Der Bahnhof. Züge, die ankommen und abfahren. Abschied und Wiedersehen. Ein Ort, an dem Gefühle kaum verborgen bleiben. Ein Ort, an dem ich immer wieder Freunde begrüße, wenn sie Perugia, meine Heimatstadt, besuchen. Der Bahnhof – ein Ort, wo etwas anfängt.
"Stazione di Perugia"
Wie viele etruskische Stadtgründungen befindet sich das alte Perugia auf einem Hügel. Ringsherum hat man einen grandiosen Blick auf die grüne Landschaft Umbriens. Der Bahnhof von Perugia liegt außerhalb der Altstadt im Tal. Perugia wirkt hier mit seinen modernen Gebäuden, dem Autoverkehr und Geschäftsleben wie viele andere italienische Städte. Um das Herz der Stadt zu spüren, müssen wir nach oben fahren, ins centro storico. Das meint auch eine gute Freundin von mir – Christa Kernberger. Sie lehrt Deutsch an der Universität von Perugia und Italienisch an einer Sprachschule, die sie leitet. Eines Tages kam sie aus Österreich nach Perugia und ist geblieben.
"Zuerst bin ich nach Perugia gekommen, um Material für meine Diplomarbeit zu suchen und besser Italienisch zu lernen. Und dann habe ich mich sozusagen in Land und Leute verliebt. Und deshalb bin ich geblieben."
Christa Kernberger erzählt mir vom Tag, als Cupido seinen ersten Pfeil abschoss.
"Also ich finde Perugia absolut faszinierend! Ich kann mich erinnern, dass ich völlig überwältigt war von diesem Eindruck, weil ich dachte, ehrlich gesagt, dass etwas passiert wäre. Und zwar: Ich bin angekommen, hab diese wunderbar verwinkelten Gassen gesehen und dann den Corso, den Hauptplatz, auf dem die Leute auf und ab gelaufen sind – es war die Zeit des Abendspaziergangs. Es war eine dermaßen große Menschenansammlung, dass ich echt gedacht hab, es sei etwas passiert! Und dann bin ich drauf gekommen, dass das das normale Sonntagsleben war – nein, das samstägliche abendliche Leben."
Fährt man vom Bahnhof mit dem Bus ins höher gelegene centro storico, schält sich das Panorama der Stadt wie eine Zwiebel heraus. Unser Blick entdeckt verschiedene Schichten von der Gegenwart bis zur Vergangenheit. Je höher wir fahren, desto deutlicher wird die Struktur der Altstadt, deren Kern sich innerhalb der etruskischen und römischen Mauern verbirgt und gleichzeitig offenbart. Noch eine letzte, lange Kurve, dann heißt es: Endstation. Auf der rechten Seite eine atemberaubende Sicht auf das weite Tal des Tibers und den Monte Subasio. Unser Spaziergang beginnt auf der Piazza IV Novembre, wo wir mit Carlo Pagnotta verabredet sind. Er ist der Leiter des Umbria Jazz Festivals. Wir sind aber zu früh angekommen und haben Zeit, die Piazza zu erkunden, den Mittelpunkt des centro storico.
An diesem wunderbaren Tag scheint die Sonne. Die Häuser und Palazzi an der Piazza wirken hell im Kontrast zum strahlenden Blau des Himmels. Der mittelalterliche Palazzo dei Priori wacht seit Jahrhunderten über der Piazza. Hier beginnt auch der Corso Vannucci, die Flaniermeile Perugias. Auf der anderen Seite der Piazza erhebt sich dominierend die Kathedrale San Lorenzo mit ihrer schlichten Fassade und den breiten Treppenstufen aus glänzendem Stein. Wie fast jeden Tag sitzen hier Studenten, Touristen und Einwohner in der Sonne. Auch ich sitze oft hier – eine schöne Gelegenheit, sich auszuruhen! Das meint auch Pamela, eine italienische Studentin, die ich gerade an der Treppe kennengelernt habe.
"Diese Treppe bedeutet für mich wie für alle Studenten einen perfekten Moment der Pause zwischen einer Vorlesung und der nächsten. Oder wie heute bei mir vor einer Prüfung. Die Altstadt von Perugia ist zum Glück klein. Man kennt sich und wir treffen uns an der Treppe."
"Mein Lieblingsort ist die Treppe vor der Kathedrale. Ein perfekter Ort, um sich zu sonnen, ein Bier mit Freunden zu trinken, zu sitzen und den Leuten zu zuschauen, die vorbeigehen. Es ist einfach schön!"
