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Guten Appetit!

"Nein, meine Suppe ess ich nicht!" - schon in einem der berühmtesten Kinderbücher spielt das Essen eine zentrale Rolle. Essen ist Kultur. Der familiäre Mittags- oder Abendbrottisch bildet einen Kulturraum, in dem Kinder Zivilisation erlernen, in dem der Suppen-Kaspar zivilisiert wird - oder eben nicht. Dass Kochen und Essen aber auch viel Spaß machen und sogar richtig cool sein können, zeigt unsere kulinarische Auswahl von acht Kinder- und Jugendbüchern.

Von Florian Felix Weyh |
    " Zuckerbrot-Doppeldecker: 2 Scheiben Weißbrot, nicht zu harte Butter, Zucker."

    Klingt ja deliziös.

    "1. Bestreiche beide Brotscheiben mit Butter.
    2. Bestreue beide Brotscheiben mit Zucker."

    Achtung: Zahnarzt hört mit.

    "3. Klappe die beiden Brotscheiben zusammen. Iss.
    4. Wiederhole den Vorgang so oft wie nötig. Dabei kann eine ganze Packung Brot draufgehen. Das sind dann ca. 91/2 Doppeldecker, je nach Packungsgröße. "
    ["Cyril oder Wie schmeckt die Liebe?", S.208]

    Stopp - so nicht. Jedenfalls nicht täglich. Eigentlich nur in einem Fall, den wir möglichst selten erleben wollen, bei tiefem, unheilbaren Liebeskummer. Dann, ja dann sei ausnahmsweise dieses ... na ja: Rezept empfohlen, obwohl es weitaus bessere Seelentröstereien gibt. Doch das komplizierte Verhältnis von Leib und Seele, Essen und Liebe, bittrer Trauer und süßem Trost soll später in dieser Sendung beleuchtet werden. Zuckerbrot steht nämlich am Ende unserer Nahrungskette, wohingegen eine grünweißgelbe Kombination den Anfang macht:

    " Delikat! Delikat
    Sind Spiegeleier mit Kopfsalat!"

    Das ist Kost nach Art des Vaters, der mit seinem Nachwuchs allein gelassen schnell etwas auf den Tisch zaubern muss.

    "2 schöne Scheiben durchwachsenen Speck
    Hol ich mir aus der Speiskammer-Eck,
    Die brat ich auf beiden Seiten dann
    Abwechselnd in meiner Pfanne an.
    Sind gut gebraten alle zwei,
    Schlag ich über jede 1 Ei,
    Aber hübsch langsam, dass nix zerfließt!
    Wenn's Eiweiß dann nicht mehr glasig ist,
    Rutsch, die ganze Bescherung vom Feuer,
    Und fertig sind meine Spiegeleier! "
    [Adolf Holst: "Grete kocht!"]

    Zugegeben: Da holpern und stolpern die Verse vor sich hin - doch Reime haben ihren Sinn. Was nämlich gereimt im Kopfe steht, auch am Herd nicht so rasch vergeht.

    "Ja, und der Salat?!" - "Mensch, kannst du nicht warten
    1 Kopf Salat, frisch grün aus dem Garten,
    Den putz ich mir sauber und wasche ihn tüchtig,
    Lass ihn abtropfen - das ist sehr wichtig!
    Und zwar gründlich, nicht nur so 'n bissel,
    Dann - rein in die Schüssel!
    Nun 2 Löffel Öl in eine Tasse gerührt,
    1 dito Zitronensaft zugeführt,
    1 Prise Salz!
    Zucker ebenfalls!
    Schnittlauch, Estragon, Borretsch und Dill
    Oder Pimpinelle, wenn man will,
    1/2 Ei - hart gekocht, darf ich bitten!
    Alles hübsch fein und klein geschnitten
    Und flott gemengt unter unsren Salat!
    Na - wie schmeckt er?"
    "Du, delika-at"
    [Adolf Holst: "Grete kocht!"]

