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Habermas kompakt

Zum hat der Suhrkamp Verlag eine neue fünfbändige Sonderausgabe seiner wichtigen Bücher aufgelegt. Neu erschienen ist auch die 2005 erstmals veröffentlichte Aufsatzsammlung zu "Naturalismus und Religion".

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 18.06.2009
    Dem Institutsleiter Max Horkheimer, einer der Hauptvertreter der als neomarxistisch geltenden Frankfurter Schule, die die Studentenbewegungen rings um 1968 inspirierte, war Jürgen Habermas zu links. Er musste daher bei Wolfgang Abendroth im traditionell linken Marburg habilitieren. Den rebellierenden Studenten indes war er in jenen Jahren längst nicht links genug, geriet er frühzeitig mit ihnen in Konflikt. Heute darf man ihn wohl als einen staatstragenden Philosophen bezeichnen, der wie kein zweiter die zweite deutsche Demokratie aus der Perspektive eines sozialen Anspruchs vertritt.

    Ausgangspunkt seines politischen Denkens bleibt für ihn unweigerlich die Erfahrung des Nationalsozialismus. So schreibt er in der Einleitung zum Band IV der Philosophischen Texte, der unter dem Titel "Politische Theorie" firmiert:

    "Für uns war es nicht möglich, zu den Enthüllungen über die Verbrechen des NS-Regimes nicht Stellung zu nehmen, sei es defensiv oder in selbstkritischer Weise. (...) Für uns ist die politische Auseinandersetzung mit dem Faktum der breiten Zustimmung unserer Bevölkerung zum NS-Regime bis heute mehr als nur ein Thema unter anderen geblieben. (...) Die frühe Bundesrepublik war durch eine Kluft zwischen zerbrechlichen demokratischen Institutionen und kaum erschütterten autoritären Mentalitäten geprägt. Wie in fast allen Funktionsbereichen war auch im akademischen Betrieb die personelle Kontinuität ungebrochen. Die intellektuellen Vorreiter des alten Regimes hatten – bis auf wenige Ausnahmen – die Entnazifizierung unbeschädigt überstanden. Sie fühlten sich vor Kritik sicher und sahen keinen Grund zur Selbstkritik. Die personellen und geistigen Kontinuitäten, die sich unter der Decke eines Verdrängungsantikommunismus unbehelligt fortsetzten, haben auf der anderen Seite die Furcht vor einem Rückfall in die autoritären Verhaltensmuster und elitären Denkgewohnheiten des vordemokratischen Deutschlands wach gehalten – bei mir sogar bis in die frühen 80er Jahre hinein."

    Doch Jürgen Habermas, der die Gründerväter der Frankfurter Schule, Horkheimer und Theodor Adorno am Ende beerbte, wollte sich trotz dieser Erfahrungen und Ängste nicht deren Pessimismus anschließen. So schreiben beide 1947 in ihrer berühmten "Dialektik der Aufklärung":

    "Seit je hat Aufklärung im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils."

    Gegen die Einsicht, dass im Herzen einer durch die technische und wissenschaftliche Vernunft beherrschten Erde die Barbarei wiederkehrt, schließt Habermas an die ursprüngliche Intention der Frankfurter Schule aus ihrer Gründerzeit in der Weimarer Republik an. So beschäftigt er sich wieder mit der Frage, wie kritische Sozialwissenschaft dazu beitragen kann, gerechtere, demokratischere, insgesamt humanere Verhältnisse zu befördern. Dabei distanziert er sich vom an Hegel und Marx orientierten geschichtsphilosophischen Ansatz der Frankfurter Schule. Diese an großen Ideen und sozialen Klassen orientierte Sichtweise erschien ihm für die modernen Gesellschaften unangemessen. Stattdessen fragt er nach ethischen Begründungen des Handelns. In diesem Sinn schreibt er in Band 3, der den Titel "Diskursethik" trägt:

    "Während der 1960er Jahre hatte ich mich zunächst in sozial- und geschichtsphilosophischen Zusammenhängen mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis beschäftigt; diese Überlegungen bewegten sich im Übergangsfeld zwischen praktischer Philosophie und Gesellschaftstheorie, spitzten sich aber auf das engere Problem einer vernünftigen Begründung von Entscheidungen zu."

    Vernunft, so Habermas, birgt nicht notwendig eine Neigung zur Gewalt, wenn man ihre kommunikative Struktur beachtet. Denn Vernunft fordert zum gegenseitigen Austausch von Argumenten auf, was Gewalt ja gerade vermeidet. Daraus ergibt sich nicht nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments, sondern eine Perspektive, die die Vernunft in den Dienst einer Humanisierung der Lebenswelt stellt, um deren Beherrschung durch soziale Mächte wie Ökonomie, Bürokratie oder Militär zu verhindern, wie sie sich beispielsweise im Nazideutschland durchsetzte, wenn eine militante totalitäre Bewegung praktisch alle Bereiche der Lebenswelt infiltriert. Dazu bemerkt Habermas im fünften Band, der der "Kritik der Vernunft" gewidmet ist:

    "Nichts erschien uns nach der moralischen Korruption der deutschen Universität lächerlicher als der Anspruch der ‚großen’ Philosophie, die Welt aus einem Punkte kurieren zu wollen. (...) Nur auf dem egalitären Weg von Argumentation und Aufklärung konnten wir im Umgang mit Kunst und Literatur, Recht und Moral, Gesellschaft und Politik zu Zeitgenossen einer Moderne werden, die meiner Generation bis 1945 verschlossen geblieben war."