Kate ist eine junge Frau aus den USA. Sie studiert Italienisch an der Universitá per gli Stranieri, der international bekannten Ausländeruniversität. Der Blick auf die Piazza ist etwas Besonderes – meint Pamela.
"Das ist eine Altstadt, ein Zentrum und nicht eine x-beliebige Fußgängerzone, wie man sie überall in Europa findet. Es ist für mich ein Glück, hier sein zu können. Mitten in einem Kunstwerk. Man wird geradezu Teil des Kunstwerkes."
Direkt vor uns – zu Füssen der Kathedrale – befindet sich die Fontana Maggiore. Es lohnt sich, die Schönheit dieses Brunnens aus der Nähe zu bewundern. Auf den ersten Blick sieht man zwei Becken aus Marmor. Dann wird unsere Beobachtung feiner: Wir bemerken Reliefs und Skulpturen, die die Brunnenbecken schmücken. Geschichten aus dem Alten Testament, die Arbeit der Bauern im Wechsel der Jahreszeiten, Handwerker- und Jagdszenen, die sieben freien Künste. Oben die Welt der Engel, Propheten und Heiligen und die zur Göttin erhobene Figur der Stadt Perugia. Eine großartige Arbeit aus dem 13. Jahrhundert, von den Gebrüdern Pisano, die zu den besten Bildhauern der Gotik gehören.
La fontana maggiore gehört zu meinen ältesten Erinnerungen. Ich sehe mich noch als Kind mit meiner Schwester Chiara um sie herumlaufen. Manchmal höre ich undeutlich einige Fetzen Musik, die aus einer vergangenen Zeit herüberwehen. Seit 37 Jahren ist die Piazza IV Novembre eine der Hauptbühnen des Umbria Jazz Festivals. Musikfans aus der ganzen Welt treffen sich hier im heißen Sommer. Immer, wenn ich auf der Piazza bin, erinnere ich mich an die Stimmung des Festivals. Das hat mich wie viele andere perugini geprägt.
"Ich besuchte eine Internatschule in Prato und lernte 1949 den Jazz kennen. Mitte der fünfziger Jahren initiierte ich die Gründung des Jazzclub Perugia. Ich war erst ein Jazzliebhaber und wurde nach und nach zum Jazz-Fachmann. Als Präsident des Jazzclubs reichte ich 1972 der Region Umbrien das Projekt eines Festivals ein. Es wurde angenommen, und von 1973 bis heute – mit knapp vier Jahren Unterbrechung – haben wir einiges erreicht."
Carlo Pagnotta, der Begründer von "Umbria Jazz", dem bedeutendsten Jazzfestival Italiens. Schon in den 70er-Jahren traten Jazzgrößen wie Dizzy Gillespie, Miles Davis, Herbie Hancock oder Chick Corea hier auf. Stars wie Miriam Makeba, Joao Gilberto oder Deedee Bridgewater begeisterten das Publikum. Zehn Tage lang ist die Altstadt die perfekte Bühne für Konzerte und Treffpunkt für Tausende von Musikliebhabern aus Italien, Europa und Übersee.
"Es gibt so viele Anekdoten. Der Trompeter Wynton Marsalis kommt zum ersten Mal nach Perugia. Er schaut aus dem Fenster seines Hotelzimmers auf den Corso Vannucci und hört die Street Parade – eine Band aus New Orleans. Er erkennt den Bandleader, mit dem er früher gespielt hatte, geht sofort hinaus und spielt spontan mit der Band auf dem Corso. So etwas passiert hier. Aber nicht, weil Perugia so außergewöhnlich ist, sondern weil das centro storico zur Bühne wird. Die Musiker erleben die besondere Stimmung des Festivals, freuen sich darüber und bleiben auch noch an Tagen, wo sie kein Konzert haben. Es gibt hier eben eine außergewöhnliche Stimmung."
Umbria Jazz, centro storico, Universität für Ausländer - macht das den Reiz von Perugia aus? Was eine Stadt ist, das erzählt auch die Geschichte. Einer meiner Lieblingsprofessoren an der Uni, Franco Ivan Nucciarelli, zeigt uns drei Denkmäler, die ein Streiflicht auf die Geschichte von Perugia werfen. Wir laufen an historischen Gebäuden entlang rechts hinter den Dom.
"Das älteste Denkmal Perugias wurde im dritten oder vierten Jahrhundert vor Christus gebaut. Der pozzo etrusco, der etruskische Brunnen, ist ein wichtiges Zeugnis des hydraulischen Ingenieurwesens der Etrusker. Er ist noch heute in perfektem Zustand. Die mit Travertinblöcken aufgemauerten Brunneneinfassungen halten schon seit zweieinhalbtausend Jahren. Der pozzo etrusco beweist auch, dass die Etrusker zuerst Wasser finden wollten. Erst danach trafen sie die Entscheidung, hier eine Stadt zu gründen."