    Jetzt hebt vor dem Radio mal jeder die Hand, der nicht weiß, was eine "Pimpinelle" ist. So viele? - Keine Schande, denn der Autor des Kinderkochbuchs "Grete kocht", Adolf Holst, wurde 1867 geboren und publizierte sein Werk erstmals 1930. Vom Lappan-Verlag nachgedruckt, zeigt das kleine Büchlein, dass sich selbst die Essentials aus Uromas Basisküche, die man vor vier Generationen getrost Sechsjährigen zumutete, in der Moderne noch marginalisieren lassen. Salatkräuter wie das wild wachsende Anisgewächs Pimpinelle stecken irgendwo unsichtbar in den Fertiggewürztütchen der Nahrungsmittelindustrie, und welches Kind anno 2006 weiß eigentlich noch, dass Apfelmus nicht in Gläsern gedeiht, sondern viel Arbeit macht, die freilich dann von unnachahmlichen Geschmackserlebnissen gekrönt wird. Ja, Apfelmus kann man selber machen! Sogar als Kind:

    " Fünf Äpflein geschält, das Kernhaus hinaus!
    In den Kochtopf voll Wasser, bis keins mehr guckt raus!
    Zitronenschale ein Stückchen hinein,
    Desgleichen Zimtstange, dann schmeckts erst recht fein!
    Sind weich alle Äpfel bis auf den Rest,
    Dann flugs durch ein Feinsieb zu Brei sie gepresst!
    Drei Esslöffel Zucker hinein noch gerührt -
    Und 's Apfelmus ist fertig! Bitt' schön, probiert! "
    [Adolf Holst: "Grete kocht!"]

    Essen ist Kultur. Der familiäre Mittags- oder Abendbrottisch bildet einen Kulturraum, in dem wir als Kinder Zivilisation erlernen. Wo er fehlt oder durch die Nahrungsaufnahme der schnellen, einsamen Art ersetzt wird, büßt nicht nur die Gesellschaft eine wichtige Instanz ein, in der das umgängliche Miteinander erprobt und zugleich mit Genuss unterlegt wird, auch das Individuum verkümmert - und verfettet zugleich. Kein Widerspruch, denn während die äußere Hülle durch Junkfoodkonsum an Umfang und Gewicht zunimmt, lässt die innere Unterscheidungsfähigkeit dramatisch nach. Das Sensorium für gute und schlechte Nahrung reduziert sich auf die Wahrnehmung von süß und sauer.

    " Wer Jungen großzieht, kommt nicht um die Frage herum, ob es gelegentlich Fastfood-Hamburger geben soll oder nicht,"

    schreiben der Jungens-Vater Christoph Biemann, bekannt aus der "Sendung mit der Maus", und die Journalistin Hilke Rosenboom, ihres Zeichens Jungens-Mutter.

    " Die vernünftige Antwort auf diese Frage lautet unseres Erachtens: Ja. Gelegentlich. Aber dafür mit Spaß! (...) Vor allem sollte man den Jungen nicht durch abfällige Kommentare den Appetit verderben. Diese Technik könnten sie leicht übel nehmen und dann selbst anwenden, während sie zum Beispiel über ihrer Müslischale hocken. Gut ist es, wenn auch die Erwachsenen sich irgendetwas bestellen und es möglichst mit Lust und Appetit verzehren. Wer selbst das Essen überhaupt nicht herunterkriegt, muss damit leben, dass er für unglaubwürdig befunden wird, und holt sich einen Kaffee. Nette Eltern unterhalten ihre Jungs, während sie mampfen, machen keine schlechte, sondern gute Stimmung und versuchen überhaupt, bei den Mahlzeiten gute Laune zu verströmen. Der Besuch im Hamburger-Restaurant sollte für alle zu einem netten, kleinen, aber leider sonst komplett belanglosen Tagesordnungspunkt werden. Vor allem sollte man Fastfood-Ketten nicht die Ehre angedeihen lassen, um ihretwillen eine Erinnerung an einen Familienstreit zu zementieren. "
    ["Mit 100 Sachen durch die Küche" S.23-24]

