Katharina Granzin: Herr Günday, was waren Ihre persönlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten im letzten Jahr? Sind Sie dort gewesen?
Hakan Günday: Ja, ich war während der ersten Tage dort. Der Gezi-Park wurde nach ein paar Tagen von den Protestierenden besetzt und wurde eine Art Kommune. Zelte wurden aufgestellt, alle möglichen Arten von Leuten waren dabei, Junge und Ältere, Linke und Rechte, Öko-Aktivisten, Gay-Rights-Aktivisten, alle gemeinsam! Ich war öfter dort, denn ich habe guten Kontakt zu einigen meiner Leser. Ich wusste, dass sie dort waren, und so ging ich hin, um mit ihnen zu sprechen und zu verstehen, was dort eigentlich passierte. Zuallererst haben sie in dieser Gezi-Kommune das Geld abgeschafft.
Granzin: Und wie funktionierte das Leben ohne Geld?
Günday: Mit der Hilfe von Müttern, Vätern und Freunden. Sie sammelten alle möglichen Dinge, machten kleine Supermärkte damit auf und nannten sie "Supermärkte für Menschen". Man konnte einfach hingehen und sich nehmen, was man brauchte. Es ging darum, eine Verbindung zwischen all diesen sehr verschiedenen Menschen herzustellen, die dort waren. Wenn man von Leuten regiert wird, die sich dadurch an der Macht halten, dass sie einen Keil in die Gesellschaft treiben, dadurch, dass sie gezielt polarisieren, so ist die beste Medizin dagegen, sich miteinander zu verbinden.
Granzin: Würden Sie sagen, dass die Gezi-Proteste schließlich auch zu einer Art Ergebnis geführt haben?
Günday: Nun ja, der Park ist gerettet worden. Dass er immer noch da ist, ist ein echtes Symbol. Und das Ergebnis... Wir können sagen, es war so etwas wie eine Alarmglocke, die da geläutet hat, oder ein Wecker. Der hat nun für alle geklingelt, und jeder kann sich entscheiden, ob er wieder einschläft oder doch endgültig aufsteht. Und was wir jetzt schon wissen, ist, dass viele Leute eben nicht wieder eingeschlafen sind. Das direkte Ergebnis davon ist, dass jedes Mal, wenn sich irgendein Eingriff in das öffentliche Leben ankündigt, Menschen direkt auf die Straße gehen und protestieren. Gerade jetzt gibt es eine ganz ähnliche Situation in einem anderen Teil von Istanbul, in Üsküdar auf der asiatischen Seite.
"Schreiben ist für mich die beste Art zu denken"
Granzin: Ich kann zwar nicht türkisch lesen, habe aber gesehen, dass Sie einen Twitter-Account haben?
Günday: Nein, das ist nicht wirklich mein Twitter-Account. Es sind Leser von mir, die den Account betreiben und dort Sätze aus meinen Romanen posten.
Granzin: Aber es ist richtig, dass Sie eine politische Kolumne oder etwas Ähnliches für eine Zeitung schreiben?
Günday: Normalerweise schreibe ich solche Artikel nicht. Ich ziehe es vor, über die Dinge nachzudenken, indem ich Geschichten darüber erzähle. Theater zu machen ist auch eine Art, darüber nachzudenken. Außerdem schreibe ich ziemlich regelmäßig politische Erzählungen für eine Literaturzeitschrift.
Granzin: Was ist das, eine politische Erzählung?
Günday: Für die letzte Nummer habe ich zum Beispiel eine Erzählung über eine Zukunft geschrieben, in der die Türkei die ISIS beziehungsweise den IS als Nachbarn hat – das Land der ISIS. Ich habe darüber geschrieben, was es bedeutet, so ein Nachbarland zu haben.
Granzin: Haben Sie das Gefühl, als Autor politischen Einfluss zu haben? Wer sind Ihre Leser?
Günday: Überwiegend junge Leute. Menschen, die Fragen stellen. Menschen, die sich auch Institutionen in den Weg stellen, die schon vor ihnen existiert haben. Das kann alles sein: Architektur zum Beispiel, oder das, was in der Schule gelehrt wird, oder die Art, wie in der Türkei Demokratie praktiziert wird. – Aber eigentlich schreibe ich zuallererst für mich selbst. Das ist für mich die beste Art zu denken. Wenn man durch das Sprechen denkt, kann man denselben Satz jahrelang wiederholen. Aber man kann nicht ständig dasselbe schreiben. Das ist eine Strafe, wie man sie Kindern gibt: viele Male denselben Satz zu schreiben. In den Worten, die man in sich trägt, muss man aber viel weiter gehen. Um irgendwann, nach zehn Sätzen oder zehn Seiten, an einen Punkt zu kommen, an dem man innehält und sagt: Bin ich es, der das geschrieben hat? Bist du das, Hakan? Es ist der Moment, in dem man mit sich selbst zusammentrifft.