Wie Nucciarelli erzählt, waren die Etrusker ein Volk, das den Römern und damit der ganzen westlichen Welt Errungenschaften ihrer Kultur weitergegeben hat. Der pozzo etrusco ist aber nicht nur deswegen faszinierend, sondern weil er über einen so langen Zeitraum, in der Dunkelheit verborgen, unversehrt geblieben ist. Wir gehen wieder ins Helle in Richtung eines alten etruskischen Tors, der Porta Sole, und erreichen die Treppen, die zur Universität für Ausländer führen. Dort hat man einen herrlichen Blick auf die Landschaft.
"In Perugia selbst gibt es, ehrlich gesagt, sehr viele wunderschöne Winkel. Sehr gut gefällt mir die Aussicht oben hinter der Bibliothek Augusta. Da hat man einen Blick auf eine wirklich wunderschöne Hügellandschaft und sieht auch einen der ältesten Teile von Perugia vor sich, die Straße, die hinaufführt zum alten Tempel."
Der Tempel, den Christa Kernberger bewundert, ist die mehrmals umgebaute Chiesa di San Michele Arcangelo. Der heilige Ort geht ursprünglich auf die Etrusker zurück. Auf den Trümmern eines späteren römischen Tempels wurde im fünften Jahrhundert nach Christus eine Kirche errichtet, die bis heute ihren byzantinischen Einfluss bewahrt hat. Prof. Nucciarelli.
"Die alten Säulen des römischen Tempels, der zum Teil zerstört war, wurden dann in die neue Kirche eingebaut. Man kann sie noch erkennen, weil sie sich in Farbe und Dimension von den neueren Säulen unterscheiden. Es handelt sich hier um eine klassisch byzantinische Kirche mit zentralem Grundriss und Doppeldach."
Die Chiesa di San Michele Arcangelo ist also auch ein Denkmal aus der Zeit, als Perugia zum Einflussbereich von Byzanz gehörte. Der Krieg zwischen Byzantinern und Langobarden zog auch Perugia in Mitleidenschaft.
"Ein weiterer interessanter Aspekt ist der Name der Kirche San Michele Arcangelo. Der Erzengel Michael war im kriegerischen Mittelalter ein besonders wichtiger Heiliger. Als Himmelskrieger verehrten ihn sowohl die Byzantiner wie auch ihre Feinde, die Langobarden."
Die Blütezeit von Perugia begann im Spätmittelalter und dauerte bis zur Renaissance. Aus den feudalen Gesellschaftsstrukturen heraus entwickelte sich eine freie Kommune. Eine Zeit der wirtschaftlichen und kulturellen Macht von Kaufleuten und Geldwechslern. Sie zählten zu den mächtigsten Körperschaften des Mittelalters und bildeten den Kern der reichen Kommune. Als Symbol ihrer Macht gelten der Nobile Collegio del Cambio und der Nobile Collegio della Mercanzia, die Zunftsäle der Geldwechsler und Kaufleute. Sie hatten ihren Sitz im Palazzo dei Priori. Dort residierte die höchste politische Autorität des Stadtstaates. Im ersten Stock des Palastes befindet sich heute die Gemeindeverwaltung von Perugia, im dritten Stock die Nationalgalerie von Umbrien. Es ist für mich immer wieder erstaunlich zu spüren, wie einige historische Gebäude sowohl vom alten als auch vom modernen Perugia erzählen. Wie sie vor Jahrhunderten die Identität der Stadt prägten, so leben und atmen sie noch heute zusammen mit den vielen Menschen, die hier jeden Tag vorbeikommen.
"Das Geld förderte offensichtlich auch die künstlerischen Aufträge. In der Zunftstätte der Händler wurde Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhundert eine originelle Raumgestaltung geschaffen. Keine Wandmalereien oder Bilder. Man entschloss sich, den ganzen Saal mit kostbaren, geschnitzten Holzpaneelen zu vertäfeln. Der Holzschmuck verleiht dem Saal einen nordischen Charakter. Man sieht so etwas viel häufiger in Flandern oder in Deutschland, wo das Holz dank seiner isolierenden Eigenschaften für eine wärmere Raumtemperatur gebraucht wurde."
Nur wenige Schritte entfernt befindet sich das Collegio del Cambio. Es birgt einen wunderschönen Schatz.