    Derart unideologisch ist das ganze Jungens-Kochbuch "Mit 100 Sachen durch die Küche", das sich der schwierigen Vorliebe männlicher Nachkommen für ungesunde Kost widmet. Vielleicht können die Jungens gar nichts für ihren laxen Umgang mit Essen, mutmaßen die Autoren, vielleicht meint es Mutter Natur einfach nicht gut mit ihnen. Schon im Säuglingsalter fallen sie gerne mit Blähungen und Koliken auf. Und das setzt sich im weiteren Leben fort:

    " Jungen sind oft kaufaul.

    Jungen haben wenig Zeit zum Essen.

    Viele Jungen nehmen ihre Mahlzeiten zu Hause zwangsläufig in weiblicher Gesellschaft ein. Die Abwesenheit eines Knochen nagenden Vaters verunsichert sie mit der Zeit.

    Jungen haben fast immer empfindlichere Verdauungsorgane als Mädchen.

    Jungen hassen es, wenn sie auf den Beginn des Essens warten müssen. Möglicherweise fällt auch ihr Blutzuckerspiegel schneller ab als der von Mädchen. "
    ["Mit 100 Sachen durch die Küche" S.6]

    Dagegen hilft nur Fantasie, gepaart mit abenteuerlichen Informationen, die das Essen zur Herausforderung machen. Dass Hamburger in ihrer Urform als niederländische Frikadelle aus "klein geschnittener Schweineschnauze und fein gewiegtem Kuheuter" bestanden, mag noch kontraproduktiv sein, weil es die Attraktion des Fleischbrätlings für Jungen womöglich erhöht. Aber mit eben dieser Horror-Komponente arbeiten Christoph Biemann und Hilke Rosenboom auch bei rein vegetarischen Gerichten wie der blutroten Piratensuppe. Sie enthält so horrible Zutaten - bei deren Nennung es jeden Jungen schüttelt - wie rote Beete, Fenchelknollen, weiße Rübchen und Möhren - von allem je ein halbes Kilo. Dennoch behaupten die Autoren vollmundig:

    " Wer seine Haushaltskasse aufbessern will, kann vorher Wetten abschließen, dass die Jungen diese gesunde Suppe tatsächlich essen werden. "
    ["Mit 100 Sachen durch die Küche" S. 159]

    Essen ist nämlich zu 90 Prozent Psychologie, jedenfalls beim männlichen Geschlecht. Auch auf die drängende Frage: "Was tun? Mein Sohn findet grüne Gemüse widerlich" findet das Koch- und Schreibduo praktisch umsetzbare Antworten. Eine pürierte Broccoli-Erbsensuppe soll mindestens so wirksam wie ihr Piratenpendant sein. Sie allerdings ist nicht ganz so cool, und Coolness spielt eine gewichtige Rolle in der männlichen Küche.

    " Was cool genau ist, weiß zwar niemand, aber man kann cool einige Eigenschaften
    zuordnen, "

    schreiben Biemann/Rosenboom.

    " Cooles Essen:
  • ist keinesfalls mädchenhaft.
  • sieht so aus, als könne man es keinesfalls mit Messer, Löffel und Gabel verspeisen.
  • enthält keinerlei Verzierungen oder Dekoration, es ist pur, so wie der Mann selbst.
  • sieht so aus, als wüchse der Junge ohne Mutter und möglichst auch ohne Vater auf elterliche Einflussnahme auf den Pausensnack ist nicht mehr feststellbar. "
    ["Mit 100 Sachen durch die Küche" S. 43]

