Eine Kulturgeschichte der Hände verspricht die neue Studie von Jochen Hörisch. Diese ist weit gefasst. Sie reicht über die Literaturwissenschaft hinaus bis in anthropologische Überlegungen. Zugleich orientiert sie sich an Zeichen, vor allem Zeichen der Sprache. Der Akzent liegt auf der deutschen Sprache und Literatur. Wer also bereit ist, dieser Tendenz beim Thema der Hände und Taktilität zu folgen, der wird mit einer Vielzahl überaus anregender Einsichten und Beispiele belohnt, nach dem Grundsatz:
"Die Hand ist nicht die handfeste Alternative zur Abstraktion, sondern die handgreifliche Bedingung ihrer Möglichkeit."
Ich gebe Dir die Hand
Wer dagegen die versprochene Kulturgeschichte genauer betrachtet sehen möchte, oder die Frage der haptischen Sinnlichkeit, dem werden schnell auch Zweifel kommen. Hörisch bezieht nicht-westliche Kulturen durchaus in seine Ausführungen ein, etwa die indisch-hinduistische Tradition, doch eher am Rande. Er widmet sich ausdrücklich einer Phänomenologie der Hand, wie genau aber diese beschrieben ist, dazu gleich mehr! Folgen wir erst der Hauptorientierung im Buch, nämlich wie Hände zur Sprache kommen und was das bedeuten mag.
Der Autor eröffnet ein eindrucksvolles Feld historischer Herleitungen von Wörtern und Begriffen, die sich entweder allesamt der lateinischen Herkunft von Hand, manus, verdanken – von Emanzipation bis Management – oder dem deutschen Wortstamm und seinen Verzweigungen selbst. Daneben geht er von zahlreichen Redewendungen aus, angefangen von frühen lexikalischen Einträgen:
"Von Händen kommen, s. Abhanden. Eine Arbeit unter den Händen haben (…). Unter der Hand, insgeheim (…). Ich gab es ihm unter der Hand zu verstehen (…). Nicht mehr haben als aus der Hand in den Mund (…). Ein Gewerbe mit leeren Händen anfangen (…). Einem etwas auf die Hand geben (…), siehe Handgeld."
Wie man richtig zupackt
Die These der Studie ist: Im Sprachgebrauch wird bedeutsam, was uns als Menschen prägt. Am Beispiel der Hände lässt sich dieser Zusammenhang gut veranschaulichen. Hörisch will hinter die vermeintliche Trennung von Sprache und Körperlichkeit zurück, um erneut Anschluss an die anthropologische Sprachphilosophie Johann Gottfried Herders zu finden. Ob ihm das gelingt? Zunächst ein Beispiel seines vorsichtigen Abtastens von gebräuchlichen Ausdrucksweisen:
"Der Arm ist größer und stärker, aber eben auch weniger komplex und subtil als die Hand. Es wäre eigentümlich, vom Arm statt von der Hand Gottes oder dem unsichtbaren Arm statt von der unsichtbaren Hand des Marktes zu sprechen. Gott und der Geist des Marktes krempeln nicht die Ärmel hoch, um dann kräftig zuzupacken; ihre feingliedrige Hand waltet vielmehr bis zur Unsichtbarkeit subtil. Umgekehrt wäre es irritierend, wenn man von der Hand statt vom langen Arm des Gesetzes sprechen würde."
Aus eigener Hand befreit
Was lässt sich sinnvoll sagen, was nicht? Welcher Ausdruck legt welche Gedanken nahe? Inwieweit geht dieses Reden einher mit Erfahrungen von Körperlichkeit? Der Autor filtert Motive und Themen aus dem Wortgebrauch – wie etwa die Hand Gottes oder der lange Arm des Gesetzes. Diese Motive und Themen bilden die Angelpunkte seiner kulturellen Reflexion, die vom Fußball über Ökonomie bis hin zur Dichtkunst reicht. Der Prüfstein für die Aussagekraft des Ganzen ist die Literatur, als Reflexion im Medium der Sprache selbst. Zum einen sind Autoren an die Verständlichkeit bekannter Redewendungen gebunden, zum anderen offenbaren mögliche Abwandlungen den Spielraum unserer Vorstellungen, arbeiten Schriftsteller an den Grenzen des Sagbaren, an den Grenzen auch zur Wirklichkeit. So verweist Jochen Hörisch auf einen Satz aus Heinrich von Kleists Erzählung "Marquise von O":
"Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor."
