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Hadschi Murat. Eine Erzählung aus dem Land der Tschetschenen

Gerade in der russischen Literatur erlebt man es immer wieder, dass bestimmte Werke der großen Klassiker sich als lebendiger und für die unmittelbare Gegenwart bedeutungsvoller erweisen als die Masse der gegenwärtigen Buchproduktion.

Karla Hielscher | 30.07.2001
    Tolstojs Alterswerk "Hadschi Murat" - vor über hundert Jahren entstanden und erst nach seinem Tode 1912 erschienen - ist ein solcher Text. Deshalb ist es dem Inselverlag zu danken, dass er das Buch - mit einem informativen Nachwort des Slawisten Wolfgang Kasack - wieder herausgebracht hat. Zwar stammt der Untertitel "Eine Erzählung aus dem Land der Tschetschenen" nicht von Tolstoj selbst, er ist aber wohl als Hinweis für den deutschen Leser auf die Aktualität des Kurzromans durchaus legitim. Denn was wissen wir schon von diesem fortdauernden schändlichen Krieg zwischen der Großmacht Russland und dem kleinen Kaukasusvolk der Tschetschenen, einem Krieg, der als Teil der kolonialen Expansion Russlands Ende des 18. Jahrhunderts begann, nach jahrzehntelangen Kämpfen 1864 mit der Eingliederung Tschetscheniens in das russische Imperium siegreich beendet schien und doch - wie die Geschichte gezeigt hat - nie zu einem wirklichen Abschluss kam.

    Dieser Krieg nun wurde durch die russische Literatur des 19. Jahrhunderts zu einem heroisch-pathetischen Mythos, der im Bewusstsein der Russen bis heute lebendig geblieben ist. Geschaffen von so bedeutenden Dichtern wie Puschkin und Lermontow, verbindet der Kaukasusmythos romantisches Freiheitspathos und die Verherrlichung der grandiosen Bergwelt mit der Rechtfertigung der imperialen Ansprüche des zaristischen Staates und einem oft rassistische Züge tragenden Feindbild des gefährlich hinterlistigen Tschetschenen.

    Tolstoj hatte als junger adeliger Müßiggänger von 1851-1853 selbst in Kosakenstanizen im Grenzgebiet gelebt und auch an Überfällen auf tschetschenische Bergdörfer teilgenommen. Mehrere Erzählungen und sein erster großer Roman "Die Kosaken" haben den Kaukasuskrieg zum Thema und setzen sich bereits in realistischer Weise mit dem romantischen Klischee auseinander. Aber erst in seinem Alterswerk "Hadschi Murat", dessen Sujet auf jahrelangem Studium historischer Quellen aufbaut, überwindet der Schriftsteller den heroischen Kolonialmythos völlig und zeigt diesen Krieg als barbarisches und widersinniges Morden.

    Der Titelheld Hadschi-Murat ist eine historische Führergestalt der Bergkämpfer. In Fehde mit dem legendären Anführer Schamil, der seine Familie und den geliebten Sohn als Geiseln in seine Gewalt gebracht hatte, war er zunächst zur russischen Armee übergelaufen. Von dieser jedoch mit Misstrauen verfolgt, floh er schließlich in die Berge und starb in einem erbarmungslosen Gemetzel.

    Der stolze, freiheitsliebende, jedoch auch mit List und taktischem Verrat agierende Hadschi-Murat wird - wie Tausende andere Russen und Tschetschenen - zum Opfer in einem sinnlosen Krieg zwischen zwei Despoten, dem russischen Zaren Nikolaus I und dem islamischen Imam Schamil. Tolstoj interessierte nämlich, wie er es selbst ausdrückte, besonders "die äußerst interessante Parallele der zwei Hauptgegner jener Epoche (...), die gemeinsam gleichsam zwei Pole des Absolutismus der Macht darstellen, des asiatischen und des europäischen."

    Das Buch zeigt die beiden Führer dieses Krieges in zwei bewusst ähnlich gebauten Szenen als selbstgefällige, grausam zynische Gewaltherrscher. Auch wenn natürlich in dieser vor 150 Jahren spielenden historischen Kriegsepisode die Waffen weniger zerstörerisch sind, die Natur noch unberührter ist und die adeligen Offiziere andere gesellschaftliche Umgangsformen pflegen, werden die Bilder des heutigen Krieges erkennbar: brandschatzende Soldateska, zerstörte Dörfer, terrorisierte Zivilbevölkerung, Bandenkrieg zwischen verschiedenen Gruppierungen der Tschetschenen, in Erdgruben vegetierende gefangene Geiseln.

    Tolstoj macht deutlich, wie die Kriegsgegner auf beiden Seiten ihre Menschlichkeit verlieren. In einem Sack bringen russische Soldaten den abgeschlagene Kopf Hadschi Murats und zeigen ihn triumphierend herum: "Es war ein glattgeschorener Schädel mit vortretenden Augenbrauenwülsten, schwarzem gestutztem Bart und Schnurrbart. Das eine Auge war halb, das andere ganz geöffnet. Auf dem von einem Säbelhieb halb gespaltenen Schädel und in den Nasenlöchern klebte geronnenes Blut. Um den Hals war ein blutiges Handtuch gewickelt. Trotz aller Wunden lag um den bläulich verfärbten Mund ein kindlich-gutmütiger Ausdruck." Eine Soldatenfrau spricht es aus: "Schinder seid ihr alle, ich kann euch nicht ausstehen. Schinder, wahrhaftig."

    Tolstojs Erzählung legt den brutalen Mechanismus auch des heutigen Tschetschenienkrieges offen, in dem es auf beiden Seiten keine Helden, sondern nur Henker und Opfer gibt.