"Bulgarien und Rumänien haben sehr hart gearbeitet und schon einen langen Weg hinter sich. Aber sie sind heute noch nicht voll und ganz vorbereitet, um der Europäischen Union beizutreten."
Das sagte der EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn im Oktober vergangenen Jahres. Damals hatte die EU-Kommission gerade ihren letzten Fortschrittsbericht für Rumänien und Bulgarien vorgelegt. Der Tenor damals: Viel ist passiert, viele Reformen wurden durchgeführt, viele Strukturen verändert. Aber es war noch nicht genug, um tatsächlich am 1. Januar 2007 der Europäischen Union beitreten zu können.
Seitdem sind sieben Monate vergangen. Sieben Monate, in denen sich die EU-Kommission nicht mehr offiziell zu den beiden Beitrittsländern und ihren Fortschritten geäußert hat.
Morgen soll das Schweigen gebrochen werden. Morgen wird die europäische Behörde in Brüssel wieder einen Bericht vorlegen. Er soll der letzte sein und ein Beitrittsdatum empfehlen.
Im Vorfeld des Berichts gehen die Meinungen über die EU-Tauglichkeit von Bulgarien auseinander. Fest steht eigentlich nur eines: Das Land wird der Europäischen Union beitreten. So steht es in den Verträgen.
"Die EU ist eine Gemeinschaft, wo das Recht herrscht und dann muss man sich auch an das Recht halten. Und das Recht ist auch der Beitrittsvertrag. Dieser Vertrag gibt die zwei Optionen 2007 oder 2008. Es gibt keine anderen Optionen. Ich glaube, das ist eine sehr klare rechtliche Lage für ein Versprechen, das die EU gemacht hat. Und das sollte die EU nun auch halten."
... sagt Krisztina Nagy, Sprecherin des Erweiterungskommissars. Den Beitrittsvertrag haben Bulgarien und die bisherigen EU-Mitgliedsstaaten am 15. Juni 2004 unterschrieben. 1999 empfahl die EU-Kommission den Beitritt Bulgariens, und ein Jahr darauf begannen dann die entsprechenden Verhandlungen, die nach zweieinhalb Jahren erfolgreich abgeschlossen werden konnten.
Bulgarien gehört damit – wie auch Rumänien – noch zu der großen Erweiterung von 2004. Eigentlich hätten beide Länder gleichzeitig mit Polen, Ungarn und all den anderen Staaten aus dem ehemaligen Ostblock beitreten sollen. Aber:
"Bulgarien und Rumänien konnten nicht mit den anderen Ländern zusammen beitreten in 2004, weil sie nicht vorbereitet waren. Und die EU konnte das nicht zulassen. Deswegen haben sie einen späteren Zeitpunkt bekommen. Sie haben ernorme Fortschritte gemacht. Deswegen konnten sie die Verhandlungen schließen. Und darüber waren alle Mitgliedsstaaten einig."
... erklärt die Kommissionssprecherin. - Abgeschlossene Verhandlungen bedeuten: Der Beitritt ist versprochen. Ein Datum wird festgelegt – im Falle Bulgariens der 1. Januar 2007. Im Gegenzug muss sich das Land zu bestimmten Reformen verpflichten, um sich der Europäischen Gesetzgebung anzupassen. Die Arbeit für das zukünftige Mitgliedsland fängt also erst richtig an. Und auch nach diesem Vertragsabschluss hört die Europäische Kommission nicht auf, das Land genau zu beobachten. Krisztina Nagy:
"Wir haben eine Delegation in Sofia, in Bukarest, in jedem Land. Und von dieser Delegation bekommen wir täglich Informationen darüber, was in diesem Land passiert, welche Gesetze sind verabschiedet, welche Reformen passiert, was steht in den Zeitungen. Außerdem haben wir auch viele Kontakte zur Zivilgesellschaft und dann gibt es Expertenreisen, die in kleinen Gruppen dorthin fahren und die Sachen ganz konkret anschauen."
Solche Experten sind seit zwei Jahren regelmäßig in Bulgarien unterwegs. Aus ihren Berichten strickt die EU-Kommission die globale Beurteilung, die morgen vorgestellt werden soll. - Krisztina Nagy mit einem Beispiel:
"Wenn es um die Außengrenzenkontrollen geht, dann gehen Experten von Mitgliedsstaaten, die das kennen, wie Grenzkontrolle aussehen soll, dorthin, und dann gucken sie die Stationen an und schauen, ob die Computersysteme in Ordnung sind und die Infrarot-Ferngläser dort sind und alles, was nötig ist, um die Außengrenze der EU zu schützen."
