. Die Schuld war größer und größer geworden, das Verbrechen schlimmer und schlimmer - es war alles so entsetzlich deutlich geworden. Sie hatten so lange in der Form dieser deutlichen, sublimen Tragödie an die 146 Balten gedacht, dass jeder Versuch, die Tragödie zu verringern oder sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen, in sich selbst zur Tragödie wurde. Oder ein schändliches Unterfangen."


    Per Olov Enquists Bericht verunsichert vor 40 Jahren mehr als dass er entlastet. Das imaginierte große Drama, das sich mit der Zeit als eine hochkomplexe, aber deutlich kleinere Affäre entpuppt hat, bringt natürlich auch ihn zu der Frage nach einer "Kollektivschuld" - ähnlich wie sie in Deutschland immer wieder aufkommt. Eine Antwort darauf aber will er nur mehr für sich selber geben:

    "Er fühlte keine Schuld, hatte nicht das Gefühl beteiligt zu sein, aber er hatte allmählich gelernt, sich auch für andere Dinge zu interessieren und nicht nur für sein eigenes Engagement."

    Per Olov Enquist: Die Ausgelieferten. Roman, aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass, Carl Hanser Verlag, München Frühjahr 2011, 480 Seiten