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Hänsel und Gretel hinterm Eisernen Vorhang

Unsentimentaler als Sibylle Berg kann man nicht sein. Als sie vor geraumer Zeit mit ihren Kolumnen und Reportagen zur so genannten Kultautorin aufstieg, sah es eine Weile lang so aus, als pflege sie ihre unsentimentale Schonungslosigkeit, wie man ein Markenzeichen pflegt.

Von Ursula März | 13.12.2006
    Als sie dann begann, Romane zu verfassen (1997 erschien "Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot", zuletzt kam im Jahr 2004 der Roman "Ende gut" heraus), wurde deutlich, dass die Unsentimentalität ihres knallenden Stils und ihrer frostigen, bisweilen bös-brutalen Sujets doch einiges mehr ist als Mittel zum Zweck popliterarischer Selbstdarstellung. Nämlich das Instrument ihrer apokalyptischen Reden.

    Ein bisschen ist Sibylle Berg der weibliche deutsche Houellebecq. Wie der französische Kettenraucher sieht sie in der Gesellschaft einen ziemlich verwahrlosten Haufen und im Mensch an sich ein eher verunglücktes Experiment. Nach der Lektüre der Bücher von Sibylle Berg fragt man sich, warum hier überhaupt noch irgendwas funktioniert und warum sich gelegentlich irgendjemand freundlich benimmt zu seinem Nächsten. Was Sibylle Berg, die vielleicht 1962, vielleicht 1966, vielleicht in einem ganz anderen Jahr in Weimar geboren wurde, Anfang der 80er in die Bundesrepublik ausreiste und seit langem in der Schweiz lebt, von Houellebecq indes unterscheidet, ist die Temperatur ihres Humors. In ihm weht ein warmes Lüftchen, das die Bergsche Kälte korrigiert und immer schon eine Ahnung davon gab, dass in der klassischen Apokalyptikerin die Gegenfigur ihrer selbst schlummert: eine klassische Utopistin.

    Mit dieser haben wir es nun in Sibylle Bergs neuem Buch "Habe ich dir eigentlich schon erzählt" zu tun, das sich "ein Märchen für alle" nennt und tatsächlich ein modernes adaptiertes Märchen ist. Hänsel und Gretel, die hier Max und Anna heißen, in einem düsteren grauen Land namens DDR und in einer muffigen Stadt leben, bei der es sich um Weimar handeln könnten, diese beiden Unglückskinder erzählen ihr Märchen selbst, im Wechselgesang und im saloppen Mündlichkeitsstil, der der Prosa Sibylle Bergs generell eignet. Max und Anna sind fast vierzehn, also auf dem Zenit der Pubertät, ein Alter, in dem erstaunliche Naivität auf erstaunliche Erwachsenheit trifft, in dem der Kummer wegen eines Pickels ausreicht für eine tagelange Depression, und die Sehnsucht, aus allem abzuhauen, plötzlich ausreicht, es auch zu tun. "Hab ich Dir eigentlich schon erzählt" ist ein - von den Künstlern Rita Ackermann und Andro Wekua illustriertes - Ausreißermärchen.

    Sibylle Berg hält sich präzise an die Erzählmodelle des Märchens. Anna und Max entstammen symmetrischen Verhältnissen. Anna lebt allein mit ihrer trunksüchtigen Mutter, Max lebt allein mit seinem schweigenden Vater. Beide leben mit diesem einen Elternteil so grotteneinsam, als hätten sie gar keine Eltern, in der Schule sind sie Außenseiter. Was Freunde sind, wissen sie nur aus Büchern und vom Hörensagen. Sie leben im selben Haus, aber sie sind beide so in sich verkrochen, nach außen hin so unsichtbar, dass sie noch nie Notiz voneinander genommen haben. Das ändert sich durch einen Zufall. Sie werden Freunde, sie hauen von zu Hause ab, sie trampen durch ganz Osteuropa bis zum Schwarzen Meer, sie erleben eine Reihe gefährlicher Abenteuer, kommen in ein rumänisches Kinderlager, aus dem sie sich befreien müssen wie Hänsel und Gretel aus dem Haus der Hexe. Und sie erleben ein paar Prüfungen ihrer Gefühle - bis am Ende aus den zwei Jugendlichen ein Pärchen wird, frei wie die Möwe in der Luft, die im letzten Satz vorbei fliegt, und auf dem Weg nach Irgendwo. Kurzum: Ein Happyend. Das ist bei Sibylle Berg schon eine kleine Sensation. Die Verlagerung der Märchengeschichte in die historische Kulisse des Eisernen Vorhangs gelingt ihr so leichthändig wie die spezielle Mischung aus Irrealität und Logik, die das Märchen dem Tagtraum so ähnlich macht. Beides sind Formen romantischer Utopie. Vermutlich muss man so unsentimental wie Sibylle Berg sein um glaubwürdig ein so romantisches Buch zu verfassen