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Gysi, Gregor: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn

Aus dem kaum noch überschaubaren Markt der unzähligen Neuerscheinungen - auch und gerade auf dem Sektor der politischen Literatur und des Sachbuches - möchte ich Ihnen heute fünf Titel vorstellen, von denen ich hoffe, dass sie Ihr Interesse finden. Wir beginnen mit Gregor Gysi. Er hat eine Zwischenbilanz seines bisherigen politischen Lebens gezogen. Dann geht es um die "Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland", um den neuen Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien", um "Gen-Piraten und Patente", schließlich um die Frage: Wie wird Geschichte als Waffe in der politischen Auseinandersetzung genutzt oder missbraucht?

Johano Strasser | 09.04.2001
    Im Sommer vergangenen Jahres hatte er beschlossen, sich aus der vordersten Reihe der Politik zurückzuziehen. Die Rede ist von Gregor Gysi - der erste Parteivorsitzende der SED-Nachfolgerin PDS. Zehn Jahre lang stand er auch an der Spitze der PDS-Bundestagsabgeordneten - mal als Gruppen-, mal als Fraktionsvorsitzender. Nun wirkt er nur noch als "einfacher" Abgeordneter im Berliner Reichstagsgebäude. Häufiger aber ist er anzutreffen bei Talkshows in den Fernsehstudios. Dort schlägt er zur Zeit die Werbetrommel für sein Mitte März erschienenes Buch "Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn". Rezensiert wird es von Johano Strasser:

    Zehn Jahre lang gehörte Gregor Gysi als Vorsitzender der PDS-Fraktion dem Deutschen Bundestag an. Nun hat er seine politischen Ämter niedergelegt und zieht Bilanz - für sich persönlich und für seine Partei. Was dabei herausgekommen ist, ist auf den ersten Blick ein typisches Politikerbuch: ausgewogen und ohne sprachliche Brillanz, ein wenig langatmig in der Schilderung von Details der Partei- und Parlamentsarbeit, apologetisch im Grundtenor - kurz: ein ganz normales Erzeugnis jener Welt, die früher gern als 'Raumschiff Bonn' bezeichnet wurde und die durch den Umzug nach Berlin kaum etwas von ihrer Abgeschlossenheit und Selbstbezüglichkeit verloren zu haben scheint.

    Aber die gelinde Enttäuschung, die sich beim Lesen einstellt, kann auch daher rühren, dass man den Autor von vielen Fernsehauftritten als geistreichen Plauderer und Polemiker kennt und deshalb vielleicht mit allzu hohen Erwartungen an die Lektüre gegangen ist. Denn genauer betrachtet hebt sich das Buch doch von den üblichen Politikermemoiren ab. Gysi selbst gibt im Vorwort einen Hinweis darauf, wie sein Buch zu lesen ist:

    Mein Weg hin und im vereinigten Deutschland war nicht nur in dem Sinne einmalig, wie jedes Leben einmalig ist, sondern meine Situation spiegelt in besonderer Weise die Kompliziertheit des Vereinigungsprozesses wider.

    Auch wenn es sich, wie der Autor schreibt, um "ein höchst persönliches Buch" handelt, so erhebt es doch den Anspruch, am Schicksal eines einzelnen, wenn auch eines in besonderer Weise ins Licht der Öffentlichkeit gehobenen, die Irrungen und Wirrungen des deutschen Vereinigungsprozesses exemplarisch aufzuzeigen. Ausführlich schildert Gysi, wie er im Bundestag jahrelang von den meisten Abgeordneten der anderen Parteien gemieden, mit Misstrauen und sogar Hass verfolgt wurde, wie die Haltung der Medien, die ihm anfänglich durchaus mit wohlwollender Neugier begegneten, vorübergehend umschlug, als er als Stasi-Spitzel verleumdet wurde, wie er dann aber doch zu einer Art Medienstar wurde und schließlich, als klar war, dass die PDS in den neuen Bundesländern zu einem stabilen politischen Faktor geworden war, sogar von der politischen Klasse der Bundesrepublik akzeptiert wurde.

    Dass er so für viele Menschen in den neuen Bundesländern zu einer Identifikationsfigur wurde, die stellvertretend für die Masse der Namenlosen Erniedrigungen durchlitt, sich listig und tapfer dagegen zur Wehr setzte und am Ende sogar kleine Triumphe feierte, kann man verstehen. Für manch frustrierte Ostseele übernahm er wohl gar eine ähnliche Rolle, wie Lady Di sie lange für die Mühseligen und Beladenen im Westen spielte. Gysi verhehlt allerdings nicht, dass die Anfeindungen und Verdächtigungen ihm unter die Haut gingen. Nur jemand, der von politischen Gegnern so oft diffamiert und dämonisiert wurde, kann es sich erlauben, von sich selbst zu schreiben:

    Ich bin kompromiss- und verhandlungsfähig, relativ umgänglich, nicht unfreundlich, fast nie aggressiv oder feindlich gesinnt und nicht einmal richtig nachtragend. Außerdem wissen alle, die sich für mich interessieren, dass ich demokratisch zuverlässig bin, dass ich - wie beschrieben - rechtsstaatliche Prinzipien nicht nur für mich, sondern auch für andere gelten lasse.