    Dann greift der harte Mann eben in eine Tüte voller Keksbrösel und Schokostreusel, die mit dem verheißungsvollen Etikett "Ameisen im Sand" protzt und trotz der Ausgangsbasis Vollkornkekse nicht ganz zum Repertoire der gesunden Nahrungsmittel zählt. Aber, wie gesagt, das Buch ist unideologisch und gibt sich vor dem Endziel der richtigen Ernährung schon mal mit dem Zwischenstand ausreichender Ernährung zufrieden. Mit den durch einseitige Junkfood-Orientierung übergewichtig gewordenen Jungen ist nämlich nur die Hälfte der Klientel beschrieben. Ebenso groß dürfte die Fraktion der Wenigesser und Generalverweigerer jeder Nahrungsmittelaufnahme sein. Für sie - beziehungsweise ihre Versorger - ist dieses unterhaltsame Buch gemacht, das sich spaßig liest, einem manchmal kalte Schauer über den Rücken jagt (etwa bei der Eskimospezialität Agutuk aus Heidelbeeren und Seehundöl), manchmal jedoch auch das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt. Ein Manko hat das von Hildegard Müller wild illustrierte Kochbuch dennoch. Es fehlen fast durchgängig die Finish-Fotos fertiger Gerichte. Auf Anfänger und Küchenverzagte wirkte sich ein konkret vorhandenes Ziel sicher motivierend aus. So aber bleiben - vor allem bei ersten Misserfolgen - nagende Zweifel: Funktionieren die Exotenrezepte wirklich? Hat sie das Autorenduo selbst ausprobiert? Wir werden es nie erfahren.

    Das ist beim nächsten Buch ganz anders, denn der Initiator und Verleger kommt vom Bild her, nicht vom Wort, ohne darüber seine Zunge zu vergessen. "Große Köche kochen für kleine Genießer" nennt der Fotograf Achim Käflein einen opulenten Bildband, in dem er zwölf Maître de Cuisine - unter ihnen Drei-Sterne-Köche wie Dieter Müller, Harald Wohlfahrt und Jean Claude Bourgueil - für den Nachwuchs verlockende Gerichte auftischen lässt. Dass dabei nicht unbedingt Prätentiöses im Vordergrund steht, sondern durchaus handfeste Kost, kann nicht darüber hinwegtäuschen, welche Welten zwischen dem Spiegelei aus Gretchens Kinderküche und den Bratkartoffeln mit Spiegelei des Düsseldorfer Bourgueils liegen. Letztere sind ein Kunstwerk, wie alle Gerichte im Buch, und genau das macht die Lektüre, gar nur das einfache Durchblättern schon gefährlich. Gefährlich für all jene Eltern, die Ansprüche beim Nachwuchs wecken mögen, denen sie dann selbst nicht genügen, weil allein die Zeit für derart aufwendige Zubereitungsarten fehlt (vom Können ganz zu schweigen). Ein Buch deshalb für fortgeschrittene Genießer oder - keine schlechte Variante - eine optische Vorbereitung auf den gemeinsamen Besuch im exzellenten Restaurant. Dort mag sich der Nachwuchs mit der langen Dauer eines mehrgängigen Menüs schwer tun (auch das ist eine kulturelle Frage, respektive eine Sache der Einübung); doch Käfleins Fotos wirken selbst auf verstockte Esser wie ein unwiderstehliches Lockmittel. Kaum denkbar, dass nicht mindestens eines der Gerichte - Schnee-Eier auf Vanillesoße, Brezn-Suppe oder der "Große Hans mit Gewürzkirschen" - spontane Begehrlichkeit bei Kindern auslöst. Möge sie nur nicht so gewaltig sein, dass der Nachwuchs gleich selbst zu Topf und Pfanne greift, um sich mit den Großen der Zunft zu messen.