Jedes Mal, wenn die Experten von ihren Reisen zurückkommen, blicken die Europäischen Institutionen in Brüssel, aber natürlich auch die Politiker in der bulgarischen Hauptstadt Sofia mit Spannung und Interesse auf die Ergebnisse. Denn es sind diese Berichte, die letztendlich über den Beitritt Bulgariens entscheiden werden.
Die Grundlage dafür sind die so genannten Kopenhagener Kriterien, die auf dem EU-Gipfel in der dänischen Stadt 1993 festgelegt worden sind. Dazu gehören politische Elemente: zum Beispiel ein gut funktionierender Rechtsstaat und demokratische Wahlen. Der zweite Bereich betrifft die Wirtschaft. Das Land muss über eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft verfügen. Und die dritte Hürde ist der so genannte "acquis communautaire", also die bereits bestehende europäische Gesetzgebung, die in den Beitrittsländern – noch vor der eigentlichen Erweiterung – umgesetzt werden muss.
In einigen Bereichen wurde die EU-Gesetzgebung auch schon weitgehend übertragen. Das sagt zumindest Atanas Paparizon. Er ist Sozialist und seit ein paar Monaten Beobachter im Europäischen Parlament. Sobald sein Land beigetreten ist, wird er zum Abgeordneten mit allen Rechten und Pflichten. Bis dahin darf er nur zuschauen und mitreden, nicht aber mit abstimmen. Paparizon gibt ein Beispiel für die ganz konkreten Fortschritte in seinem Land:
"Wir haben zum Beispiel unglaublich viele neue Gesetze erlassen, was die Normen für Wasser, Luftqualität und Lärmregulierung angeht. Die CO2-Belastung von unseren Kohlekraftwerken wird gesenkt, damit wir die europäischen Normen erfüllen. Wir tun da schon sehr viel."
Das anerkennt auch die Europäische Kommission. Aber in den vergangenen Monaten ist die Kritik an Bulgarien immer lauter geworden. Und sie zielt vor allem auf das Justizsystem des Balkanstaates.
Vor einigen Wochen hatte der Bericht eines deutschen Experten für Aufregung gesorgt. Der Kriminalbeamte Klaus Jansen hatte die Arbeit der Polizei und Untersuchungsbehörden analysiert und war zu dem Schluss gekommen, dass Bulgarien in diesem Bereich auf keinen Fall beitrittsfähig sei. Er bezeichnete die Zustände in dem Land als - so wörtlich - "chaotisch". Atanas Paparizon hält das für völlig übertrieben:
"Wir hatten im letzten Jahr über 60 Experten in unserem Land. Tatsächlich waren die Berichte der beiden letzten deutschen Experten negativ, aber das bedeutet nicht, dass das Gesamtbild negativ ausfällt – ganz im Gegenteil. Diese beiden Berichte fallen völlig aus dem Kontext und werden von denjenigen Euroskeptikern benutzt, die ein negatives Bild von Bulgarien zeichnen wollen."
Auch der EU-Kommissar, der für Justiz und Inneres zuständig ist, relativierte die Aussagen des Deutschen. Das sei die Meinung eines einzelnen Experten, nicht die der EU-Kommission, ließ Franco Frattini in einer Pressemitteilung verlauten.
Unumstritten ist jedoch, dass Bulgarien mit der Korruption und dem organisierten Verbrechen nach wie vor große Probleme hat. Und das liegt zuallererst an der geografischen Lage Bulgariens. Das Land grenzt nicht nur an Griechenland, sondern auch an Mazedonien, Serbien und die Türkei. Lucia Montanaro-Jankovski, Beraterin beim Brüsseler Think Tank "European Policy Center":
"Das Problem auf dem Balkan ist, dass es immer mehr kriminelle Netzwerke gibt, nationale, regionale, aber auch russische und italienische Mafia. Und diese Netzwerke streiten um die Märkte. Und deshalb gibt es in Bulgarien eben auch so viele Auftragsmorde."
Rund 150 Auftragsmorde musste die bulgarische Polizei in den vergangenen Jahren registrieren. Dieses Problem sieht auch der bulgarische Abgeordnete Atanas Paparizon – aber:
"Sie können nicht den Kosovo 70 Kilometer von Sofia entfernt haben und keinen Spill-Over-Effekt was das organisierte Verbrechen angeht – vom Balkan zu all den anderen. Das Umfeld von Bulgarien, die illegalen Routen durch das Land, dagegen müssen wir etwas unternehmen."
Tatsächlich hat Bulgarien bereits zahlreiche Gesetze verabschiedet, um gegen die Mafia, den Menschenhandel und andere Verbrechen vorzugehen. 40 Staatsbeamte wurden bereits entlassen, gegen 36 ermittelt die Staatsanwaltschaft. - Allerdings lassen andere konkrete Ergebnisse auf sich warten.
