Archiv


Gysi: Linkspartei ist im Westen keine Splittergruppe mehr

Die Linkspartei kann nach Ansicht ihres Fraktionschefs im Bundestag, Gregor Gysi, im Westen Deutschlands mit Wahlergebnissen um die Fünf-Prozent-Marke rechnen. Durch die Fusion mit der WASG werde die Partei aufhören, in den alten Bundesländern eine Splittergruppe zu sein, sagte Gysi im Deutschlandfunk. Der Streit einiger WASG-Landesverbände um einen Zusammenschluss könne zwar die Wahlen beeinträchtigen, den Vereinigungsprozess jedoch nicht aufhalten.

Moderation: Hans-Joachim Wiese |
    Wiese: Herr Gysi, in einer Woche wird in drei Bundesländern gewählt - in zwei alten, in Baden Württemberg und in Rheinland-Pfalz, und in einem neuen, in Sachsen-Anhalt. Die Chancen für die Linkspartei in den beiden alten Ländern und in dem neuen könnten unterschiedlicher nicht sein: im Westen eine aussichtslose Splittergruppe, im Osten eine Volkspartei? Oder sehen Sie das anders?

    Gysi: Also, wir sind im Osten ein Volkspartei, das ist wahr. Das stellt auch andere Anforderungen. Und im Westen hören wir auf mit der Splittergruppe durch das Zusammengehen mit der WASG, die auch in den beiden Ländern antritt und durch die Neubildung einer Partei links von der Sozialdemokratie spätestens bis Mitte nächsten Jahres. Und wenn man dann noch zurückdenkt an die Bundestagswahl, haben wir dort eben ganz andere Chancen. Wir sind dort im Kern so im Fünf-Prozent-Bereich. Das ist ungeheuer wichtig für uns.

    Im Augenblick haben wir es ein bisschen schwer. Sie wissen auch, das liegt an Mecklenburg-Vorpommern und das liegt auch an Berlin, das liegt auch an den entsprechenden Meldungen. Ganz klar ist doch, dass wir die Fusion nicht scheitern lassen, auch nicht an 272 Mitgliedern in Berlin und auch nicht an 20 in Mecklenburg-Vorpommern. Die WASG hat inzwischen über 10.000 Mitglieder, die machen eine Urabstimmung. Wir werden allerdings leider erst nach der Landtagswahl das Ergebnis haben, aber es wird eine Mehrheit die Neubildung wollen. Deshalb bin und bleibe ich da optimistisch. Im Augenblick macht uns das ein bisschen zu schaffen.

    Aber wissen Sie, ich habe so viel erlebt seit 1990, und ich habe auf dem Parteitag, als wir uns einen neuen Namen gegeben haben, im Sommer letzten Jahres gesagt: Das wird ein schwieriger Prozess. Bei der Bundestagswahl stehen wir erst einmal zusammen, dann wird es Ausdifferenzierungen geben, dann wird es Schwierigkeiten geben.

    Aber lassen Sie mich eine Sache versprechen: Die Parteineubildung wird stattfinden. Wir haben ab 2007 eine Partei links von der Sozialdemokratie in ganz Deutschland - von Bayern bis Mecklenburg-Vorpommern. Allerdings mit einem zunächst bleibenden Unterschied, dass wir in den neuen Bundesländern eine Art Volkspartei sind und in den alten werden wir so eine Art Fünf-Prozent-Partei sein. Das ist viel mehr, als das, was wir dort waren. Aber es ist keine Volkspartei.

    Wiese: Lassen wir uns über die Fusion nachher noch etwas ausführlicher sprechen, Herr Gysi. Zunächst einmal zu Ihrem notorischen Optimismus. Sie sagen, im Westen bleiben Sie keine Splittergruppe. Die Umfragen sagen etwas anderes. In Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz ist es fraglich, ob sie die Fünf-Prozent-Hürde meistern. Aber wieso - und das muss doch realistischer weise feststellen - ist die Linke, ist die Linkspartei im Westen immer noch nicht richtig angekommen? Geht es den Menschen im Westen immer noch zu gut, als dass sie sich den Linken zuwendeten?