"Auch die Zunft der Geldwechsler ist im palazzo dei priori untergebracht. Mitte des 15. Jahrhunderts errichtete die Zunft ihren Sitz im Priorenpalast. Mit der Ausschmückung ihres Saals fing man aber erst in den neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts an. Zu dieser Zeit arbeitete in Perugia ein umbrischer Maler aus Cittá della Pieve, der in der Toskana seine Ausbildung erhalten hatte: Pietro Vannucci, der unter dem Namen Il Perugino berühmt wurde. Er brachte nach Perugia die neuesten Entwicklungen der Kunst aus Florenz, aber auch aus Rom, wo er seit einiger Zeit arbeitete."
Im Jahr 1500 ist sein Werk fertig. Die Sala dell' Udienza mit ihren Fresken stellt eine der schönsten Räume der italienischen Renaissance dar. Pietro Vanucci, Il Perugino genannt, schuf hier eine humanistische Bilderwelt. Antike Vorbilder, christliche Botschaften sowie Tugenden des bürgerlichen Lebens sind miteinander verwoben. Der Corso Vanucci wurde zu seinen Ehren nach ihm benannt.
Zufrieden und ein wenig erschöpft setzen wir uns an den Tisch eines Restaurants mit Blick auf die Piazza IV Novembre und den Palazzo dei Priori. Wir bestellen ein leckeres Panzanella. Und der Koch erzählt uns, wie man es vorbereitet.
"Ein Gericht aus Brot, das man mit Wasser weich macht und dann wieder trocknet. Dazu kommen Gemüse und Kräuter aller Art, die man zuhause hat: Möhren, Fenchel, Sellerie, Radieschen, Basilikum und sogar Melone."
Ein einfaches, aber typisch umbrisches Gericht, das schnell fertig ist. Man schneidet das Gemüse und mischt das Ganze mit dem Brot in einer Salatschüssel. Nur noch die Sauce fehlt.
"Und dann richtet man die Panzanella mit unserem Olivenöl aus Umbrien an, mit Weinessig, Salz und auch mit einer Prise gemahlenem Pfeffer."
Die umbrische Küche ist in der Tat einfach. Highlights sind Trüffel mit ihrem speziellen Geschmack, Olivenöl, Wein und Brot, das bei uns ohne Salz ist. Das hat aber kaum etwas mit unserem Geschmack zu tun. Wieder ein Sprung in die Geschichte! Wir sind in der Blütezeit Perugias um 1500 herum. Vierzig Jahre später ist die Blütezeit vorbei. Im Salzkrieg, der wegen der päpstlichen Salzsteuer ausbrach, ließ der kriegerische Papst Paul III. die freie Stadt Perugia erobern. Ein ganzes Viertel überbaute er mit einer Zwingburg: der Rocca Paolina. Die stolze Stadt mit dem Greifenwappen, die die Salzsteuer nicht bezahlen wollte, wurde ein Provinznest des Kirchenstaates. Das Brot schmeckt uns heute noch bitter.
Wir laufen auf dem Corso weiter und erreichen die Rolltreppen zur Rocca Paolina. In der unterirdischen Stadt wartet ein guter Freund von mir.
"Die Rocca Paolina ist heute schön restauriert. Sie hat eine geheimnisvolle, starke Struktur. Was ich aber bei der Rocca Paolina mag, ist nicht das, was ich sehe, sondern das, was mein Geist sieht."
Eligio Fulli, Galerist aus Rom, kam vor 35 Jahren nach Perugia und ist geblieben.
"Die Rocca Paolina fasziniert mich, weil sie das Geheimnis der Menschen aufbewahrt, die hier gelebt haben."
Die Rocca Paolina erscheint wie eine im Berg vergrabene Stadt mit großen leeren Räumen, Gassen und hohen Fassaden unter einem einzigen riesigen Dach. Eine faszinierende Assoziation an eine vergangene Epoche. Ein Fragment.
"Die bedeutendste Dimension ist wie immer diejenige, die unsichtbar ist. Ich liebe am Meisten solche Orte, wo alles versunken ist, es aber ein wichtiges Leben gab."
Der Abend kommt. Unser Spaziergang ist zu Ende. Wir verlassen die Rocca Paolina in Richtung La Cupa , ein altes Viertel von Perugia. Hier laufen die etruskische und die römische Mauer genau aufeinander zu. Eine einzigartige Terrasse gibt den Blick nach Westen frei. Der Himmel färbt sich rot. Die Chiesa di San Benedetto vecchio, die weiße Templerkirche in der Form eines Turmes, schimmert jetzt rosa. Im Westen glänzt der Lago Trasimeno im Abendlicht. Ein stimmungsvoller Abschied von Perugia.