Die Vertretung Bulgariens bei der Europäischen Union will sich bis zur Veröffentlichung des Berichts nicht offiziell zu den Vorwürfen äußern. Aber der sozialistische Beobachter im EU-Parlament Atanas Paparizon verteidigt schon jetzt sein Land:
"Die Zahl von Verbrechen pro Einwohner ist niedriger als in Deutschland. Aber wir haben das Problem, dass der Kampf gegen die großen Mafiabosse noch niemanden ins Gefängnis gebracht hat. Wir müssen die demokratischen Strukturen beachten. Wir können nicht einfach unseren ehemaligen Premierminister verhaften, nur um der EU zu zeigen, wie effektiv wir arbeiten."
Überhaupt, meint der bulgarische Politiker, seien die Vorwürfe aus der Europäischen Union manchmal einfach zu kurz gegriffen. Die Reformen seien schmerzlich für die bulgarische Bevölkerung, es brauche Zeit, und die kommunistische Vergangenheit könne man nicht einfach so abstreifen.
Die Bevölkerung sei gerade erst dabei, ein politisches Bewusstsein zu entwickeln, meint Marijana Grandits vom "Balkan-Stabilitätspakt". Diese Organisation hat die Europäische Union vor sieben Jahren ins Leben gerufen, um die Balkan-Region zu stärken. Marijana Grandits mit einem Beispiel:
"Und hier geht es darum, dass Selbstverständnis der Parlamentarier zu schärfen, dass sie wirklich ein unabhängiges Organ sind, gesetzgebend, aber gleichzeitig kontrollierend und zwar vis-à-vis der Regierung, verpflichtet ihren Wählern, und nicht ein Vollzugsorgan sind, was oft noch ein bisschen missverstanden wird, vor allem wenn man von der regierenden Partei kommt. "
All diese Probleme haben dazu geführt, dass die Europäische Union sehr vorsichtig geworden ist. Im Juni 2004 führte die Kommission deshalb eine bisher noch nie benutzte Schutzklausel ein. Das bedeutet: Sollte Bulgarien noch nicht reif sein, könnte der Beitritt um noch ein weiteres Jahr, also bis zum Januar 2008 verschoben werden. Kommissionssprecherin Krisztina Nagy:
""Das ist etwas Neues. So eine Klausel gab es in den früheren Erweiterungsrunden nicht. Das war nötig, weil es gab Zeichen von Bereichen, wo man das nicht so vorher sehen konnte, dass tatsächlich alle diese Aufgaben bis zum 1. Januar 2007 ausgeführt werden können."
Und genau darüber soll die EU-Kommission eigentlich morgen entscheiden: Empfiehlt sie den Beitritt schon für 2007 oder eben erst für ein Jahr später. Die Vorsitzende der Bulgarien-Delegation im Europäischen Parlament, Catherine Guy-Quint setzt sich eindeutig für einen frühen Beitritt ein:
"Für die Reformen ändert das eine Jahr hin oder her überhaupt nichts. Die gehen in ihrem Rhythmus weiter. Aber es dauert jetzt schon einige Jahre, dass die Bevölkerung auf diese Erweiterung wartet. Ich befürchte, dass eine Verschiebung grosse Enttäuschung zur Folge hätte, und sich die Bulgaren rechtsextremen Parteien zuwenden."
So weit ist es aber noch nicht. Bisher befürworten noch immer über 70 Prozent der Bulgaren den Beitritt ihres Landes zur EU. Und der deutsche Europapolitiker Elmar Brok hält eine Verschiebung der Erweiterung auf 2008 sowieso für ziemlich unwahrscheinlich. Denn: Dafür wäre eine einstimmige Entscheidung im Ministerrat nötig.
"Der Punkt ist: Wer will die politische Verantwortung übernehmen und den ersten Schritt machen? Es ist immer noch so, dass es alle 25 sein müssen. Man hat ja bei Rumänien die Mehrstimmigkeit, bei Bulgarien die Einstimmigkeit, weil man damals noch davon ausging, dass Rumänien der schwächere Kandidat ist."
Ob sich die Kommission morgen auf ein Datum festlegt, ist sowieso noch unklar. In den vergangenen Tagen wurden immer mehr Vermutungen laut, die Kommission werde zwar ihren Bericht vorlegen, die endgültige Entscheidung aber bis in den Oktober verschieben. So solle dem Land noch einmal Zeit für mehr Reformen gegeben werden.