    Gysi: Nein, das liegt an einer anderen historischen Entwicklung. Sie haben ja in Italien eine andere Situation, Sie haben in Frankreich eine andere Situation, auch in Spanien und in Portugal. Das kann man alles mit der alten Bundesrepublik Deutschland nicht vergleichen. Es gab einen sehr militanten Antikommunismus, der hat sich eigentlich fortgesetzt nach '45. Alles andere hat sich verändert. Man wurde demokratisch, man hat den Antisemitismus überwunden, aber der Antikommunismus blieb. Nun muss ich sagen, leider hat die DDR und die SED gute Beispiele dafür gebracht, dass man den Antikommunismus nähren konnte. Sie wissen, dass die Toten an der Mauer und viele andere Umstände dazu beigetragen haben. Das hat dazu geführt, dass Deutschland eine andere Entwicklung genommen hat als die anderen Länder. Und ich hatte das ja auch schon aufgegeben, dass sich daran was ändert. Wir waren da immer so im 1,0-Bereich.

    Und ich muss sagen, durch die Art der Regierung Schröder, dadurch, dass unter Schröder ein Sozialabbau stattgefunden hat und Steuergeschenke an Besserverdienende, an Bestverdienende, an Konzerne, wie unter keinem CDU-Kanzler - das muss man ja sehen, die Zusammenhänge -, ist das erste Mal nennenswert ein Bedürfnis auch in den alten Bundesländern nach einer Kraft links von der Sozialdemokratie entstanden. Aber nicht direkt im Zusammenhang mit uns, sondern mit der Neubildung einer Partei. Dann kam Oskar Lafontane dazu, und dann hatte das Ganze auch einen prominenten Namen. Und dann hat er gesagt, es macht aber nur Sinn, wenn wir mit der anderen Partei zusammengehen und wenn die sich auch verändert und umbenennt. Und da ist ein Prozess eingeleitet worden. Und die Menschen in den alten Bundesländern ist es leichter gefallen, das zu akzeptieren als vorher nur uns zu akzeptieren.

    Jetzt müssen wir uns auch verändern, das sind alles spannende Prozesse, verstehen Sie? Ich weiß nicht, wenn wir jetzt in einem Bundesland irgendwann 3 Prozent haben und in einem anderen vielleicht 5,5 oder 6 - das sind trotzdem andere Ausgangsgrößen. Wenn Sie wie ich immer zwischen 0,3 und 1,0 Prozent gekämpft haben - und viel mehr spielte sich nirgendwo ab, verstehen Sie -, dann ist das eine andere Ausgangssituation, wenn Sie die Entwicklung Deutschlands nehmen. Ich nenne das Ganze eine "europäische Normalisierung Deutschlands". Und der Umgang damit fällt allen anderen Parteien schwer. Nun ja, und bei uns ist es eben auch nicht ganz leicht, wir müssen ja erst noch zusammenfinden.

    Wiese: Also kann man sagen, die Veränderung der gesellschaftlichen und auch der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse bewirkt Ihrer Meinung nach künftig eine Hinwendung mehr zu den Linken, damit auch eine Bestätigung - im Grunde genommen ja - marxistischer Grundüberzeugung?

    Gysi: Das weiß ich nicht, weil - das muss man jetzt wieder definieren, was das ist. Aber die Linke bekommt auf jeden Fall viel schneller wieder eine Akzeptanzchance, als ich es für möglich hielt. Sehen Sie, als die Sowjetunion und das alles zusammenbrach, da hatte ja - nun ja, wie man die Leute einzeln immer sehen mag - aber die Linke hatte ja Macht, sie hatte eine Chance. Und sie hat das Ding einfach in den Sand gesetzt, Punkt. Das muss man so sagen. Wenn das stimmt, dann ist es ja auch interessant, dass die demokratische Linke, die mit der Sowjetunion nun gar nichts zu tun hatte, darunter mitlitt, verstehen Sie? Die ging mit in den Keller, obwohl sie das natürlich ungerecht fand, weil sie sagt: Wir haben uns doch immer distanziert von der Sowjetunion. Aber das Leben ist ja nicht nur dafür da, gerecht zu sein.

    Und plötzlich durch die Art, wie Schröder die SPD entsozialdemokratisiert hat, dass die damit verbundenen Hoffnungen sich nicht erfüllten, haben linke Gedanken wieder eine andere Chance, wenn sie denn demokratisch daherkommen und das Diktatorische wirklich überwunden haben. Und da sage ich dann immer zu den Linken: Es gibt jetzt überhaupt keinen Grund zur Selbstüberschätzung oder zur Arroganz. Dass wir so schnell wieder gefragt werden in der Gesellschaft, damit war eigentlich gar nicht zu rechnen. Das ist schon auch eine Art Auszeichnung, und der müssen wir uns jetzt auch würdig erweisen.