Und er meint dazu: "Sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen, ist – Münchhausens fabelhafter Geschichte zum Trotz – nicht möglich. Sich "wie an (…) eigener Hand" aus der Hand höherer Gewalten zu befreien, ist hingegen möglich und kann zur Maxime gelingenden Lebens werden."
Aus der Handelsstadt Frankfurt
Der Leitstern für Hörischs Betrachtungen ist Goethe, weil die literarische Reflexion und Gestaltung zum Thema Hände hier am umfassendsten sei. Tatsächlich bildet das Werk des Weimarer Klassikers eine ungemein ergiebige Fundgrube, von der Handprothese des Götz von Berlichingen angefangen, über Werthers Faszination für die Hände seiner geliebten Lotte, die Besiegelung von Verbundenheit im Schauspiel "Torquato Tasso", Hand-Motive in den Bänden des Romans "Wilhelm Meister", der Tragödie des "Faust", schließlich in den Erinnerungen "Dichtung und Wahrheit".
Hörisch zitiert aus "Dichtung und Wahrheit" Goethes Dank an Herder, der ihm das tiefere Nachdenken über Tastsinn und Gefühl erst nahegebracht hätte. Dabei wird als Quelle allein Herders "Abhandlung über den Ursprung der Sprache" von 1772 genannt. Die Fixierung auf die Sprache verstellt dem Germanisten an dieser Stelle den eigentlichen Hintergrund von Herders und Goethes Auseinandersetzung mit Taktilität, und zwar Herders Schriften zur "Plastik", über die beide korrespondiert haben. Begeistert schrieb Goethe seinem Freund, gleichfalls 1772:
"(…) ich finde dass ieder Künstler so lang seine Hände nicht plastisch arbeiten nichts ist. Es ist alles so Blick bey euch, sagtet ihr mir oft. Jetzt versteh ich’s (…)."
Das Plastische nicht plastisch genug
Was auf die Art unkenntlich bleibt, ist der ganze kunsttheoretische Diskurs zur Plastik bis hin zum Begriff des Autoplastischen. Das Stichwort "autoplastisch" nimmt Hörisch zwar mehrfach in Anspruch, jedoch – da der entsprechende Diskurs fehlt – ohne Möglichkeit es näher zu bestimmen. Dabei hätte ihm die Beschäftigung mit Herder erneut weiterhelfen können.
Denn gerade gegen Herders Vorstellungen des Plastischen richtete sich der Blindenpsychologe Ludwig Münz mit seinem Begriff des Autoplastischen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Autoplastisch bedeutet etwa, ein Lächeln nicht vom Anblick her zu gestalten, vielmehr aus der eigenen körperlichen Empfindung. So beinhaltet diese ungemein detaillierte, kenntnisreiche und im besten Sinne auch sprachverliebte Studie leider ebenso Seiten, die dem Anspruch anderer Disziplinen als jener der Germanistik nicht gerecht werden, schon gar nicht einer "Phänomenologie der Hand".
Die private und die öffentliche Hand
Als eine Kulturgeschichte überzeugt das Buch "Hände" von Jochen Hörisch deshalb vor allem mit Blick auf Sprache und Literatur. Nachdem die Bedeutung der dichterischen Höhenflüge nun besprochen wurde, muss mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, wie der Autor die historische Dimension seines Vorhabens entfaltet. Nicht nur Wortherleitungen und Redewendungen stehen im Vordergrund. Vielmehr entwickelt er ein mentalitätsgeschichtliches Panorama, wiederum am Beispiel der haptischen Metaphorik.
Mit Hilfe des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache erkundet er etwa die Übergänge der Sprechweisen von der "Hand Gottes" zu jener von der "unsichtbaren Hand des Marktes" bis hin zur Unterscheidung von "privater und öffentlicher Hand". Mentalitätshistorisch spiegelt sich darin der Wechsel von metaphysischer Verabsolutierung zur Verbildlichung des nur mehr Angenommenen bis hin zur konkreten Benennung wirkender Kräfte:
"Private und öffentliche Hände stehen nicht nur miteinander im Widerstreit, gemeinsam schwächen sie auch den Glauben an die eine herrschende Gotteshand."
Die unsichtbare Hand Gottes
Sein Hauptinteresse gilt in dieser Entwicklung der sogenannten unsichtbaren Hand. So verweist er auf den Bericht von Daniel Defoe über die große Pestepidemie in London 1665, und wie darin die Hand Gottes als unsichtbare Hand gedeutet wurde. Im Laufe des 18. Jahrhunderts dann, dem Zeitalter der Empfindsamkeit, fand die Metapher von der unsichtbaren Hand Eingang in Ausdrucksweisen unergründlicher Leidenschaften, etwa in Christoph Martin Wielands Trauerspiel "Clementina von Porretta".
