Freitag, 17. Mai 2024

Archiv


Hänseleien wissenschaftlich untersucht

45 Jahre ist es her, dass der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bei Beobachtungen im Tierreich die Abwehr des einen Fressfeindes durch einen anderen Mobbing nannte - heute eine gängige Bezeichnung für Psychoterror am Arbeitsplatz. Längst ist bekannt: Auch Kinder übernehmen das Verhalten und mobben Mitschüler - heute auch per SMS oder Internet. Doch wo fängt Mobbing an- mit welchen Formen und in welchem Alter? Psychologen des Instituts für Medizinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock haben dazu eine eine Studie gestartet.

Von Barbara Leitner | 18.09.2008
    "Wir haben zwei Sachen nach vorn verschoben. Einmal das Altern und zum anderen die Form. Das heißt, kleine Kinder mobben sich vielleicht noch nicht so hart wie die Großen, sondern auf andere, kleinkindgerechtere Formen und deswegen sind wir auf das Hänseln gekommen.

    Es ist meistens auf eine Äußerlichkeit auf ein Verhalten eines Kindes bezogen. Das heißt wenn jemand besonders langsam ist oder besonders dick ist, dann kommt es häufig dazu, dass er einen Spitznahmen kriegt ..."

    Olaf Reis und Sabine Koepsell sind beide Psychologen und arbeiten am Institut für Medizinische Psychologie der Universität Rostock. Unter dem Titel "Hänseleien im Vorschul- und Grundschulalter" befragen sie gegenwärtig kleine Kinder wie in ihrem Alter gemobbt wird. Bereits in den ersten Interviews erzählten diese von Spitznamen, die sie ärgern und traurig machen. Sie werden Bohnenstange oder lahme Ente, Bummelletzter oder Heulsusen gerufen - nicht wirklich etwas Neues. In retrospektiven Studien berichten 98 Prozent aller Erwachsenen, wenigstens einmal in ihrer Kindheit oder Jugend gehänselt worden zu sein. Wie solche Sprüche allerdings aufgenommen werden und wie sie auf die kindliche Psyche wirken, wurde bisher noch nicht erforscht.

    "Wir wollen weiter basteln an dem Modell. Ist Hänselei wirklich eine Vorstufe von Mobbing? Welche Kinder sind es, die selbst beim Hänseln so viel Stress haben, dass sie Selbstwertprobleme bekommen. Sind ja nicht alle. Es ist ja normaler Bestandteil der Alltagskultur, Hänseln und was kennzeichnet die resilienten Kinder versus denen, die es nicht machen. Die eine Hänselei kann für das ein Kind ein Stressor sein, für das andere nicht. Das hat mit Sicherheit etwas mit den primären Sozialisationsbedingungen zu tun, aus denen diese Kinder kommen. Das ist die eine Sache. Das heißt mit welchen individuellen Bedingungen sie da reingehen. Das versuchen wir da abzubilden in der Untersuchung. Und dann ist der Übergang in die Schule vielleicht eine vulnerable Transition, ein Übergang, an dem es wirklich virulent wird. Das ist die nächste Frage."

    Bisher wurden zu dem Thema frühestens Kinder ab der 3. und 4. Klasse befragt. Sich nun den fünf-, sechs, sieben und achtjährigen zuzuwenden braucht es andere Fragetechniken. Die Psychologen zeigen den Mädchen und Jungen Bilder von Situationen, in denen jemand ausgegrenzt oder verlacht wird, fragen, ob Freunde gehänselt werden oder holen Puppen hervor. Oft gehört es in den Familien zum guten Ton, angeblich spaßige Bemerkungen über andere zu machen - in einer Ironie, die Kinder in jungen Jahren gar nicht verstehen können. Doch das Verhaltensmodell wird gelernt und auch in die Kindergruppe übertragen. Dabei besteht die Gefahr, dass aus diesem so genannten Teasing - der Spöttelei - Mobbing wird, gerade wenn es unbeantwortet bleibt. Und oft sind dabei auch Lehrer schlechte Vorbilder.

    In einer vom österreichischen Unterrichtsministerium veröffentlichten Studie aus dem Jahre 1995 gaben 54 Prozent der Männer und 48 Prozent der Frauen an, von ihren Lehrern in der Grundschule beleidigt worden zu sein. Ähnliche Zahlen gibt es bei der Frage nach Spötteleien, Beschimpfungen und ungerechten Behandlungen. In Deutschland dürften die Zahlen ähnlich sein.