    Und nun ist das schwierig, wenn Sie eine Partei haben, die überwiegend in den alten Bundesländern organisiert ist und eine, die überwiegend in den neuen Bundesländern organisiert ist, dann noch mit allen komplizierten Biographien und so weiter - muss ich ja gar nicht drauf eingehen - daraus etwas Einheitliches zu machen. Ich habe jetzt erst bemerkt: 16 Jahre braucht man dazu, vorher wäre es gar nicht gegangen, aber jetzt wird es auch höchste Zeit. Und jetzt gibt es auch veränderte Sichten, und das - finde ich - ist auch ein spannender Vorgang. Und es gibt immer mehr Leute auch in den alten Bundesländern, die das auch spannend finden.

    Wiese: Jetzt waren wir ja im Westen. Kommen wir nun zum Osten. In Sachsen-Anhalt hat die Linkspartei bei der letzten Bundestagswahl 26,6 Prozent der Zweitstimmen gewonnen. Als Splitterpartei kann man sie dort nun wirklich nicht mehr bezeichnen, aber Regierungspartei wird sie wohl auch nicht werden?

    Gysi: Nein, es sieht nicht so aus. Herr Bullerjahn von der SPD hat sich ja angeboten, dass er der Juniorpartner der CDU werden will. Also, er hat sich selbst aufgegeben, er kämpft ja wohl nicht mehr ernsthaft um den Ministerpräsidentenposten. Er hat das anfangs klüger gemacht, er hatte gesagt, er macht keine Koalitionsaussage. Dann hat ihm irgendjemand eingeredet, dass das falsch ist. Dann hat er gesagt, er will doch lieber mit der Union. Nun wissen alle, dass die Union stärker wird. Also will er bloß noch da so einen kleinen Stuhl haben. Und ich finde immer, wenn man mit so einem mangelnden Selbstbewusstsein - das kenne ich auch von meiner Partei von früher -, wenn man mit so einem mangelnden Selbstbewusstsein in einen Wahlkampf geht, hat man eigentlich schon verloren. Also, ich werde mich ein bisschen einmischen und ...

    Wiese: ...Sie machen dann da Opposition in Sachsen-Anhalt - in dem Land der Frühaufsteher?

    Gysi: Ja, das ist doch gar kein Problem. Hauptsache, wir können eine Politik anbieten, von der die Leute etwas haben. Aber man weiß es ja auch nicht, wir wissen ja noch nicht, wie die SPD sich entwickelt, was sie nach der Landtagswahl dann wirklich sagt. Ich finde es vernünftig, dass meine Partei in Sachsen-Anhalt sagt: Wir sind bereit, Regierung mit zu übernehmen, aber dass sie das Ganze mit Selbstbewusstsein sagt. Sie wissen, das liegt schon länger her, es gab dort mal ein Tolerierungsmodell, das hat mir in der ersten Legislaturperiode gefallen, das fand ich richtig, und in der zweiten fand ich es falsch. Sie haben es nochmal gemacht, ich hätte gesagt, zweimal macht man so was nicht - jetzt müsst ihr rein in die Regierung oder wenigstens einen richtigen Vertrag machen, also andere Bedingungen. Aber da fehlte uns eben ein bisschen das Selbstbewusstsein, so wie heute der SPD in Sachsen-Anhalt, die ja schon froh ist, wenn sie irgendwie als kleiner Juniorpartner der Union mit rumlaufen darf. Wir haben da mehr Selbstbewusstsein, das finde ich auch richtig.

    Wiese: So weit zur Bestandsaufnahme. Sie haben vorhin schon das Stichwort Fusion erwähnt. Herr Gysi, welche Schlüsse ziehen Sie nun aus der Tatsache, dass die Wahlchancen für eine linke Partei im Westen und im Osten so unterschiedlich sind für das Projekt einer gesamtdeutschen Linkspartei? Welche Konsequenzen, welche Schlussfolgerungen ziehen Sie?

    Gysi: Das ist doch ganz einfach. Wir sind ja nun durch die Bundestagswahl direkt darauf gestoßen worden, dass wir uns gegenseitig benötigen. Als Linkspartei sind wir in ganz Deutschland angetreten und wir hatten in den alten Bundesländern 4,9 Prozent der Zweitstimmen. Das hätten wir ohne die WASG, ohne Oskar Lafontane nie geschafft. Auf der anderen Seite hatten wir in den neuen Bundesländern um die 25 Prozent. Das waren fünf Prozent mehr als bei der letzten Bundestagswahl. Das heißt, die Tatsache, dass wir zusammen gegangen sind mit Leuten aus den alten Bundesländern, mit viel mehr Leuten, die Tatsache, dass wir dort eine ganz andere Rolle spielten, hat uns im Osten nicht geschadet, wie mir früher immer Leute versuchten einzureden, sondern wir haben sogar fünf Prozent drauf gelegt.