Zur unpersönlich waltenden Vision einer schicksalhaften, unsichtbaren Hand gesteigert, findet sich die Metapher bei Friedrich Schiller, Jean Paul oder Ludwig Tieck, während im englischsprachigen Raum der Ökonom Adam Smith den Wohlstand im Kapitalismus davon bewirkt sehen wollte oder die Schriftstellerin Mary Shelley den künstlichen Menschen von Viktor Frankenstein damit identifizierte. Hörisch:
"Diese kleine Zitatreihe, die nur durch die allen Texten gemeinsame Wendung von der unsichtbaren Hand zusammengehalten wird, belegt die Intensität eines Problems, an dem sich große Literatur abarbeitet. Wer hat wie und in welchem Maße sein Leben in der Hand; welche anderen, erst einmal nicht eindeutig erkennbaren, ja unsichtbaren Hände fallen unseren Versuchen, das Spiel des Lebens in der eigenen Hand zu halten, in die Hände?"
Die kleinen nachzeichnenden Menschen
Das Bild der unsichtbaren Hand rückt Jochen Hörisch vor allem deshalb in den Vordergrund, weil hier sprachliche Mentalitätsgeschichte und poetische Versprachlichung der einzelnen Dichterinnen und Dichter nachweislich ineinandergreifen, treffend zum Beispiel in einer Passage aus Wilhelm Raabes Roman "Chronik der Sperlingsgasse" von 1855:
"Wie traurig hat dieser Tag geendet! Ich wollte die Geschichte der armen Tänzerin über mir, die wir einst auf den Weihnachtsmarkt begleiten, nicht erzählen, aus Furcht, diesem Bilderbuch eine dunkle Seite mehr zu schaffen; aber die unsichtbare Hand, welche die gewaltigen Blätter des Buches "Welt und Leben" eins nach dem andern umwendet, mit ihren zertretenen Generationen, gemordeten Völkern und gestorbenen Individuen, will es anders als der kleine nachzeichnende Mensch."
Dass die Dichter, die "kleinen nachzeichnenden Menschen", im Sog der prosaischen Sprachgeschichte stehen, wird dort deutlich, wo sich die Nachwirkung metaphysischer Herkünfte verbraucht – in wachsender Kritik und Transparenz und der Zuweisung schließlich konkreter Gründe für bestimmte Auswirkungen auf das eigene Leben, ökonomische Zwänge etwa.
Eine Hand wäscht die andere
Die private und die öffentliche Hand schälen sich als rationalisierte Metaphern aus der geheimnisumwitterten Rede vom Unsichtbaren. Sie tauchen dementsprechend vornehmlich in sachlichen Organen auf – Zeitungen, Wörterbüchern – und nicht in Romanen oder Dramen. Dass der Germanist Hörisch auch ein versierter Medientheoretiker ist, macht die Lektüre dieses Abschnitts zu einem besonderen Vergnügen. Statistische Graphiken des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache veranschaulichen die rasante Popularisierung des Begriffspaares der öffentlichen bzw. privaten Hand im 20. Jahrhundert. Zu dieser Popularisierung vermerkt der Autor:
"In vormodernen und vordemokratischen Zeiten (…) war die klare Unterscheidung zwischen der privaten und der öffentlichen Hand kaum möglich. Denn die öffentlichen Staats- und Verwaltungsgeschicke lagen ja zumeist in der Hand einer regierenden Privatperson, die diesen ihren Status, als erwählte Privatperson über öffentliche Belange entscheiden zu können, auf Gottes Gnade und Ratschluss zurückführen konnte (…). Die Privatschatulle und die Privatkapelle eines Herrschers sind scheue Ausprägungen der Vermutung, dass das öffentliche Wohlergehen der Bevölkerung und das private Wohl eines Herrschers unterschiedlichen Impulsen und Logiken folgen können. Die Illusion einer großen Übereinstimmung zwischen den Interessen des Landesvaters und des Landes war um jeden Preis aufrechtzuerhalten (…). Moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaften verabschieden sich von solchen Homogenisierungstendenzen. Sie setzen auf binäre Unterscheidungen wie die zwischen der privaten und der öffentlichen Hand."
