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Hänsel und Gretel in der Hamburger Realität

"Hänsel und Gretel gehen Mümmelmannsberg" ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema Armut in Hamburg. Das Grimmsche Märchen ist von Regisseur Volker Lösch mit Aussagen von Bewohnern der Hamburger Hochaussiedlung Mümmelmannsberg collagiert.

Von Michael Laages | 26.09.2010
    "Das Schauspielhaus. Die Kampf-Ansage" - das große Wort prangt neuerdings haushoch an der Theaterfassade zum Hauptbahnhof hin; drinnen attackieren Wandzeitungen und Plakate die in der Tat völlig halt- und sinn- und hilf- und ahnungslosen Statements, die der neue sogenannte Hamburger Kultursenator Reinhard Stuth zu den angekündigten Kürzungen im Etat des Theaters von sich gegeben hat; zweifellos Dokumente von unverzeihlicher Dummheit und Ignoranz an verantwortlicher Position. Aber Stuth spricht im Namen eines Senates aus Schwarz und Grün, der nach dem (wie vom Intendanten Schirmer) holterdipolter vollzogenen Rückzug des Bürgermeisters Ole von Beust ebenso hilf- und ahnungslos nach Spar-Potenzial sucht im Haushalt des Landes. Hamburg, ein Laienspiel-Stadl, auch und gerade politisch - da hat der Regisseur Volker Lösch allemal recht, der nach dem eigenen Laienspektakel unter dem märchenhaften "Hänsel und Gretel"-Titel Solidarität mit der bedrohten Theater-Truppe vom Schauspielhaus bekundete. Die will die "Kampfansage" der Politik ihrerseits "mit allen Mitteln bekämpfen", wie der Schauspieler Markus John markig verkündete. Große Worte - bislang kann das Publikum sich Buttons an die Jacke stecken, auf denen steht "Ich bin das Schauspielhaus!"

    Fatalerweise ist das neue Sozial-Chor-Drama von Volker Lösch eher dazu angetan, vorhandene Gräben zu vertiefen - denn es markiert einmal mehr (und massiv wie nie) die Geringschätzung künstlerischen Bemühens an diesem Theater. Mit beträchtlicher Verve und (wie immer wieder) chorischer Wucht lässt Lösch Ausgegrenzte zu Wort kommen: diesmal Kinder aus dem Hamburger Plattenbau-Klassiker Mümmelmannsberg, einer kommunalen Bausünde der 70er-Jahre am Südostrand der Stadt. Und einige Laien mischen mit, die erstmals bei Löschs spektakulärer Hartz-IV-Bearbeitung des "Marat/Sade"-Stückes von Peter Weiss mitwirkten und nun (mit Profi-Unterstützung aus dem Theater-Ensemble) die Eltern der Ghetto-Kids sprechen.

    "Spielen" wäre zu viel gesagt - darum geht's auch gar nicht; was hier "gespielt" wird, etwa kurz vor Schluss eine Benefiz-Gala für benachteiligte Kids, ist noch viel grauenhafter als jede TV-Wohltätigkeit. Im Grunde sortieren Lösch und die Dramaturgin Beate Seidel wie beim Chor der Hartz-IV-Geschädigten authentische Fallgeschichten; und die machen vor allem ratlos - wie und zu welchen Preisen wird sich dieses bereits vorhandene Maß an Zerstörung von gesellschaftlichem Zusammenhalt weiter entwickeln, wie weit weg ist noch der Bürgerkrieg ... Fronten gibt's genug, und Versöhnung ist nicht in Sicht; sie ist wahrscheinlich nicht mal gewollt - laut Thilo Sarrazin. Die neue Mauer wird längst schon Stein um Stein durch die großen Städte gezogen.

    Aber wenn das so ist - welche Rolle soll und kann eigentlich in dieser Auseinandersetzung das Theater noch spielen? Schafft es sich als künstlerischer Reflektionsort ab, wie bei Volker Lösch, dessen Sympathie für die Erniedrigten und Beleidigten aller Ehren wert sein mag, zumindest für den, der wohlsituierte Gutmenschen mit schlechtem Gewissen schätzt; räumt es sich leer zugunsten von Dokumentation und Agitation? Es kann, das zeigt dieser Abend durchaus, Sozialarbeit leisten wie der Staat offenbar längst schon nicht mehr - aber wie positioniert es sich mit dieser Ambition im angesagten Kampf um die Theater-Millionen?

    Der Vorhang zu, die Kinder glücklich - doch alle Fragen offener denn je.