    Also war der WASG klar: Ohne uns haben sie im Osten keine Chance und uns war klar: ohne die haben wir im Westen keine Chance. Und dann gibt es pragmatische Typen, die sagen: So jetzt macht doch mal was zusammen. In 80 Prozent der Fragen stimmt ihr sowieso überein, in zehn Prozent kriegen wir es hin und zehn Prozent lassen wir offen. Da sage ich immer: Na und, die offenen Fragen hatten wir in der PDS auch schon. Also, damit kann man doch leben. Und das müssen wir auch hinkriegen, weil - ich sage das noch einmal - die soziale Frage so unterminiert war, weil es eine Art von Steuerpolitik, eine Art von ökonomischer Politik, eine Art von Sozialabbau gibt, und zwar durch die SPD, unter Führung der SPD in einem Maße, wie sich das früher die CDU nicht getraut hätte. Jetzt macht sie dort natürlich weiter. Die Union und SPD zusammen setzen ja die Schröder-Politik fort, und das plötzlich eben auch in den alten Bundesländern.

    Ich bitte Sie, das erste Mal nach 1949. Die Grünen waren ein Sonderfall, das war ein Generationenkonflikt, dass ein Bedürfnis nach einer Partei links von der Sozialdemokratie entstanden ist. Das geht da auf und ab, verstehen Sie? Wir werden da auch mal ein besseres, mal ein schlechteres Wahlergebnis haben, das ist mir klar. Aber das verändert Deutschland. Wir werden ein bisschen so, wie andere europäische Länder schon seit vielen, vielen Jahren oder Jahrzehnten sind. Und das finde ich einen spannenden Vorgang.

    Aber wir müssen zwei Dinge wissen: Die einen können nicht ohne die anderen. Also müssen wir es zusammen machen. Die Erfahrung haben wir gemacht. Und zweitens: Wir haben eine unterschiedliche Stärke. Im Laufe der Jahre, wenn Sie dann mal so über mein Leben hinaus denken, wird sich das irgendwann vielleicht auch mal angleichen. Aber im Augenblick ist es so. Das hat mit der unterschiedlichen Geschichte von Ost- und Westdeutschland zu tun.

    Wiese: Aber es gibt doch nicht nur unterschiedliche Stärken, Herr Gysi, es gibt doch auch ganz konkrete Konflikte. Zwei Landesverbände wollen zum Beispiel getrennt marschieren, wollen antreten gegen die Linkspartei der Berliner und der Mecklenburg-Vorpommern. Ist da nicht schon das Projekt der gesamten, der einen linken Partei gescheitert, bevor es überhaupt konkrete Züge angenommen hat?

    Gysi: Ja, das steht ja nun leider jetzt in vielen Zeitungen, und das kann im Augenblick auch ein bisschen unsere Wahlchancen beeinträchtigen. Aber das ist natürlich falsch. Ich muss das einfach sagen. Sehen Sie mal, der Berliner Landesverband, der hatte 300 Mitglieder, bevor es die WASG gab, da war es nur noch nicht die WASG. Die hat sich gegründet gegen den Senat aus SPD und Linkspartei. Und dann haben die, als die WASG gegründet wurde, gesagt: Mensch, das ist ja günstig, dann machen wir eben daraus einen Landesverband der WASG. Mecklenburg-Vorpommern hat insgesamt etwa 100 Mitglieder, und da tagen dann immer 20. Und die 20 fassen so tapfere Beschlüsse.

    Ich sage Ihnen das noch einmal: Hätte es eine WASG nur in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern gegeben, wirklich, ich wäre der letzte gewesen, der auf die Idee gekommen wäre, an eine Vereinigung zu denken. Das ist wirklich nicht der Punkt. Deshalb, ich muss das sagen, auch wenn es hart klingt: Es hängt auch wirklich nicht von ihnen ab. Wir haben 10.000 Mitglieder der WASG zwischen Schleswig-Holstein und Bayern. Das ist das Entscheidende. Und dort ist unsere Schwäche, nicht in den neuen Bundesländern. Und deshalb sage ich: Die 272 Mitglieder in Berlin, die jetzt anders gestimmt haben - wir haben ja immerhin über 800 Mitglieder, also es gibt ja auch viele, die nicht so gestimmt haben - die können diesen Prozess nicht aufhalten, und die 20 Mitglieder in Mecklenburg-Vorpommern auch nicht. Die Leitung der WASG wird Wege finden, die stehen auch im Statut. Natürlich darf eines nicht zugelassen werden: Das eine WASG als WASG gegen uns antritt.