Die Kommission will das bisher nicht offiziell bestätigen. Und die Vorsitzende der Bulgarien-Delegation im Europäischen Parlament, Catherine Guy-Quint hielte eine solche Entscheidung für "völlig falsch":
"Die Kommission war für die anderen zehn Länder auch nicht so streng. Und jetzt – als hätte sie plötzlich ein schlechtes Gewissen – zieht sie die Schrauben an. Ich verstehe nicht, wie man so lax sein konnte mit manchen Ländern und jetzt für die letzten zwei die Anforderungen so unglaublich drakonisch werden lässt."
Ganz gleich, wann Bulgarien schließlich beitreten wird. Eines steht jedenfalls schon fest: Alle von der EU geforderten Kriterien wird das Land noch nicht erfüllen – auch nicht 2008. Deshalb befürworten immer mehr Politiker in Brüssel eine andere Alternative. Elmar Brok:
"Da gibt es noch eine zweite Möglichkeit, die möglicherweise kommen wird, die Einführung von Schutzklausel, dass ein solcher Bereich geschlossen noch nicht übernommen wird und in dem Teil sozusagen noch nicht Mitglied der Europäischen Union ist."
Solche Schutzklauseln gibt es bereits für andere Länder. Ein Beispiel ist die Beschränkung des Binnenmarktes für Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsstaaten. Polen, Ungarn und Tschechen dürfen auch zwei Jahre nach ihrem Beitritt noch nicht uneingeschränkt in Frankreich oder Deutschland arbeiten. Auch für bestimmte Lebensmittel gibt es Handelsbeschränkungen. Ähnliche Regelungen sind also auch für Bulgarien vorstellbar. Allerdings warnt die Politikwissenschaftlerin Lucia Montanaro-Jankovski vor zu vielen Beschränkungen:
"Ich denke, wenn es Schutzklauseln im Bereich Binnenmarkt gibt, dann wird das sehr negativ aufgenommen werden in Bulgarien. Viele lokale Unternehmen haben viel investiert, um den europäischen Anforderungen zu entsprechen. Sie werden sich verraten fühlen."
Es ist also Fingerspitzengefühl gefragt – morgen in der Europäischen Kommission. Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, wird sie vermutlich direkte Auswirkungen haben auf die bulgarische Politik und Gesellschaft.
Und während der Blick der meisten europäischen Politiker auf die Beitrittsländer immer strenger wird, erinnern sich einige auch daran, dass nicht nur Bulgarien oder Rumänien, sondern auch die Europäische Union selbst einige Hausaufgaben zu machen hat. Denn die Institutionen haben dringende Reformen nötig. Die sollten eigentlich mit der Verfassung kommen. Seitdem die aber auf Eis liegt, stehen auch die Reformen innerhalb der EU still. Für Elmar Brok bedeutet dies, dass...:
"... je mehr Länder wir sind, wir nicht mehr zu schnellen Entscheidungen kommen, weil es Vetomöglichkeiten gibt, und der weitere Punkt ist, dass wir sehen müssen, dass die EU auch in finanzieller Hinsicht zu Ende kommt. Das ging mit Bulgarien und Rumänien noch. Die sind in der Finanzplanung bis 2013 vorgesehen. Aber nur diese beiden sind vorgesehen, und das geht auch nur mit Ach und Krach, sodass wir an diesem Punkt wirklich sehen müssen, dass die Europäische Union ans Ende
ihrer Aufnahmefähigkeit gekommen ist und innere Strukturen verändern muss."
Innere Strukturen verändern – das heißt zum Beispiel, dass die Mitgliedsstaaten in Zukunft ihre Entscheidungen mit einfachen Mehrheiten und nicht einstimmig treffen sollten, damit nicht ein Staat alle anderen blockieren kann. Auch über die Zusammensetzung der EU-Kommission muss nachgedacht werden. Bisher gilt der Grundsatz: Ein Kommissar pro Land. Jetzt sind es also 25, bald 27. Fruchtbare Diskussionen und schnelle Entscheidungen sind da kaum noch möglich.
Die alten Mitgliedsstaaten müssen deshalb nicht nur den Kandidaten auf die Finger schauen, sondern auch selbst die bestehenden Strukturen weiter entwickeln. Nur so – sagt Elmar Brok – seien eine Vertiefung und die Erweiterung gleichzeitig möglich. - Schließlich wartet noch eine Handvoll anderer Länder auf dem Balkan auf ihren Beitritt zur Staatengemeinschaft. Und die, das meint zumindest Marijana Grandits vom Balkan-Stabilitätspakt, werden nicht mehr ewig warten:
"Ich glaube, es gibt keine Alternative. Alleine, wenn sie sich die Geografie ansehen und sich vorstellen, dass nach Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Mazedonien dann ein Patchwork von Ländern übrig bleibt, die zwischen diesen Schon-Mitgliedsstaaten eingebettet sind. Das würde mehr Probleme verursachen für die europäische Union als eine Mitgliedschaft. Die Perspektive von zehn, 15 Jahren muss aufrecht erhalten sein, um dieses Europa fertigzustellen."