    Der Suhrkamp Verlag macht mit der fünfbändigen Studienausgabe von philosophischen Texten das Werk von Habermas erheblich besser zugänglich. Denn diese Ausgabe enthält, nicht die großen systematischen Werke wie die zweibändige "Theorie des kommunikativen Handelns"aus dem Jahr 1981, die man nach wie vor als sein Hauptwerk bezeichnen kann. Die etwa 2000 Seiten enthalten einen Teil seiner Aufsätze seit den achtziger Jahren, von denen allerdings nur zwei Erstveröffentlichungen darstellen. Habermas erläutert:

    "Die thematisch geordnete Auswahl von Aufsätzen soll Studenten den Zugang zum Kern meiner philosophischen Auffassungen erleichtern. Statt ‚Gesammelter Abhandlungen’ lege ich eine systematische Auswahl von Texten vor, die jeweils an die Stelle ungeschriebener Monographien treten müssen."

    Die fünf Bände verteilen sich unter die Themenbereiche: Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie, Rationalitäts- und Sprachtheorie, Diskursethik, Politische Theorie und Kritik der Vernunft. Dagegen wurden die vielen Aufsatzsammlungen der letzten Jahrzehnte eher unter speziellen Titeln ediert, wie beispielsweise der ebenfalls jetzt als Taschenbuch erschienene Band aus dem Jahr 2005 mit dem Titel "Zwischen Naturalismus und Religion". Dieses gleichzeitige Erscheinen verwundert insoweit, wie die fünf Bände sehr viele Texte aus diesem Sammelband enthalten.

    Doch nicht umsonst könnte man das Denken von Habermas zwischen die politischen Pole spannen, und zwar einerseits der Verarbeitung des Nationalsozialismus und andererseits der Reflexion der heutigen Wiederkehr der Religionen auf die politische Bühne. So heißt es in einem Aufsatz über "Religion in der Öffentlichkeit", der in beiden Editionen enthalten ist:

    "In der Periode seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind, mit Ausnahme Irlands und Polens, alle europäischen Länder von einer Säkularisierungswelle erfasst worden, die mit gesellschaftlicher Modernisierung einhergeht. Für die Vereinigten Staaten belegen hingegen alle Umfragedaten, dass der ohnehin vergleichsweise hohe Anteil an gläubigen und religiös aktiven Bürgern während der letzten sechs Jahrzehnte konstant geblieben ist. (...) In diesem Horizont wird die Spaltung des Westens so wahrgenommen, dass sich Europa vom Rest der Welt isoliert. Welthistorisch betrachtet, erscheint Max Webers ‚okzidentaler Rationalismus’ nun als der eigentliche Sonderweg."

    Wie wichtig das Thema Religion für Habermas geworden ist, bezeugt diese fünfbändige Edition der Philosophischen Texte. Im Band 4 über "Politische Theorie" fasst er mehrere Aufsätze unter dem Stichwort Religion zum dritten von insgesamt vier Teilen zusammen. Der Band 5 als letzter Band der Edition widmet die beiden abschließenden Teile ebenfalls diesem Thema. Dieser Band enthält auch die beiden unveröffentlichten Aufsätze, die in der Tat beide nicht nur spannende Einblicke in das Denken von Habermas gewähren, sondern beide, der eine indirekt, der andere direkt sich mit dem Thema Religion und Aufklärung beschäftigen. Der Aufsatz "Von den Weltbildern zur Lebenswelt" schließt an Heidegger und Husserl an und berührt damit natürlich auch die Frage einer religiösen Weltdeutung. Der andere Aufsatz "Die Revitalisierung der Weltreligionen – Herausforderung für ein säkulares Selbstverständnis der Moderne?" sucht nach den Gemeinsamkeiten zwischen Aufklärung und Religion. Habermas schreibt:

    "Die polemische Stellung der Aufklärung zur weltlichen Macht der Religion täuscht darüber hinweg, dass sich das nachmetaphysische Denken Gehalte aus der jüdisch-christlichen Überlieferung kritisch anverwandelt hat, die nicht weniger wichtig sind als das Erbe der Metaphysik. (. .) In unserem Zusammenhang ist der (. .) Umstand relevant, dass die praktische Philosophie auf der Grundlage eines methodischen Atheismus aus erlösungsreligiösen Offenbarungswahrheiten kognitive Gehalte geborgen und in eigene Argumentationen einbezogen hat. (. .) In diesem Diskurs zählen nur ‚öffentliche’ Gründe, also solche, die grundsätzlich auch jenseits einer partikularen Glaubensgemeinschaft überzeugen können."

    Habermas erkennt an, dass die Philosophie in der Tradition der Aufklärung viele, vor allem ethische Orientierungen der religiösen Tradition verdankt. Das ändert jedoch nichts daran, dass religiöses und philosophisches Denken sich dort unterscheidet, wo es um die Begründung von Wahrheit und um die Anerkennung von Autoritäten und Lehrsätzen geht.

    Auf der Differenz von Glaubensgewissheiten und wissenschaftlicher Erkenntnis wird die Philosophie auch weiterhin bestehen. Doch sie sollte die Religion nicht als unvernünftig disqualifizieren, ihr vielmehr die Türe zum gemeinsamen vernünftigen Diskurs öffnen. Denn für Habermas stellt die Wiederkehr der Religion in der Konfrontation mit großen säkularen Teilen der Gesellschaft die Herausforderung an den liberalen Staat dar, unter welchen Bedingungen man sich gegenseitig achten und auf welche gemeinsamen rechtlichen und ethischen Grundnormen man sich einigen kann.

    Jürgen Habermas: Philosophische Texte - Studienausgabe in fünf Bänden
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009
    2170 Seiten, 78 Euro

    Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion – Philosophische Aufsätze
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009 (stw) 2009 (Erstauflage 2005),
    372 Seiten, 14 Euro