    Wiese: Wenn das aber geschieht, Herr Gysi ...

    Gysi: Das geschieht nicht! ...

    Wiese: ... das ist verboten, im Grunde genommen, dass Sie dann als Linksfraktion im Bundestag antreten. Die Koalition will den Status der Linksfraktion dann überprüfen lassen.

    Gysi: Na ja, das können sie ja gerne machen. Aber ich sage mal, da haben sie nun auch real, glaube ich, keine Chance. Ich werde es Ihnen gleich erklären. Nur, das wird auch nicht passieren, verstehen Sie? Und zwar nicht aus juristischen Gründen, sondern aus politischen. Es wäre einfach politisch ein großer Fehler, und deshalb bin ich davon überzeugt, dass das nicht passieren wird und ich weiß auch, dass die Leitung der WASG daran arbeitet. Aber zu Ihrer Frage, also zum Fraktionsstatus: Da steht in der Geschäftsordnung drin, dass nicht zwei Parteien eine Fraktion bilden dürfen, die miteinander im Bund konkurrieren. Nun meinen die einen, damit ist nur die Bundestagswahl gemeint, die anderen meinen, auch die Landtagswahl. Aber da will ich mich gar nicht einmischen. Es gibt das nicht. Es ist nur eine Partei angetreten mit offenen Listen. Auf der offenen Liste sind auch Parteilose angetreten und auch ein paar Mitglieder einer anderen Partei angetreten. Aber das ändert nichts daran, dass nur die eine Partei Listen aufgestellt hat und so sind wir eingezogen und die bildet unsere Fraktion. Also, da machen sich auch viele Illusionen. Die werden uns vielleicht mit einer sehr guten Politik los, aber nicht mit solchen Tricks.

    Und wenn ich das noch sagen darf, weil mir das auch wichtig ist in dem Zusammenhang: Was der Gesetzgeber oder der Bundestag meinte bei der Geschäftsordnung ist ein ganz anderer Fall. Mal angenommen, die PDS käme nur über drei Direktmandate in den Bundestag, also hat keinen Fraktionsstatus, und mal angenommen, die FDP käme nur über drei Direktmandate rein, auch eine Gruppe. Jetzt haben Sie zwei Gruppen. Die haben sonst nichts miteinander zu tun und nur, um die Rechte einer Fraktion zu haben, schlössen die sich plötzlich zusammen und sagen, wir machen zwar alles getrennt, aber wir schließen uns zusammen. Verstehen Sie, das wollte die Geschäftsordnung ausschließen, nicht so etwas wie uns. Mit so etwas wie uns muss man leben können, auch als Bundestag.

    Wiese: Aber warum ist eine gesamtdeutsche Linke Ihrer Meinung nach überhaupt notwendig? Der Klassenkampf ist in Zeiten der Globalisierung doch Schnee von gestern?

    Gysi: Also, ich will gar nicht mit Ihnen über Begriffe streiten. Aber es gibt natürlich sehr unterschiedliche Schichten in unserer Bevölkerung. Ob Sie Arbeitsloser sind oder Mitglied des Vorstands der Deutschen Bank, davon hängt ein bisschen was ab in Ihrem Leben, verstehen Sie? Wenn die Unterschiede so gewaltig sind, dann kann man das auch als Klassen oder als Schichten oder als sonst was bezeichnen, das ist mir nicht wichtig. Wichtig ist, wir haben verschärfte soziale Auseinandersetzungen. Und wir haben einen Trend. Den erleben Sie gerade im Öffentlichen Dienst, dass wir sagen, die Leute sollen länger arbeiten und dafür kein Geld kriegen. Das muss man sich mal alles überlegen. Das war früher in der alten Bundesrepublik undenkbar, überhaupt so eine Vorstellung zu entwickeln. Und andere Länder gehen andere Wege.

    Wissen Sie, wenn wir neoliberal wären, das ist doch furchtbar bei uns in Deutschland, dann müssen wir das immer gleich dreihundertprozentig sein. Im Vergleich zu Frankreich, zu Großbritannien, zu den USA, zu Skandinavien, zu den Niederlanden sind wir das einzige Land mit sinkenden Reallöhnen. Alle anderen haben steigende Reallöhne, zum Teil 20, zum Teil 25 Prozent. Wir sind jetzt unterdurchschnittlich in unserer Steuern- und Abgabenquote. Frankreich hat zehn Prozent höhere Steuern und Abgaben als Deutschland. Wir haben auch jetzt schon eine längere Arbeitszeit im Öffentlichen Dienst als Frankreich, als Italien, als Großbritannien. Das wird alles immer übersehen. Wir gehen hier eine ganz andere Entwicklung und ich halte sie für falsch. Und ich glaube deshalb, dass wir politische Ansätze haben, die dringend in den neuen und in den alten Ländern benötigt werden.