Das sagte der EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn im Oktober vergangenen Jahres. Damals hatte die EU-Kommission gerade ihren letzten Fortschrittsbericht für Rumänien und Bulgarien vorgelegt. Der Tenor damals: Viel ist passiert, viele Reformen wurden durchgeführt, viele Strukturen verändert. Aber es war noch nicht genug, um tatsächlich am 1. Januar 2007 der Europäischen Union beitreten zu können.
Seitdem sind sieben Monate vergangen. Sieben Monate, in denen sich die EU-Kommission nicht mehr offiziell zu den beiden Beitrittsländern und ihren Fortschritten geäußert hat.
Morgen soll das Schweigen gebrochen werden. Morgen wird die europäische Behörde in Brüssel wieder einen Bericht vorlegen. Er soll der letzte sein und ein Beitrittsdatum empfehlen.
Im Vorfeld des Berichts gehen die Meinungen über die EU-Tauglichkeit von Bulgarien auseinander. Fest steht eigentlich nur eines: Das Land wird der Europäischen Union beitreten. So steht es in den Verträgen.
"Die EU ist eine Gemeinschaft, wo das Recht herrscht und dann muss man sich auch an das Recht halten. Und das Recht ist auch der Beitrittsvertrag. Dieser Vertrag gibt die zwei Optionen 2007 oder 2008. Es gibt keine anderen Optionen. Ich glaube, das ist eine sehr klare rechtliche Lage für ein Versprechen, das die EU gemacht hat. Und das sollte die EU nun auch halten."
... sagt Krisztina Nagy, Sprecherin des Erweiterungskommissars. Den Beitrittsvertrag haben Bulgarien und die bisherigen EU-Mitgliedsstaaten am 15. Juni 2004 unterschrieben. 1999 empfahl die EU-Kommission den Beitritt Bulgariens, und ein Jahr darauf begannen dann die entsprechenden Verhandlungen, die nach zweieinhalb Jahren erfolgreich abgeschlossen werden konnten.
Bulgarien gehört damit – wie auch Rumänien – noch zu der großen Erweiterung von 2004. Eigentlich hätten beide Länder gleichzeitig mit Polen, Ungarn und all den anderen Staaten aus dem ehemaligen Ostblock beitreten sollen. Aber:
"Bulgarien und Rumänien konnten nicht mit den anderen Ländern zusammen beitreten in 2004, weil sie nicht vorbereitet waren. Und die EU konnte das nicht zulassen. Deswegen haben sie einen späteren Zeitpunkt bekommen. Sie haben ernorme Fortschritte gemacht. Deswegen konnten sie die Verhandlungen schließen. Und darüber waren alle Mitgliedsstaaten einig."
... erklärt die Kommissionssprecherin. - Abgeschlossene Verhandlungen bedeuten: Der Beitritt ist versprochen. Ein Datum wird festgelegt – im Falle Bulgariens der 1. Januar 2007. Im Gegenzug muss sich das Land zu bestimmten Reformen verpflichten, um sich der Europäischen Gesetzgebung anzupassen. Die Arbeit für das zukünftige Mitgliedsland fängt also erst richtig an. Und auch nach diesem Vertragsabschluss hört die Europäische Kommission nicht auf, das Land genau zu beobachten. Krisztina Nagy:
"Wir haben eine Delegation in Sofia, in Bukarest, in jedem Land. Und von dieser Delegation bekommen wir täglich Informationen darüber, was in diesem Land passiert, welche Gesetze sind verabschiedet, welche Reformen passiert, was steht in den Zeitungen. Außerdem haben wir auch viele Kontakte zur Zivilgesellschaft und dann gibt es Expertenreisen, die in kleinen Gruppen dorthin fahren und die Sachen ganz konkret anschauen."
Solche Experten sind seit zwei Jahren regelmäßig in Bulgarien unterwegs. Aus ihren Berichten strickt die EU-Kommission die globale Beurteilung, die morgen vorgestellt werden soll. - Krisztina Nagy mit einem Beispiel:
"Wenn es um die Außengrenzenkontrollen geht, dann gehen Experten von Mitgliedsstaaten, die das kennen, wie Grenzkontrolle aussehen soll, dorthin, und dann gucken sie die Stationen an und schauen, ob die Computersysteme in Ordnung sind und die Infrarot-Ferngläser dort sind und alles, was nötig ist, um die Außengrenze der EU zu schützen."
Jedes Mal, wenn die Experten von ihren Reisen zurückkommen, blicken die Europäischen Institutionen in Brüssel, aber natürlich auch die Politiker in der bulgarischen Hauptstadt Sofia mit Spannung und Interesse auf die Ergebnisse. Denn es sind diese Berichte, die letztendlich über den Beitritt Bulgariens entscheiden werden.