"Stazione di Perugia"
Wie viele etruskische Stadtgründungen befindet sich das alte Perugia auf einem Hügel. Ringsherum hat man einen grandiosen Blick auf die grüne Landschaft Umbriens. Der Bahnhof von Perugia liegt außerhalb der Altstadt im Tal. Perugia wirkt hier mit seinen modernen Gebäuden, dem Autoverkehr und Geschäftsleben wie viele andere italienische Städte. Um das Herz der Stadt zu spüren, müssen wir nach oben fahren, ins centro storico. Das meint auch eine gute Freundin von mir – Christa Kernberger. Sie lehrt Deutsch an der Universität von Perugia und Italienisch an einer Sprachschule, die sie leitet. Eines Tages kam sie aus Österreich nach Perugia und ist geblieben.
"Zuerst bin ich nach Perugia gekommen, um Material für meine Diplomarbeit zu suchen und besser Italienisch zu lernen. Und dann habe ich mich sozusagen in Land und Leute verliebt. Und deshalb bin ich geblieben."
Christa Kernberger erzählt mir vom Tag, als Cupido seinen ersten Pfeil abschoss.
"Also ich finde Perugia absolut faszinierend! Ich kann mich erinnern, dass ich völlig überwältigt war von diesem Eindruck, weil ich dachte, ehrlich gesagt, dass etwas passiert wäre. Und zwar: Ich bin angekommen, hab diese wunderbar verwinkelten Gassen gesehen und dann den Corso, den Hauptplatz, auf dem die Leute auf und ab gelaufen sind – es war die Zeit des Abendspaziergangs. Es war eine dermaßen große Menschenansammlung, dass ich echt gedacht hab, es sei etwas passiert! Und dann bin ich drauf gekommen, dass das das normale Sonntagsleben war – nein, das samstägliche abendliche Leben."
Fährt man vom Bahnhof mit dem Bus ins höher gelegene centro storico, schält sich das Panorama der Stadt wie eine Zwiebel heraus. Unser Blick entdeckt verschiedene Schichten von der Gegenwart bis zur Vergangenheit. Je höher wir fahren, desto deutlicher wird die Struktur der Altstadt, deren Kern sich innerhalb der etruskischen und römischen Mauern verbirgt und gleichzeitig offenbart. Noch eine letzte, lange Kurve, dann heißt es: Endstation. Auf der rechten Seite eine atemberaubende Sicht auf das weite Tal des Tibers und den Monte Subasio. Unser Spaziergang beginnt auf der Piazza IV Novembre, wo wir mit Carlo Pagnotta verabredet sind. Er ist der Leiter des Umbria Jazz Festivals. Wir sind aber zu früh angekommen und haben Zeit, die Piazza zu erkunden, den Mittelpunkt des centro storico.
An diesem wunderbaren Tag scheint die Sonne. Die Häuser und Palazzi an der Piazza wirken hell im Kontrast zum strahlenden Blau des Himmels. Der mittelalterliche Palazzo dei Priori wacht seit Jahrhunderten über der Piazza. Hier beginnt auch der Corso Vannucci, die Flaniermeile Perugias. Auf der anderen Seite der Piazza erhebt sich dominierend die Kathedrale San Lorenzo mit ihrer schlichten Fassade und den breiten Treppenstufen aus glänzendem Stein. Wie fast jeden Tag sitzen hier Studenten, Touristen und Einwohner in der Sonne. Auch ich sitze oft hier – eine schöne Gelegenheit, sich auszuruhen! Das meint auch Pamela, eine italienische Studentin, die ich gerade an der Treppe kennengelernt habe.
"Diese Treppe bedeutet für mich wie für alle Studenten einen perfekten Moment der Pause zwischen einer Vorlesung und der nächsten. Oder wie heute bei mir vor einer Prüfung. Die Altstadt von Perugia ist zum Glück klein. Man kennt sich und wir treffen uns an der Treppe."
"Mein Lieblingsort ist die Treppe vor der Kathedrale. Ein perfekter Ort, um sich zu sonnen, ein Bier mit Freunden zu trinken, zu sitzen und den Leuten zu zuschauen, die vorbeigehen. Es ist einfach schön!"
Kate ist eine junge Frau aus den USA. Sie studiert Italienisch an der Universitá per gli Stranieri, der international bekannten Ausländeruniversität. Der Blick auf die Piazza ist etwas Besonderes – meint Pamela.