    Natürlich, in den neuen Ländern haben wir eine andere Geschichte. Da kommen eben noch solche Fragen hinzu wie gleicher Lohn für gleiche Arbeit, gleiche Rente für gleiche Lebensleistung, Anerkennung und Respekt vor anderen Biographien. Die Tatsache, dass die Ostdeutschen immer das Gefühl hatten, dass sie schlechter bewertet und behandelt werden - selbst beim Arbeitslosengeld II haben sie das bei Schröder erlebt, erst mal elf Euro weniger, und das haben sie nun jetzt wieder ausgeglichen. Das liegt an uns. Verstehen Sie, das bekommen die Menschen auch mit.

    Und deshalb sage ich, Sie haben Recht: Es ist ein bisschen kompliziert, auf der einen Seite eine Volkspartei zu haben und auf der anderen Seite eine Fünf-Prozent-Partei. Aber ich muss Ihnen sagen, ich bin über den Qualitätssprung sehr erfreut. Denn bis dahin hatten wir dort eine Ein-Prozent-Partei. Und das ist etwas ganz anderes als eine Fünf-Prozent-Partei. Mit einer schrittweise sich entwickelnden Partei dieser Art kann man was machen. Und wir werden das erleben.

    Was ich jetzt in den Anfängen erlebt habe, ist, dass nicht nur die führenden Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, auch Institute, auch andere Einrichtungen, ganz anders auf uns zugehen. Sie nehmen uns ernster. Ich habe das mal ein bisschen ironisch gesagt: Im Wahlkampf haben die plötzlich alle unsere Wahlkampfvorschläge nachgerechnet. Da habe ich gesagt, das ist nicht fair, weil sie das noch nie seit 1990 gemacht hatten. Aber was ich meinte ist: Wir werden doch ernster genommen. Früher hätte gar kein Institut sich die Mühe gemacht, unsere Vorschläge nachzurechnen. Das hat uns ja auch ein bisschen verwöhnt. Da wird man etwas leichtfertig in Vorschlägen.

    Verstehen Sie, das hat sich alles geändert. Nehmen Sie die Veränderungen in Deutschland zur Kenntnis. Es ist nicht mehr so leicht. Wenn sich so ein Bedürfnis herauswickelt, wie wir es jetzt in Deutschland haben, zeigt das an, dass es notwendige Veränderungen geben muss, dass wir auch mehr Verteilungsgerechtigkeit brauchen. Sie können das Klassenkampf nennen oder wie Sie wollen, Sie wissen ich bin nicht verbal radikal, aber ich weiß, es gibt Auseinandersetzungen in unserer Gesellschaft. Und wir haben dabei eine Korrekturfunktion.

    Wiese: Können diese Veränderungen, die in Deutschland Ihrer Meinung nach notwendig sind, können diese Veränderungen nicht sehr viel besser von einer möglichst breiten, von einer Großen Koalition realisiert werden als von einer neuen linken Partei?

    Gysi: Was macht denn diese Große Koalition? Die erhöht erst mal das Rentenalter und sagt, ihr müsst mal zwei Jahre länger arbeiten. Nun hat sie aber keine Arbeit. Das heißt im Kern, dass eine Vielzahl der Leute zwei Jahre länger Arbeitslosengeld II beziehen, bevor sie in Rente gehen. Und das begründen sie mit dem demografischen Faktor. Sie reden nicht über Produktivität. Sie reden nicht darüber, dass vor 20 Jahren Daimler Benz, sagen wir mal, vier Arbeitskräfte brauchte für eine bestimmte Tätigkeit und heute brauchen die nur noch eine Arbeitskraft. Wenn die Vier damals vier Rentnerinnen und Rentner mit ernährt haben, könnte das heute einer. So ist die Produktivitätsentwicklung in Deutschland. Also hier muss man einfach mal über andere Zusammenhänge reden.