Die Grundlage dafür sind die so genannten Kopenhagener Kriterien, die auf dem EU-Gipfel in der dänischen Stadt 1993 festgelegt worden sind. Dazu gehören politische Elemente: zum Beispiel ein gut funktionierender Rechtsstaat und demokratische Wahlen. Der zweite Bereich betrifft die Wirtschaft. Das Land muss über eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft verfügen. Und die dritte Hürde ist der so genannte "acquis communautaire", also die bereits bestehende europäische Gesetzgebung, die in den Beitrittsländern – noch vor der eigentlichen Erweiterung – umgesetzt werden muss.
In einigen Bereichen wurde die EU-Gesetzgebung auch schon weitgehend übertragen. Das sagt zumindest Atanas Paparizon. Er ist Sozialist und seit ein paar Monaten Beobachter im Europäischen Parlament. Sobald sein Land beigetreten ist, wird er zum Abgeordneten mit allen Rechten und Pflichten. Bis dahin darf er nur zuschauen und mitreden, nicht aber mit abstimmen. Paparizon gibt ein Beispiel für die ganz konkreten Fortschritte in seinem Land:
"Wir haben zum Beispiel unglaublich viele neue Gesetze erlassen, was die Normen für Wasser, Luftqualität und Lärmregulierung angeht. Die CO2-Belastung von unseren Kohlekraftwerken wird gesenkt, damit wir die europäischen Normen erfüllen. Wir tun da schon sehr viel."
Das anerkennt auch die Europäische Kommission. Aber in den vergangenen Monaten ist die Kritik an Bulgarien immer lauter geworden. Und sie zielt vor allem auf das Justizsystem des Balkanstaates.
Vor einigen Wochen hatte der Bericht eines deutschen Experten für Aufregung gesorgt. Der Kriminalbeamte Klaus Jansen hatte die Arbeit der Polizei und Untersuchungsbehörden analysiert und war zu dem Schluss gekommen, dass Bulgarien in diesem Bereich auf keinen Fall beitrittsfähig sei. Er bezeichnete die Zustände in dem Land als - so wörtlich - "chaotisch". Atanas Paparizon hält das für völlig übertrieben:
"Wir hatten im letzten Jahr über 60 Experten in unserem Land. Tatsächlich waren die Berichte der beiden letzten deutschen Experten negativ, aber das bedeutet nicht, dass das Gesamtbild negativ ausfällt – ganz im Gegenteil. Diese beiden Berichte fallen völlig aus dem Kontext und werden von denjenigen Euroskeptikern benutzt, die ein negatives Bild von Bulgarien zeichnen wollen."
Auch der EU-Kommissar, der für Justiz und Inneres zuständig ist, relativierte die Aussagen des Deutschen. Das sei die Meinung eines einzelnen Experten, nicht die der EU-Kommission, ließ Franco Frattini in einer Pressemitteilung verlauten.
Unumstritten ist jedoch, dass Bulgarien mit der Korruption und dem organisierten Verbrechen nach wie vor große Probleme hat. Und das liegt zuallererst an der geografischen Lage Bulgariens. Das Land grenzt nicht nur an Griechenland, sondern auch an Mazedonien, Serbien und die Türkei. Lucia Montanaro-Jankovski, Beraterin beim Brüsseler Think Tank "European Policy Center":
"Das Problem auf dem Balkan ist, dass es immer mehr kriminelle Netzwerke gibt, nationale, regionale, aber auch russische und italienische Mafia. Und diese Netzwerke streiten um die Märkte. Und deshalb gibt es in Bulgarien eben auch so viele Auftragsmorde."
Rund 150 Auftragsmorde musste die bulgarische Polizei in den vergangenen Jahren registrieren. Dieses Problem sieht auch der bulgarische Abgeordnete Atanas Paparizon – aber:
"Sie können nicht den Kosovo 70 Kilometer von Sofia entfernt haben und keinen Spill-Over-Effekt was das organisierte Verbrechen angeht – vom Balkan zu all den anderen. Das Umfeld von Bulgarien, die illegalen Routen durch das Land, dagegen müssen wir etwas unternehmen."
Tatsächlich hat Bulgarien bereits zahlreiche Gesetze verabschiedet, um gegen die Mafia, den Menschenhandel und andere Verbrechen vorzugehen. 40 Staatsbeamte wurden bereits entlassen, gegen 36 ermittelt die Staatsanwaltschaft. - Allerdings lassen andere konkrete Ergebnisse auf sich warten.