    Denn nichts hält sich hartnäckiger im Leben als eine frühzeitig erworbene Koch- und Küchenfrustration, die man mit überhöhten Ansprüchen erwirbt. Sie zu vermeiden, offeriert der Buchmarkt unzählige Kochbücher für Kids, mit deren Hilfe sich der Nachwuchs selbst erproben soll. Das fängt mit fünf, sechs Jahren an, unter tatkräftiger Mithilfe der Erwachsenen. Auf minimale Leseanforderungen etwa setzt "Mein allererstes Kochbuch" von Annabel Karmel, das die Standards der Kinderselbstküche von Keksen, Muffins, Nudeln und Pizza enthält. Darüber gehen - noch einmal lobend auf Christoph Biemann und Hilke Rosenboom zurückgeblickt - die wenigsten Kinderkochbücher hinaus. In "Kochen für Kids" von Jane Bull erfährt man immerhin so praktische Tipps wie den, dass man zum Zwiebelschneiden eine Schwimmbrille aufsetzen kann. Man backt "Mondgestein", setzt Rennwagen aus Gemüse zusammen und komponiert dazu passend ein "Zielflaggenbrot". Das Auge isst mit, wohl wahr, doch auf Fotos wirkt das dekorative Element weitaus angemessener als im realen, vom Hunger getriebenen Leben. Jenseits großer Anlässe wie Geburtstagsfeiern wird in Normalhaushalten wohl selten derartiger Deko-Aufwand bei Einfachkost betrieben. Kinderkochbücher gleichen sich auf frappierende Weise. Wer ein paar davon in der Hand gehalten hat, kann blinden Auges wählen und wird mit dem Ergebnis jedes Mal gleich zufrieden oder gleich unzufrieden sein. Das ganze Genre zeichnet sich durch eine hochglänzende Banalität aus und nährt den Verdacht, dass die meisten Eltern selbst keine Küchencracks mehr sind, weswegen sie sich von Inszenierungskünsten blenden lassen, die in der Alltagsküche keinen Platz finden. Ohnehin scheint es wichtiger, Kindern frühzeitig etwas über Art und Herkunft von Nahrungsmitteln zu erzählen, damit sie nicht das Tetrapak mit der Kuh verwechseln. Genau das verspricht ein Klapp-Bilderbuch von Christian Tielmann (Text) und Jan Lieffering (Bilder). "Machen Nudeln groß und stark?" heißt es und soll Vorschulkinder ans Thema heranführen. Das tut es redlich, doch sehr sachte, denn die Gefahren durch falsche Ernährung - für die das Kind selbstredend nichts kann, da es unter dem Essensdiktat seiner Eltern steht - sollen sich bloß nicht zum psychischen Druck auswachsen:

    " Was passiert mit Kevin, wenn er jeden Tag jede Menge Pommes, Chips und Süßigkeiten isst?"

    fragt der Autor rhetorisch und verrät hinter einer Seitenlasche die Antwort:

    " Dann wird Kevin dick. Dicksein ist eigentlich nicht schlimm - schließlich ist Kevin, auch wenn er dick ist, immer noch ein netter Kerl. Aber Dicksein ist auf die Dauer leider ziemlich ungesund für seinen Körper. "
    ["Machen Nudeln groß und stark?"]

    Nettigkeit kann auch an Verlogenheit grenzen, denn natürlich ist Dicksein für Kinder schlimm. Dass alles, was nicht der Norm entspricht, von den Altersgenossen mit üblem Spott überzogen wird, gehört zu den Grausamkeiten der Kindheit. Auch gut gemeinte Kuschelpädagogik ändert daran nichts. Kein Kind will dick werden, weil es genau spürt, dass es damit ins soziale Abseits gerät, und genau an diesem Punkt setzt die Aufklärung des Buches ja an. "Dicksein ist schlimm, aber Dicke sind keine schlechten Menschen und können dünner werden", müsste der Satz korrekterweise lauten. Dass es einen Zusammenhang zwischen Körperfülle und Kochliebe geben kann, illustriert der nächste Titel, mit dem wir die Sachbuchecke verlassen. Cyril ist so ein Fall von beleibtem Küchenfan, der Held in Tucker Shaws Roman "Cyril oder Wie schmeckt die Liebe?", aus dem unser Zuckerbrotrezept stammt.