"Das ist eine Altstadt, ein Zentrum und nicht eine x-beliebige Fußgängerzone, wie man sie überall in Europa findet. Es ist für mich ein Glück, hier sein zu können. Mitten in einem Kunstwerk. Man wird geradezu Teil des Kunstwerkes."
Direkt vor uns – zu Füssen der Kathedrale – befindet sich die Fontana Maggiore. Es lohnt sich, die Schönheit dieses Brunnens aus der Nähe zu bewundern. Auf den ersten Blick sieht man zwei Becken aus Marmor. Dann wird unsere Beobachtung feiner: Wir bemerken Reliefs und Skulpturen, die die Brunnenbecken schmücken. Geschichten aus dem Alten Testament, die Arbeit der Bauern im Wechsel der Jahreszeiten, Handwerker- und Jagdszenen, die sieben freien Künste. Oben die Welt der Engel, Propheten und Heiligen und die zur Göttin erhobene Figur der Stadt Perugia. Eine großartige Arbeit aus dem 13. Jahrhundert, von den Gebrüdern Pisano, die zu den besten Bildhauern der Gotik gehören.
La fontana maggiore gehört zu meinen ältesten Erinnerungen. Ich sehe mich noch als Kind mit meiner Schwester Chiara um sie herumlaufen. Manchmal höre ich undeutlich einige Fetzen Musik, die aus einer vergangenen Zeit herüberwehen. Seit 37 Jahren ist die Piazza IV Novembre eine der Hauptbühnen des Umbria Jazz Festivals. Musikfans aus der ganzen Welt treffen sich hier im heißen Sommer. Immer, wenn ich auf der Piazza bin, erinnere ich mich an die Stimmung des Festivals. Das hat mich wie viele andere perugini geprägt.
"Ich besuchte eine Internatschule in Prato und lernte 1949 den Jazz kennen. Mitte der fünfziger Jahren initiierte ich die Gründung des Jazzclub Perugia. Ich war erst ein Jazzliebhaber und wurde nach und nach zum Jazz-Fachmann. Als Präsident des Jazzclubs reichte ich 1972 der Region Umbrien das Projekt eines Festivals ein. Es wurde angenommen, und von 1973 bis heute – mit knapp vier Jahren Unterbrechung – haben wir einiges erreicht."
Carlo Pagnotta, der Begründer von "Umbria Jazz", dem bedeutendsten Jazzfestival Italiens. Schon in den 70er-Jahren traten Jazzgrößen wie Dizzy Gillespie, Miles Davis, Herbie Hancock oder Chick Corea hier auf. Stars wie Miriam Makeba, Joao Gilberto oder Deedee Bridgewater begeisterten das Publikum. Zehn Tage lang ist die Altstadt die perfekte Bühne für Konzerte und Treffpunkt für Tausende von Musikliebhabern aus Italien, Europa und Übersee.
"Es gibt so viele Anekdoten. Der Trompeter Wynton Marsalis kommt zum ersten Mal nach Perugia. Er schaut aus dem Fenster seines Hotelzimmers auf den Corso Vannucci und hört die Street Parade – eine Band aus New Orleans. Er erkennt den Bandleader, mit dem er früher gespielt hatte, geht sofort hinaus und spielt spontan mit der Band auf dem Corso. So etwas passiert hier. Aber nicht, weil Perugia so außergewöhnlich ist, sondern weil das centro storico zur Bühne wird. Die Musiker erleben die besondere Stimmung des Festivals, freuen sich darüber und bleiben auch noch an Tagen, wo sie kein Konzert haben. Es gibt hier eben eine außergewöhnliche Stimmung."
Umbria Jazz, centro storico, Universität für Ausländer - macht das den Reiz von Perugia aus? Was eine Stadt ist, das erzählt auch die Geschichte. Einer meiner Lieblingsprofessoren an der Uni, Franco Ivan Nucciarelli, zeigt uns drei Denkmäler, die ein Streiflicht auf die Geschichte von Perugia werfen. Wir laufen an historischen Gebäuden entlang rechts hinter den Dom.
"Das älteste Denkmal Perugias wurde im dritten oder vierten Jahrhundert vor Christus gebaut. Der pozzo etrusco, der etruskische Brunnen, ist ein wichtiges Zeugnis des hydraulischen Ingenieurwesens der Etrusker. Er ist noch heute in perfektem Zustand. Die mit Travertinblöcken aufgemauerten Brunneneinfassungen halten schon seit zweieinhalbtausend Jahren. Der pozzo etrusco beweist auch, dass die Etrusker zuerst Wasser finden wollten. Erst danach trafen sie die Entscheidung, hier eine Stadt zu gründen."