Das Wort ist zum Greifen nah
Eingangs wurde auf den anthropologischen Horizont von Hörischs Kulturgeschichte der Hand hingewiesen, mit Blick auf Herder, und daran knüpfte sich die Frage, ob sein Buch hierzu einen überzeugenden Beitrag leistet. Das Beispiel des Wandels von der Bildsprache der Hand Gottes über die unsichtbare Hand bis hin zur öffentlichen bzw. privaten Hand, zeigte seine Verbindung mit poetischen Wendungen in diesem Rahmen, als reflexive Kristallisationen der Sprachkunst. Zugleich bildet die Hand in ihrer Körperlichkeit den allgemeinen Bezug und Rückhalt für die Sinnhaftigkeit dieser kollektiven wie individuellen, historischen wie kulturellen Zuschreibungen.
Auch wenn die Analyse sinnlicher Taktilität und Plastizität in seiner Studie nicht weit genug führt, so bleibt davon doch unberührt, dass der Autor Hände als greifbare Gliedmaßen ernst nimmt. Ein Wort ist nicht zum Greifen nah, doch lässt es sich begreifen. Dieses Paradox der eigenen Versprachlichung, mit der Körperlichkeit, gilt es zu ergründen. Das Staunen über dieses Paradox offenbart sich am auffallendsten in seinem Buch am Beispiel zweier Textpassagen, die sein Angebot darstellen, von der Literatur her das rätselhafte Ineinander von Fühlen und Denken zu betrachten, wie es für Menschen typisch ist. Die erste Passage stammt aus den Aufzeichnungen von Franz Kafka, mit dem einleitenden Satz: "Meine zwei Hände begannen einen Kampf." Die zweite Passage entstammt Jean-Paul Sartres Roman "Der Ekel":
"Ich sehe meine Hand, die auf dem Tische liegt. Sie lebt – sie ist ich. Sie öffnet sich, die Finger spreizen sich, sie liegt auf dem Rücken, zeigt mir ihren fetten Bauch. Sie sieht aus wie ein umgeworfenes Tier, die Finger sind seine Beine. Es macht mir Freude, sie sehr schnell zu bewegen wie die Beine eines Krebses, der auf den Rücken gefallen ist. Der Krebs ist tot, die Beine krümmen, schließen sich über dem Bauch meiner Hand. Ich sehe die Nägel – das einzige an mir, das nicht lebt. Meine Hand dreht sich um, liegt platten Bauches auf dem Tisch, zeigt mir ihren Rücken. Ein Silberrücken, ein wenig glänzend, beinahe ein Fisch, wären nicht die roten Härchen an den Ansätzen der Glieder. Ich fühle meine Hand. Diese beiden Tiere, die sich da am Ende meiner Arme berühren – das bin ich."
Nichts weiß die linke Hand
Der eigene Körper als Fremdkörper; die Kreatur, die man ist, spielerisch erfahren – die Hände erlauben es, sie zueinander in Bezug zu setzen und sich selbst dazu in Bezug zu setzen. Man bildet ein Dreieck mit seinen Händen, so scheint es, eine intime Dreiecksgeschichte auch, bei der die linke Hand nicht immer weiß, was die rechte tut, Hände sich in einen Kampf verstricken können, sie den Dichter und Philosophen nicht weniger faszinieren als den Maler und Zeichner. "Die denkende Hand", so nannte Gerhart Hauptmann 1922 einen Vortrag, in dem er die Wendung von der "Arbeit der denkenden Hand an uns selbst" prägte.
Auguste Rodin zeigte einen Denker auf seine Hand gestützt, und in dem Band von Hörisch ist eine Skulptur von ihm abgebildet, mit dem Titel "Die Kathedrale – Hände". Zwei fremde, offene Hände bilden in der Begrüßung ein schützendes Oval, einen Bogen. Oder sind es doch die Hände ein- und derselben Person?
Im Text dazu zitiert der Autor Rainer Maria Rilke, wie er von Handdarstellungen bei Rodin sprach. "Es gibt eine Geschichte der Hände, sie haben tatsächlich ihre eigene Kultur", so der Dichter. Jochen Hörisch hat diese Kulturgeschichte der Hände nun ausgebreitet – in Erinnerung auch daran, dass, wer vom digitalen Zeitalter spricht, es nach dem Finger benennt, lateinisch digitus. Hörisch dagegen reicht uns die ganze Hand.
Jochen Hörisch: "Hände. Eine Kulturgeschichte"
Hanser Verlag, München. 304 Seiten, 28 Euro.
Hanser Verlag, München. 304 Seiten, 28 Euro.