Die Vertretung Bulgariens bei der Europäischen Union will sich bis zur Veröffentlichung des Berichts nicht offiziell zu den Vorwürfen äußern. Aber der sozialistische Beobachter im EU-Parlament Atanas Paparizon verteidigt schon jetzt sein Land:
"Die Zahl von Verbrechen pro Einwohner ist niedriger als in Deutschland. Aber wir haben das Problem, dass der Kampf gegen die großen Mafiabosse noch niemanden ins Gefängnis gebracht hat. Wir müssen die demokratischen Strukturen beachten. Wir können nicht einfach unseren ehemaligen Premierminister verhaften, nur um der EU zu zeigen, wie effektiv wir arbeiten."
Überhaupt, meint der bulgarische Politiker, seien die Vorwürfe aus der Europäischen Union manchmal einfach zu kurz gegriffen. Die Reformen seien schmerzlich für die bulgarische Bevölkerung, es brauche Zeit, und die kommunistische Vergangenheit könne man nicht einfach so abstreifen.
Die Bevölkerung sei gerade erst dabei, ein politisches Bewusstsein zu entwickeln, meint Marijana Grandits vom "Balkan-Stabilitätspakt". Diese Organisation hat die Europäische Union vor sieben Jahren ins Leben gerufen, um die Balkan-Region zu stärken. Marijana Grandits mit einem Beispiel:
"Und hier geht es darum, dass Selbstverständnis der Parlamentarier zu schärfen, dass sie wirklich ein unabhängiges Organ sind, gesetzgebend, aber gleichzeitig kontrollierend und zwar vis-à-vis der Regierung, verpflichtet ihren Wählern, und nicht ein Vollzugsorgan sind, was oft noch ein bisschen missverstanden wird, vor allem wenn man von der regierenden Partei kommt. "
All diese Probleme haben dazu geführt, dass die Europäische Union sehr vorsichtig geworden ist. Im Juni 2004 führte die Kommission deshalb eine bisher noch nie benutzte Schutzklausel ein. Das bedeutet: Sollte Bulgarien noch nicht reif sein, könnte der Beitritt um noch ein weiteres Jahr, also bis zum Januar 2008 verschoben werden. Kommissionssprecherin Krisztina Nagy:
""Das ist etwas Neues. So eine Klausel gab es in den früheren Erweiterungsrunden nicht. Das war nötig, weil es gab Zeichen von Bereichen, wo man das nicht so vorher sehen konnte, dass tatsächlich alle diese Aufgaben bis zum 1. Januar 2007 ausgeführt werden können."
Und genau darüber soll die EU-Kommission eigentlich morgen entscheiden: Empfiehlt sie den Beitritt schon für 2007 oder eben erst für ein Jahr später. Die Vorsitzende der Bulgarien-Delegation im Europäischen Parlament, Catherine Guy-Quint setzt sich eindeutig für einen frühen Beitritt ein:
"Für die Reformen ändert das eine Jahr hin oder her überhaupt nichts. Die gehen in ihrem Rhythmus weiter. Aber es dauert jetzt schon einige Jahre, dass die Bevölkerung auf diese Erweiterung wartet. Ich befürchte, dass eine Verschiebung grosse Enttäuschung zur Folge hätte, und sich die Bulgaren rechtsextremen Parteien zuwenden."
So weit ist es aber noch nicht. Bisher befürworten noch immer über 70 Prozent der Bulgaren den Beitritt ihres Landes zur EU. Und der deutsche Europapolitiker Elmar Brok hält eine Verschiebung der Erweiterung auf 2008 sowieso für ziemlich unwahrscheinlich. Denn: Dafür wäre eine einstimmige Entscheidung im Ministerrat nötig.
"Der Punkt ist: Wer will die politische Verantwortung übernehmen und den ersten Schritt machen? Es ist immer noch so, dass es alle 25 sein müssen. Man hat ja bei Rumänien die Mehrstimmigkeit, bei Bulgarien die Einstimmigkeit, weil man damals noch davon ausging, dass Rumänien der schwächere Kandidat ist."
Ob sich die Kommission morgen auf ein Datum festlegt, ist sowieso noch unklar. In den vergangenen Tagen wurden immer mehr Vermutungen laut, die Kommission werde zwar ihren Bericht vorlegen, die endgültige Entscheidung aber bis in den Oktober verschieben. So solle dem Land noch einmal Zeit für mehr Reformen gegeben werden.
Die Kommission will das bisher nicht offiziell bestätigen. Und die Vorsitzende der Bulgarien-Delegation im Europäischen Parlament, Catherine Guy-Quint hielte eine solche Entscheidung für "völlig falsch":
"Die Kommission war für die anderen zehn Länder auch nicht so streng. Und jetzt – als hätte sie plötzlich ein schlechtes Gewissen – zieht sie die Schrauben an. Ich verstehe nicht, wie man so lax sein konnte mit manchen Ländern und jetzt für die letzten zwei die Anforderungen so unglaublich drakonisch werden lässt."