    Die Große Koalition erhöht also das Rentenalter, das ist der eine Schritt. Das zweite ist, sie machen zum Glück die Angleichung beim Arbeitslosengeld II Ost-West. Aber gleichzeitig sagen sie, Jugendliche, junge Menschen bekommen viel weniger. Ein irrer Widerspruch. Verstehen Sie, ich darf als Vater bei meinem 18-jährigen Sohn nichts entscheiden. Wenn der meint, er müsse den Frieden am Hindukusch verteidigen und dort sein Leben riskieren, das muss ich dulden. Aber wenn er mit 24 arbeitslos wird, dann kommt derselbe Staat und sagt, geht uns doch nichts an, das musst du bezahlen. Verstehen Sie, ich bin auch immer dafür, Gesetze in eine gewisse Logik zu bringen. In dem einen Fall habe ich nichts zu entscheiden, wieso dann in dem anderen? Oder umgekehrt. Also wir haben hier ein Volljährigkeitsalter.

    Sie machen eine Mehrwertsteuererhöhung, nicht eine Vermögenssteuer - trauen sie sich nicht, nicht eine angemessene Körperschaftssteuer - trauen sie sich nicht, nicht eine Steuer auf Veräußerungserlöse, die es unter Kohl gab. Da musste die Deutsche Bank, wenn sie etwas verkaufte, auf den Kaufpreis eine Steuer bezahlen. Heute muss der Bäckermeister den doppelten Satz bezahlen, dafür braucht die Deutsche Bank gar nichts mehr zu bezahlen. Das ist die Politik, die wir erlebt haben. So, und ich kann das nicht erkennen. Von der Großen Koalition geht diesbezüglich kein Signal aus. Ich weiß, wir sind nicht mehr als eine Korrekturfunktion, aber immerhin. Die ist wichtig genug, dass mal über Alternativen in der Gesellschaft gesprochen wird.

    Wiese: Aber als Plapperbude oder Schweinebande würden Sie diese Vereinigung nicht nennen?

    Gysi: Nein, das ist nicht gerechtfertigt. Ich habe sowieso ein anderes Vokabular als andere. Andere sind anders aufgewachsen, die drücken sich auch anders aus. Das kommt ja zum Teil auch gut an, zum Teil natürlich auch nicht. Das ist ja sehr unterschiedlich. Dann sind sie alle miteinander beleidigt. Ich verstehe es nicht. Es ist gar nicht mein Stil, aber ich verstehe auch gar nicht, warum die so empfindlich sind. Was ich über mich alles schon lesen und hören musste in den vergangenen 16 Jahren, das war viel dicker. Und ich habe einfach beschlossen, ich haue sowieso nicht zurück, insofern stört mich das nicht. Wichtig sind mir die Veränderungen für die Menschen. Und da müssen wir aufpassen, das ist mir viel wichtiger.

    Durch uns entstehen auch ein paar Hoffnungen und wir haben nicht das Recht, diese zu zerstören. Also müssen wir wirklich dranbleiben, Tatsachen zu nennen, Alternativen aufzuzeigen und zu zeigen, wie man ökonomisch, sozial sich wesentlich gerechter entwickeln kann, als das gegenwärtig in Deutschland der Fall ist, und zwar in Einheit. Verstehen Sie, die Linke muss sich in Deutschland vereinigen. Das müssen wir bis spätestens 2007 geschafft haben. Wenn wir das geschafft haben - und ich bin davon überzeugt, dass wir das schaffen werden trotz der paar in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, die das nicht wollen, dann wird das eine Entwicklung auslösen und dann können wir dann über die Bundestagswahl 2009 ganz neu sprechen. Das halte ich für spannend. Ich glaube, dass wir eine solche Kraft verstärkt erleben werden.

    Wiese: Sie sind von den ersten gut hundert Tagen der Großen Koalition also nicht besonders angetan. Das ist klar und deutlich geworden, Herr Gysi. Wem geben Sie Recht? Die einen sagen, die Union sozialdemokratisiert sich in der Großen Koalition, wenn es dieses Wort denn überhaupt gibt. Die anderen sagen, die SPD wird zur neoliberalen Partei.

    Gysi: Also, die SPD ist das ja geworden. Sie ist unter Gerhard Schröder entsozialdemokratisiert worden. Das führte ja auch dazu, dass es plötzlich ein Bedürfnis nach einer Partei wie der unsrigen auch in den alten Bundesländern gab. Das ist das eine.