    " Seit Jahren machte es Cyril viel Spaß, seine Familie zu bekochen. Seit er 13 war, betraten andere Familienmitglieder kaum noch die Küche. Das war Cyrils Reich. Er hatte vor, sich am legendären American Institute of Culinary Arts - kurz AICA - zum Koch ausbilden zu lassen, der strengsten, schwierigsten, mörderischsten und besten Schule für Köche im ganzen Land, die zufällig gerade am anderen Ende der Straße lag. Es war nur so, dass er außerhalb seiner Familie nur ungern übers Kochen redete, weil das Thema entschieden zu dicht bei einem anderen Thema lag: seinem Gewicht. Und darüber wollte Cyril auf keinen Fall sprechen. "
    ["Cyril oder Wie schmeckt die Liebe?", S.11]

    Cyrils 105 Kilo Lebendgewicht zwängen ihn in eine Identität hinein, die er nicht verlassen kann. Zeitlebens wird er wohl "bester Freund" von Mädchen bleiben - also ungeküsst und unberührt - und sich niemals in einen flammenden Eroberer verwandeln. Das bleibt seinem Kumpel Nick vorbehalten, dem es freilich an einem Instrumentarium gebricht, mit dem man Mädchen bestechen kann: sinnliche Verführungen. Cyril kocht aphroditisch, mit der Kraft des verliebten Herzens, um die angebetete Rose zu erobern - vielmehr: um das Nick zu ermöglichen. Nick gibt sich als der wahre Koch aus, erntet Lob, Dank und Liebe, und das alles erinnert an ein großes Drama der Theatergeschichte. Richtig: Cyril ist Cyrano de Bergerac in moderner Form. Statt mit Lyrik betört er mit Paninis, Pepinos und Küchentisch-Keksen, deren Rezepte die Autorin Tucker Shaw zum Nachkochen zwischen die Kapitel einschiebt. Natürlich fliegt der Schwindel irgendwann auf, und Cyril büßt bei Rose auch noch den Status des engen Vertrauten ein, weil er sie so schamlos belog. In dieser Situation, Rose hat sich mit einer Grippe ins Bett gelegt, fällt ihm nur eines ein: Hühnersuppe. Allerdings ohne Huhn, denn Rose ist alters- und geschlechtstypisch eine Vegetarierin.

    " Die Thermoskanne vor der Tür rief ihren Namen. Aber das konnte sie nicht tun. Oder doch? Sie musste. Sie war am Verhungern. Sie holte die Thermoskanne herein und las, was noch auf der Karte stand. Hühnerfreie Hühnersuppe von einem Freund. Sie verdrehte die Augen und schraubte die Kanne auf. Roch gut. (...) Als sie die Suppe in eine tiefe Suppentasse goss, stieg ihr der intensive, erdige, bodenständige und wohltuende Duft in die Nase. Sie atmete aus und beugte den Kopf tiefer über die Tasse, um noch einmal eine Nase voll zu nehmen. Wow. War es tatsächlich möglich, dass er die Suppe gekocht hatte? Noch nie zuvor hatte sie so etwas gerochen und doch war der Duft vertraut. Es ist, als hätte er mich mein ganzes Leben lang umgeben . . . oder als wollte ich ihn für den Rest meines Lebens um mich haben ... oder beides. Dann hob sie den Löffel an den Mund und spürte, wie die Suppe Wärme und Leben durch ihren Körper in ihren Bauch schickte, in ihren Kopf und ihr Herz. Ihr Arm war, seitdem sie den Löffel zum ersten Mal an den Mund geführt hatte, in ständiger Bewegung. Nachdem sie die Tasse laut schlürfend geleert hatte, griff sie nach dem Topf und schüttete sich noch etwas nach. (...) Rose badete in dem kräftigen Duft der Suppe. Plötzlich hatte sie Cyrils Bild vor Augen. (...) Was ist bloß in dieser Suppe? Sie hatte einen vollkommen klaren Kopf und gleichzeitig war ihr schwindelig. Die Suppe forderte sie auf sich schlafen zu legen und im selben Atemzug aufzuwachen. Was ist nur da drin? Sie schloss die Lider und Cyrils eisblaue Augen schauten sie an. Das war die Antwort. Cyril. In der Suppe ist Cyril. Das war Roses letzter Gedanke, bevor sie einschlief. "
    ["Cyril oder Wie schmeckt die Liebe?", S.185-187]

    Tucker Shaw hält sich in dieser Szene durchaus an wissenschaftliche Fakten; Hühnersuppe muss nicht zwingend Federvieh enthalten, um dennoch wirksam zu sein.