Ganz gleich, wann Bulgarien schließlich beitreten wird. Eines steht jedenfalls schon fest: Alle von der EU geforderten Kriterien wird das Land noch nicht erfüllen – auch nicht 2008. Deshalb befürworten immer mehr Politiker in Brüssel eine andere Alternative. Elmar Brok:
"Da gibt es noch eine zweite Möglichkeit, die möglicherweise kommen wird, die Einführung von Schutzklausel, dass ein solcher Bereich geschlossen noch nicht übernommen wird und in dem Teil sozusagen noch nicht Mitglied der Europäischen Union ist."
Solche Schutzklauseln gibt es bereits für andere Länder. Ein Beispiel ist die Beschränkung des Binnenmarktes für Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsstaaten. Polen, Ungarn und Tschechen dürfen auch zwei Jahre nach ihrem Beitritt noch nicht uneingeschränkt in Frankreich oder Deutschland arbeiten. Auch für bestimmte Lebensmittel gibt es Handelsbeschränkungen. Ähnliche Regelungen sind also auch für Bulgarien vorstellbar. Allerdings warnt die Politikwissenschaftlerin Lucia Montanaro-Jankovski vor zu vielen Beschränkungen:
"Ich denke, wenn es Schutzklauseln im Bereich Binnenmarkt gibt, dann wird das sehr negativ aufgenommen werden in Bulgarien. Viele lokale Unternehmen haben viel investiert, um den europäischen Anforderungen zu entsprechen. Sie werden sich verraten fühlen."
Es ist also Fingerspitzengefühl gefragt – morgen in der Europäischen Kommission. Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, wird sie vermutlich direkte Auswirkungen haben auf die bulgarische Politik und Gesellschaft.
Und während der Blick der meisten europäischen Politiker auf die Beitrittsländer immer strenger wird, erinnern sich einige auch daran, dass nicht nur Bulgarien oder Rumänien, sondern auch die Europäische Union selbst einige Hausaufgaben zu machen hat. Denn die Institutionen haben dringende Reformen nötig. Die sollten eigentlich mit der Verfassung kommen. Seitdem die aber auf Eis liegt, stehen auch die Reformen innerhalb der EU still. Für Elmar Brok bedeutet dies, dass...:
"... je mehr Länder wir sind, wir nicht mehr zu schnellen Entscheidungen kommen, weil es Vetomöglichkeiten gibt, und der weitere Punkt ist, dass wir sehen müssen, dass die EU auch in finanzieller Hinsicht zu Ende kommt. Das ging mit Bulgarien und Rumänien noch. Die sind in der Finanzplanung bis 2013 vorgesehen. Aber nur diese beiden sind vorgesehen, und das geht auch nur mit Ach und Krach, sodass wir an diesem Punkt wirklich sehen müssen, dass die Europäische Union ans Ende
ihrer Aufnahmefähigkeit gekommen ist und innere Strukturen verändern muss."
Innere Strukturen verändern – das heißt zum Beispiel, dass die Mitgliedsstaaten in Zukunft ihre Entscheidungen mit einfachen Mehrheiten und nicht einstimmig treffen sollten, damit nicht ein Staat alle anderen blockieren kann. Auch über die Zusammensetzung der EU-Kommission muss nachgedacht werden. Bisher gilt der Grundsatz: Ein Kommissar pro Land. Jetzt sind es also 25, bald 27. Fruchtbare Diskussionen und schnelle Entscheidungen sind da kaum noch möglich.
Die alten Mitgliedsstaaten müssen deshalb nicht nur den Kandidaten auf die Finger schauen, sondern auch selbst die bestehenden Strukturen weiter entwickeln. Nur so – sagt Elmar Brok – seien eine Vertiefung und die Erweiterung gleichzeitig möglich. - Schließlich wartet noch eine Handvoll anderer Länder auf dem Balkan auf ihren Beitritt zur Staatengemeinschaft. Und die, das meint zumindest Marijana Grandits vom Balkan-Stabilitätspakt, werden nicht mehr ewig warten:
"Ich glaube, es gibt keine Alternative. Alleine, wenn sie sich die Geografie ansehen und sich vorstellen, dass nach Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Mazedonien dann ein Patchwork von Ländern übrig bleibt, die zwischen diesen Schon-Mitgliedsstaaten eingebettet sind. Das würde mehr Probleme verursachen für die europäische Union als eine Mitgliedschaft. Die Perspektive von zehn, 15 Jahren muss aufrecht erhalten sein, um dieses Europa fertigzustellen."