Wie Nucciarelli erzählt, waren die Etrusker ein Volk, das den Römern und damit der ganzen westlichen Welt Errungenschaften ihrer Kultur weitergegeben hat. Der pozzo etrusco ist aber nicht nur deswegen faszinierend, sondern weil er über einen so langen Zeitraum, in der Dunkelheit verborgen, unversehrt geblieben ist. Wir gehen wieder ins Helle in Richtung eines alten etruskischen Tors, der Porta Sole, und erreichen die Treppen, die zur Universität für Ausländer führen. Dort hat man einen herrlichen Blick auf die Landschaft.
"In Perugia selbst gibt es, ehrlich gesagt, sehr viele wunderschöne Winkel. Sehr gut gefällt mir die Aussicht oben hinter der Bibliothek Augusta. Da hat man einen Blick auf eine wirklich wunderschöne Hügellandschaft und sieht auch einen der ältesten Teile von Perugia vor sich, die Straße, die hinaufführt zum alten Tempel."
Der Tempel, den Christa Kernberger bewundert, ist die mehrmals umgebaute Chiesa di San Michele Arcangelo. Der heilige Ort geht ursprünglich auf die Etrusker zurück. Auf den Trümmern eines späteren römischen Tempels wurde im fünften Jahrhundert nach Christus eine Kirche errichtet, die bis heute ihren byzantinischen Einfluss bewahrt hat. Prof. Nucciarelli.
"Die alten Säulen des römischen Tempels, der zum Teil zerstört war, wurden dann in die neue Kirche eingebaut. Man kann sie noch erkennen, weil sie sich in Farbe und Dimension von den neueren Säulen unterscheiden. Es handelt sich hier um eine klassisch byzantinische Kirche mit zentralem Grundriss und Doppeldach."
Die Chiesa di San Michele Arcangelo ist also auch ein Denkmal aus der Zeit, als Perugia zum Einflussbereich von Byzanz gehörte. Der Krieg zwischen Byzantinern und Langobarden zog auch Perugia in Mitleidenschaft.
"Ein weiterer interessanter Aspekt ist der Name der Kirche San Michele Arcangelo. Der Erzengel Michael war im kriegerischen Mittelalter ein besonders wichtiger Heiliger. Als Himmelskrieger verehrten ihn sowohl die Byzantiner wie auch ihre Feinde, die Langobarden."
Die Blütezeit von Perugia begann im Spätmittelalter und dauerte bis zur Renaissance. Aus den feudalen Gesellschaftsstrukturen heraus entwickelte sich eine freie Kommune. Eine Zeit der wirtschaftlichen und kulturellen Macht von Kaufleuten und Geldwechslern. Sie zählten zu den mächtigsten Körperschaften des Mittelalters und bildeten den Kern der reichen Kommune. Als Symbol ihrer Macht gelten der Nobile Collegio del Cambio und der Nobile Collegio della Mercanzia, die Zunftsäle der Geldwechsler und Kaufleute. Sie hatten ihren Sitz im Palazzo dei Priori. Dort residierte die höchste politische Autorität des Stadtstaates. Im ersten Stock des Palastes befindet sich heute die Gemeindeverwaltung von Perugia, im dritten Stock die Nationalgalerie von Umbrien. Es ist für mich immer wieder erstaunlich zu spüren, wie einige historische Gebäude sowohl vom alten als auch vom modernen Perugia erzählen. Wie sie vor Jahrhunderten die Identität der Stadt prägten, so leben und atmen sie noch heute zusammen mit den vielen Menschen, die hier jeden Tag vorbeikommen.
"Das Geld förderte offensichtlich auch die künstlerischen Aufträge. In der Zunftstätte der Händler wurde Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhundert eine originelle Raumgestaltung geschaffen. Keine Wandmalereien oder Bilder. Man entschloss sich, den ganzen Saal mit kostbaren, geschnitzten Holzpaneelen zu vertäfeln. Der Holzschmuck verleiht dem Saal einen nordischen Charakter. Man sieht so etwas viel häufiger in Flandern oder in Deutschland, wo das Holz dank seiner isolierenden Eigenschaften für eine wärmere Raumtemperatur gebraucht wurde."
Nur wenige Schritte entfernt befindet sich das Collegio del Cambio. Es birgt einen wunderschönen Schatz.