    " Weil Hühnersuppe ja nur heiß schmeckt, wirkt sie bei Erkältungen schleimlösend. Zudem haben Zutaten wie Liebstöckel, Ingwer, Knoblauch und Zwiebeln eine antibakterielle Wirkung,"

    klärte uns das Duo Biemann/Rosenboom schon in seinem Jungenskochbuch auf.

    " Allerdings haben Forscher festgestellt, dass ein Teil der heilsamen Wirkung von frisch gekochter Hühnersuppe auch auf das Konto von TCL geht. TCL ist ein besonders wertvoller und nicht überall verfügbarer Inhaltstoff. TCL ist die Abkürzung von "tender loving care", sanfter, liebevoller Fürsorge, deren Auswirkungen die Psychosomatiker unter den Forschern tatsächlich sehr hoch einschätzen. "
    ["Mit 100 Sachen durch die Küche" S.62]

    Wer kochen kann, hat bei Mädchen einen Stein im Brett, und so geht in Tucker Shaws Jugendroman alles gut aus. Cyril bekommt Rose, zu Nick passt ihre Freundin Jamie viel besser. Das ungesunde Zuckerbrotrezept kann für Notfälle aufgehoben werden, und vielleicht nimmt Cyril ja sogar durch liebevolle Pflege ein paar Kilo ab, weil er eben keiner Trostsüßigkeiten mehr bedarf. Die braucht der Held unseres letzten Buchs auch nicht; mit Figur und Selbstbewusstsein ist alles in Ordnung:

    " Sigmund Bastiansen Vik war normalerweise ein überaus gut aussehender, gut gekleideter junger Mann. Ellen Christine fand, er habe ein wenig Ähnlichkeit mit dem englischen Schauspieler Hugh Grant. Und das konnte man durchaus finden. Auf den ersten Blick. Die dunklen Haare lagen in Wellen um den wohlgeformten Kopf. Das weiße Baumwollhemd war frisch gebügelt und passte sehr gut zu der blauen Cordjacke, die ihm eine Art lässige intellektuelle Prägung gab. Bis zu den Knien. Dort passierte nämlich etwas. Dort fing sein Hintern an. Das tat er in Wirklichkeit natürlich nicht, denn Sigmund hatte den Hintern gleich unter dem Rücken, wie die meisten anderen Menschen, nur eben nicht an diesem Tag. An diesem Tag schien sein Hintern unter seine Knie gesackt zu sein. Ja, er schien ihn fast hinter sich her über den Kiesweg zu schleifen. Er hatte sich nämlich eine neue Hose gekauft. Die war teuer. Die war modern. Die hatte einen Hängehintern. Einige Jungen können solche Hosen tragen, ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Andere können das nicht. Sigmund sah aus wie eine Mischung aus Hugh Grant und einem Vierjährigen, dem im Kindergarten ein Missgeschick passiert ist, und es war eben seine elegante obere Hälfte, die alle Blicke auf die untere lenkte. "
    ["Das Buch vom Küssen, Rappen und Kochen"; S.56-57]