    Das zweite ist, dass tatsächlich - und das hängt auch mit den Bundestagswahlen zusammen - in der Union mehr über soziale Gerechtigkeit gesprochen wird als früher. Ich glaube, im Wahlkampf hat Frau Merkel das Wort gar nicht benutzt. Aber jetzt redet sie davon, jetzt redet selbst Frau Merkel über Mindestlohn. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich Mindestlohn gefordert habe im Wahlkampf, ist mir das als ökonomischer und sozialer Unsinn entgegengehalten worden. Jetzt sagt es selbst die Bundeskanzlerin. Wir hatten im Wahlprogramm ein Zukunftsinvestitionsprogramm, jetzt vereinbart die Große Koalition es.

    Es gibt nicht nur das, was ich gesagt habe, an Negativentscheidung. Das stimmt, wo es konkret wird, machen sie neoliberale Politik. Aber die Sprache hat sich verändert. Es gibt wieder andere Diskussionen, auch im Rundfunk, auch im Fernsehen. Es war ja mal alles so neoliberal. Was man aufschlug, überall stand ja, man muss eben älter werden, bevor man Rente beziehen darf und so. Alle hatten die gleichen Theorien. Und das ist alles wieder durcheinander geraten.

    Und sehen Sie mal, das erste Mal nach 1949 hatten wir ein Bundestagswahlergebnis, wo beide großen Parteien verloren haben. So etwas gab es noch nie. Entweder hat die eine verloren und die andere gewonnen oder umgekehrt. Aber dass Union und SPD verlieren, dass plötzlich weder Rot-Grün regieren können noch Schwarz-Gelb regieren können, das liegt doch nur an uns, und dass die daraufhin eine Große Koalition machen. Ich sage immer: Das Gute an uns ist, wir brauchen nur gewählt zu werden und schon verändern sich die Sachen, da haben wir noch gar nichts beantragt. Dass die Reaktionen auf uns so sind, das habe ich ja nun sehr deutlich erlebt. Die sind natürlich sauer auf uns, dass wir da sind. Aber da müssen sie halt durch. Das ist ja das Schöne an Demokratie und an Wahlen, dass man das nicht alleine entscheidet, wie so was ausgeht.

    Wiese: Ist also die SPD Ihrer Meinung nach für die deutsche Linke ein für alle Mal verloren, oder sehen Sie noch Chancen, sie zurück zu gewinnen?

    Gysi: Also, ein für alle Mal würde ich nie sagen. Da reicht auch ein kleines Leben gar nicht aus, um so etwas zu überbrücken. Das ist ja die älteste Partei in Deutschland. Ich kann nur hoffen, im Augenblick gibt es wenig Anzeichen dafür, dass sie sich wieder sozial demokratisiert. Und wenn sie sich sozial demokratisierte, dann wären auch spannende Veränderungen in Deutschland möglich. Im Augenblick sieht es nicht so aus, weil sie keine Debatte haben. Ich weiß gar nicht, wie viele Landtagswahlen und Bundestagswahlen haben sie jetzt hintereinander verloren? Also, ich glaube, da kommen bestimmt elf oder zwölf zusammen. Gab es da je eine Debatte in der Partei?

    Die hat, wie ich finde, mit guten ökonomischen und sozialen Gründen gegen die so genannte Merkel-Steuer gekämpft im Wahlkampf. Sie wollte keine zwei Prozent Mehrwertsteuererhöhung. Jetzt macht sie als Kompromiss nicht zwei Prozent sondern drei Prozent - ohne eine Debatte auf dem Parteitag. Verstehen Sie, noch vor sechs, sieben Jahren wäre da doch etwas los gewesen auf dem SPD Bundesparteitag. Jetzt gar nicht, das nehmen die einfach so hin. Also, im Augenblick ist das wirklich keine aktuelle Frage, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Sie haben einen neuen Vorsitzenden. Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Ich sage mir, eines Tages werden sie erkennen, wenn sie nicht sozialdemokratisch werden, sind sie überflüssig. Eine Union haben wir ja schon.

    Und wiederum bei der Union, muss ich sagen, ist eben auch alles ziemlich durcheinander. Ich würde wahrscheinlich mit Herrn Geissler oder mit Herrn Blüm in der einen oder anderen Frage heute schneller auf einen Nenner kommen als mit mancher Sozialdemokratin oder manchem Sozialdemokraten. Die Welt ist durcheinander geraten, das ist wahr. Aber das Soziale haben sie nun noch nicht geheiratet. Aber es gibt natürlich so eine christliche Soziallehre, die spielt auch eine gewisse Rolle. Also auch dort ist vieles durcheinander. Und ich glaube, das Durcheinander macht auch die Leute durcheinander und Verwirrung ist in der Gesellschaft nie gut. Und wir sind wenigstens berechenbar. Das ist doch schon mal ein großer Vorteil.