"Auch die Zunft der Geldwechsler ist im palazzo dei priori untergebracht. Mitte des 15. Jahrhunderts errichtete die Zunft ihren Sitz im Priorenpalast. Mit der Ausschmückung ihres Saals fing man aber erst in den neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts an. Zu dieser Zeit arbeitete in Perugia ein umbrischer Maler aus Cittá della Pieve, der in der Toskana seine Ausbildung erhalten hatte: Pietro Vannucci, der unter dem Namen Il Perugino berühmt wurde. Er brachte nach Perugia die neuesten Entwicklungen der Kunst aus Florenz, aber auch aus Rom, wo er seit einiger Zeit arbeitete."
Im Jahr 1500 ist sein Werk fertig. Die Sala dell' Udienza mit ihren Fresken stellt eine der schönsten Räume der italienischen Renaissance dar. Pietro Vanucci, Il Perugino genannt, schuf hier eine humanistische Bilderwelt. Antike Vorbilder, christliche Botschaften sowie Tugenden des bürgerlichen Lebens sind miteinander verwoben. Der Corso Vanucci wurde zu seinen Ehren nach ihm benannt.
Zufrieden und ein wenig erschöpft setzen wir uns an den Tisch eines Restaurants mit Blick auf die Piazza IV Novembre und den Palazzo dei Priori. Wir bestellen ein leckeres Panzanella. Und der Koch erzählt uns, wie man es vorbereitet.
"Ein Gericht aus Brot, das man mit Wasser weich macht und dann wieder trocknet. Dazu kommen Gemüse und Kräuter aller Art, die man zuhause hat: Möhren, Fenchel, Sellerie, Radieschen, Basilikum und sogar Melone."
Ein einfaches, aber typisch umbrisches Gericht, das schnell fertig ist. Man schneidet das Gemüse und mischt das Ganze mit dem Brot in einer Salatschüssel. Nur noch die Sauce fehlt.
"Und dann richtet man die Panzanella mit unserem Olivenöl aus Umbrien an, mit Weinessig, Salz und auch mit einer Prise gemahlenem Pfeffer."
Die umbrische Küche ist in der Tat einfach. Highlights sind Trüffel mit ihrem speziellen Geschmack, Olivenöl, Wein und Brot, das bei uns ohne Salz ist. Das hat aber kaum etwas mit unserem Geschmack zu tun. Wieder ein Sprung in die Geschichte! Wir sind in der Blütezeit Perugias um 1500 herum. Vierzig Jahre später ist die Blütezeit vorbei. Im Salzkrieg, der wegen der päpstlichen Salzsteuer ausbrach, ließ der kriegerische Papst Paul III. die freie Stadt Perugia erobern. Ein ganzes Viertel überbaute er mit einer Zwingburg: der Rocca Paolina. Die stolze Stadt mit dem Greifenwappen, die die Salzsteuer nicht bezahlen wollte, wurde ein Provinznest des Kirchenstaates. Das Brot schmeckt uns heute noch bitter.
Wir laufen auf dem Corso weiter und erreichen die Rolltreppen zur Rocca Paolina. In der unterirdischen Stadt wartet ein guter Freund von mir.
"Die Rocca Paolina ist heute schön restauriert. Sie hat eine geheimnisvolle, starke Struktur. Was ich aber bei der Rocca Paolina mag, ist nicht das, was ich sehe, sondern das, was mein Geist sieht."
Eligio Fulli, Galerist aus Rom, kam vor 35 Jahren nach Perugia und ist geblieben.
"Die Rocca Paolina fasziniert mich, weil sie das Geheimnis der Menschen aufbewahrt, die hier gelebt haben."
Die Rocca Paolina erscheint wie eine im Berg vergrabene Stadt mit großen leeren Räumen, Gassen und hohen Fassaden unter einem einzigen riesigen Dach. Eine faszinierende Assoziation an eine vergangene Epoche. Ein Fragment.
"Die bedeutendste Dimension ist wie immer diejenige, die unsichtbar ist. Ich liebe am Meisten solche Orte, wo alles versunken ist, es aber ein wichtiges Leben gab."
Der Abend kommt. Unser Spaziergang ist zu Ende. Wir verlassen die Rocca Paolina in Richtung La Cupa , ein altes Viertel von Perugia. Hier laufen die etruskische und die römische Mauer genau aufeinander zu. Eine einzigartige Terrasse gibt den Blick nach Westen frei. Der Himmel färbt sich rot. Die Chiesa di San Benedetto vecchio, die weiße Templerkirche in der Form eines Turmes, schimmert jetzt rosa. Im Westen glänzt der Lago Trasimeno im Abendlicht. Ein stimmungsvoller Abschied von Perugia.