    "Das Buch vom Küssen, Rappen und Kochen" nennt der norwegische Autor Klaus Hagerup seinen komischen wie einfühlsamen Jugendroman, der ebenfalls aufs Cyrano-Motiv zurückgreift. Wieder steht ein Jungens-Duo im Mittelpunkt, das um die Liebe einer Frau buhlt, ihres Zeichens die berühmteste Rapperin Norwegens. Um diese Bente zu beeindrucken, verwandelt sich der eher intellektuelle Sigmund in einen Rapper von der traurigen Gestalt, während sein unscheinbarer Freund Markus ihm Songtexte voller Sehnsucht und Verzweiflung schreibt, wie sie eben nur unscheinbare Menschen schreiben können. Sigmund, der über sein blendendes Aussehen hinaus auch noch ein formidabler Koch ist, robbt und rappt sich mit den fremden Texten an Bente heran - blitzt aber ebenso ab wie Markus, der im Lauf der Geschichte entdeckt, dass er ebenfalls in sie verliebt ist. Der Schluss kommt für Markus wie für den Leser vollkommen überraschend:

    ""Ich bin nicht in Sigmund verliebt", flüsterte Bente.
    "Das weiß ich", sagte er.
    "Ich bin auch nicht in dich verliebt."
    "Ach?"
    "Ich bin in jemand anders verliebt." Markus nickte. "Wie heißt er?"
    Bente strich sich die Haare aus der Stirn. "Er heißt Beate", sagte sie. Dann drehte sie sich um und lief den Weg hinunter in die Dunkelheit, durch die ihre Freundin Hand in Hand mit ihrem Freund ging. "
    ["Das Buch vom Küssen, Rappen und Kochen"; S.217]

    Klaus Hagerup schreibt kenntnisreich und jugendnah, ohne je anbiedernd zu werden, was angesichts der spezifischen Rapperästhetik Erwachsenen durchaus unterlaufen könnte. Ja, er schafft es, zwei sehr verschiedene Freunde gleich sympathisch erscheinen und keinen der beiden den Wettkampf durch angeborene Vorteile gewinnen zu lassen. Insofern überschreitet er das Original des "Cyrano de Bergerac" sogar und macht den Stoff realistischer. Rezepte enthält der Roman keine, dafür etwas Rap-Lyrik, und die verbindet das letzte Buch der Sendung mit dem ersten, "Grete kocht". Geschrieben 1930, mögen dessen Reime heute eher so gesprochen werden:

    " Habt ihr fleißig nun studiert
    All die feinen Sachen?
    Dann ans Werk und selbst probiert,
    Wie man es muss machen!
    Hat auch manches seine Tücken,
    Schließlich wird es doch euch glücken,
    Und zuletzt - juchheirassa! -
    Steht es ohne Tadel da!"


    Besprochene Bücher

    Christoph Biemann, Hilke Rosenboom: "Mit 100 Sachen durch die Küche"
    Mit Illustrationen von Hildegard Müller
    Hanser Verlag, 168 Seiten, 16,90 Euro

    Jane Bull: "Kochen für Kids"
    Aus dem Englischen von Wiebke Krabbe
    Dorling Kindersley, 48 Seiten, 10,50 Euro

    Klaus Hagerup: "Das Buch vom Küssen, Rappen und Kochen"
    Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
    Sauerländer Verlag, 222 Seiten, 14,90 Euro

    Adolf Holst: "Grete kocht!"
    Mit Bildern von Else Wenz-Viëtor
    Lappan Verlag, 20 Seiten, 9,95 Euro

    Achim Käflein: "Große Köche kochen für kleine Genießer"
    Mit Illustrationen von Gerhard Glück
    edition kaeflein, 160 Seiten, 35 Euro

    Annabel Karmel: "Mein allererstes Kochbuch"
    Aus dem Englischen von Wiebke Krabbe
    Dorling Kindersley, 48 Seiten, 9,90 Euro

    Tucker Shaw: "Cyril oder Wie schmeckt die Liebe?"
    Aus dem Amerikanischen von Ulla Höfker
    Arena Verlag [Taschenbuchausgabe]
    217 Seiten, 6,50 Euro

    Christian Tielmann (Text), Jan Lieffering (Bilder):
    "Machen Nudeln groß und stark?"
    Patmos Verlag, 32 Seiten, 10,90 Euro