    Wer Gysis bisherigen Lebensweg einigermaßen unvoreingenommen verfolgt hat, ihn womöglich persönlich kennengelernt hat, wird dieser Selbstbeschreibung wohl zustimmen können. Aber Gysi geht es in diesem Buch nicht nur darum, das Bild seiner Person zurechtzurücken. Dafür ist er zu sehr Politiker, noch dazu ein Politiker mit einer Mission, nämlich der, eine demokratisch-sozialistische Partei links von der SPD auf Dauer auch im Westen zu etablieren. Wie schwierig dies ist, erläutert Gysi am gegenwärtigen Zustand der PDS: im Osten fast so etwas wie Volkspartei, im Westen eine Ein-Prozent-Partei. Was dies für einen Spagat bedeutet, beschreibt er folgendermaßen:

    Die West-PDS könnte es sich zum Beispiel leisten, sich auf einen bestimmten, politisch eher radikalen Teil der Studentenschaft zu konzentrieren. Die Ost-PDS muss nicht nur versuchen, die Studierenden anzusprechen, sondern auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Dozentinnen und Dozenten, die Professorinnen und Professoren von wissenschaftlichen Einrichtungen. Für die West-PDS wäre es ausreichend, zu einem kleineren, besonders linken Teil aktiver Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter Kontakt zu unterhalten. Die Ost-PDS hingegen braucht Beziehungen zu allen Einzelgewerkschaften und dem DGB als Ganzem. Die West-PDS könnte es sich zumindest leisten, Kontakte zu Kirchen auf ein Minimum zu beschränken, für die Ost-PDS wäre es verheerend, wenn sie sich den Zugang zu Hunderttausenden Gläubigen selbst versperrte. Für die West-PDS ist eine Nähe zu Unternehmerinnen und Unternehmern kaum zu erreichen und auch kein praktisches Ziel, für die Ost-PDS besteht gerade darin die Chance, Sozial-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik in Einklang zu bringen.

    Angesichts dieser Lage die Balance zu halten, diese Aufgabe sieht Gysi durch die seit einiger Zeit in der Partei tobenden Auseinandersetzungen zwischen Pragmatikern und sektiererischen Gruppen im Westen und im Osten gefährdet. Die kommunistische Plattform Sarah Wagenknechts und das Marxistische Forum, aber auch die Haltung vieler älterer PDS-Mitglieder, denen es mehr um nostalgisch getönte Identität denn um handfeste politische Erfolge geht, stellen für Gysi das Erreichte in Frage. Mit dem Rücktritt, so der Autor, hätten Lothar Bisky und er erreichen wollen, dass sich die Mehrheit der Parteifunktionäre auf ihre Verantwortung besinnt und den sektiererischen Tendenzen in der Partei entgegentritt.

    Ob sie dies freilich entschlossen tun und ob sie damit Erfolg haben wird, lässt Gysi offen. Sein Buch ist auch als Mahnung an seine eigene Partei zu lesen, den alles in allem erstaunlichen Erfolg der PDS nicht zu gefährden, sich den komplizierten Realitäten der Bundesrepublik zu stellen und sich nicht in einer ideologischen Wagenburg einzuigeln. Angesichts des gegenwärtigen Zustands der SPD sieht Gysi die Rolle der PDS vor allem darin, als "Korrektiv" zu wirken.

    Es ist keine Schande für eine sozialistische Partei, in einer Gesellschaft - zumindest vorübergehend - linke Sozialdemokratie zu ersetzen, wenn diese, aus welchen Gründen auch immer, ausfällt.

    Eine linkere Sozialdemokratie, das ist zweifellos das, wozu Gysi die PDS gern machen möchte. Aber dass die sozialistischen Emphatiker und die DDR-Nostalgiker in den eigenen Reihen sich damit anfreunden können, ist eher zweifelhaft. Und dann gibt es ja auch noch die "reale" linke Sozialdemokratie in der SPD, die vielleicht auch eines Tages wieder sichtbarer wird, wenn nicht länger zu übersehen ist, welche Barbarei ein deregulierter Kapitalismus bedeutet. Aber das ist ein Thema, für das Gregor Gysi nicht auch noch zuständig ist.

    Soweit Johano Strasser. Er besprach das Buch von Gregor Gysi: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn. Verlegt wurde es bei Hoffmann & Campe in Hamburg. Es umfasst 352 Seiten und kostet 39 Mark 90.