    "Ich glaube, es ist ein Dilemma. Wenn Kinder in die Grundschule kommen, kommen sie ja in einen Kontext, der sie langsam an Leistungen gewöhnen sollen und wenn jetzt der Lehrer kein vernünftiges Konzept hat, die Leistungen spielerisch und allmählich aufzubauen, kann er geneigt sein, wenn er kein guter Lehrer ist, Gruppendruck zu konstruieren. Das heißt er will die Klasse nehmen als Druckmittel, in dem er manchmal ... so gezielte Informationen fallen läst, sie sich auf das Kind richten können."

    Das kann ein Nebensatz sein: 'Du schon wieder! Auch das letzte Mal konntest Du das nicht!' Es kann ein Blick sein - oder auch ein Übersehen. All das nehmen die Kinder wahr.

    Von erwachsenen Mobbingopfern weiß man, dass sie lange unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, sie unausgeglichen, depressiv, antriebslos oder aggressiv werden und Beziehungsprobleme haben.
    Wie aber wirken sich Sticheleien auf das sich erst herausbildende Selbstbild eines Kindes aus, das möglicherweise von klein auf mit Urteilen über sich konfrontiert wird? Erkenntnisse aus der Hirn- und Bindungsforschung zeigen, wie dringend die Jüngsten auf die Spiegelungen ihres Gegenübers angewiesen sind - natürlich zuerst von den Eltern, aber auch von Erziehern, Lehrern, anderen Erwachsenen.
    Was passiert, wenn sie von ihnen verzerrte Wertungen hören, keine positiv verstärkenden Beobachtungen?

    Olaf Reis sieht ein Zusammenhang zwischen einer größeren Zahl von psychischen Störungen im Kindes - und Jugendalter und den Hänseleien.

    "Zumindesten gibt es eine Zunahme, was frühe depressive Störungen angeht und das sind genau die Herabsetzungen, über die wir reden. Also in dem Augenblick, wo sie ständig eine Fremdbild- Selbstbilddiskrepanz haben, weil sie sich vielleicht ganz gut finden und ganz hübsch aber alle sagen, dass sie eine hässliche Ente sind und sie bleiben auf der Disco in der Ecke stehen, irgendwann fangen sie dann auch an, das zu glauben. Und Konstanz wird ja in dem Augenblick geschaffen, wenn Teasing zu Mobbing wird. Dann organisiert sich ja das System und gibt eine konstant negative Rückmeldung. Und gerade diese Konstanz ist der größte Stressor."

    Angesichts dessen scheint es angezeigt, Kinder frühzeitig in ihrer Selbstbehauptung zu stärken. Wie das möglich sein kann - darin will die Rostocker Studie eine Wissenslücke schließen.
    Dabei betrachtet Sabine Koepsell nicht nur Lehrer als die Adressaten ihrer Ergebnisse. Auch Eltern, Kinderärzte oder Sozialarbeiter in Beratungsstellen brauchen so etwas wie eine Orientierung, woran sie erkennen können, dass ein Kind zur Zielscheibe von spitzen Bemerkungen wurde - auch wenn es nicht darüber redet.

    "Zum anderen wollen wir ein Programm entwickeln, um Kinder zu stärken. Dazu müssen wir aber erst wissen, wie gehen denn die besonders starken Kinder mit Hänselei um. Wir wollen ja was ganz kindnahes herausbekommen. Und ich würde es auch gut finden, wenn die Lehrer diese kleine Situationen, einfach aufgreifen und die auch mal zum Thema machen, was macht es mit demjenigen, der diesen Spruch erhält und warum hat der andere das gesagt ohne da eine Schuldzuweisung zu machen, sondern einfach es mal zu thematisieren.

    Ich glaube, dass man Kindern auch im direkten Sprechen über Hänseln gute Instrumente an die Hand geben kann, damit umzugehen. Direktheit ist immer eine gute Strategie. Hänselei zu erkennen als das, was es ist und für sich zu decodieren. Und wenn ich es schon als Hänseln verstehe und nicht als Anschuldigung, die wirklich mich meint, dann habe ich schon etwas gekonnt."