"ich hatte überhaupt keine Ahnung vom Schreiben für die Bühne"
Granzin: Ist es das, was Sie als Erfolgsgefühl beim Schreiben empfinden? Wenn Sie es geschafft haben, sich selbst zu überraschen?
Günday: Ja, auf jeden Fall. Das bedeutet für mich, eine neue Tür geöffnet zu haben, von der ich vorher nicht wusste, dass sie existiert. Ich weiß, dass jeder diese Tür in sich hat. Es ist eine Art, den anderen zu verstehen. Wenn man sich selbst versteht, kann man auch den anderen verstehen. Man wertet nicht. Mit jeder Tür, die man öffnet, fällt ein neues Vorurteil, das man vorher gehabt haben mag, in sich zusammen.
Granzin: Sind es andere Türen, die zu öffnen sind, je nachdem, ob Sie Romane schreiben oder Dramentexte? Wie viel schreiben Sie für das Theater, im Vergleich zu Prosa?
Günday: Überwiegend schreibe ich Romane; acht bisher. Ich hatte die Chance, meinen ersten Roman zu veröffentlichen, als ich 24 war. Dann kam irgendwann der Tag, als ich auf die Theatergruppe Dot hier in Istanbul traf, die tatsächlich auf der Bühne dasselbe machten wie ich auf dem Papier. Als ich sie zum ersten Mal sah, wollte ich sofort für sie arbeiten. Aber ich hatte überhaupt keine Ahnung vom Schreiben für die Bühne.
Granzin: Sind Sie gefragt worden, oder war es umgekehrt?
Günday: Es war so, dass diese Gruppe aus einem meiner Romane einen Film machen wollte. So haben wir uns kennengelernt. Ich habe noch mehrere Sachen für diese Gruppe gemacht, kleinere Dinge meist. Ich habe ein Stück darüber geschrieben, was in der Zukunft passieren kann, über Gezi und die Folgen sozusagen.
"Es geht darum, Fragen zu stellen"
Granzin: Können Sie etwas mehr über dieses Gezi-Stück sagen?
Günday: Es handelt von einem Museum in der Zukunft. Einem Museum der Lügen, in dem alle Bilder auf eine Art und Weise dargestellt sind, die der offiziellen Propagandalinie entspricht. Man ist verpflichtet, dieses Museum mit einem Audioguide zu besuchen. Aber es gibt in diesem Stück auch noch einen Verkäufer! Er handelt mit der Wirklichkeit und verkauft den einzigen Audioguide, in dem die Wahrheit über diese Bilder ausgesprochen wird. (lacht)
Granzin: Sie sagten vorhin, einer Ihrer Romane sei verfilmt worden? Wovon handelt der Roman?
Günday: Vom Schlepperwesen in der Türkei. Er ist aus der Perspektive eines Jungen geschrieben, dessen Vater Schleuser ist. Als er neun ist, beginnt er, mit seinem Vater zusammenzuarbeiten. Die Familie lebt im asiatischen Teil des Landes, nahe der griechischen Grenze. Ihre Aufgabe ist es, Flüchtlinge entgegenzunehmen und sie in einer Art Käfig zu halten, bis irgendwann die Boote kommen und sie nach Griechenland mitnehmen.
Granzin: Können Sie nachts eigentlich schlafen? Sie scheinen sich permanent mit den dunkelsten Seiten der menschlichen Existenz auseinanderzusetzen.
Günday: Die Frage ist, inwieweit man tatsächlich tief schockiert ist von dem, was passiert. Es geht darum, Fragen zu stellen, nicht darum, zu verstehen. Diese Geschichten helfen mir, darüber nachzudenken, in welcher Art von Welt es passiert, dass sechzig Menschen auf ein Boot gepfercht werden, das nur für dreißig Menschen Platz hat, und das dann mitten auf dem Mittelmeer sinkt. Das wird zu einer kleinen Meldung in der Zeitung. Wir lesen das und blättern die Seite um. Wir wissen nicht einmal die Namen dieser Menschen. Das ist es wohl, was ich mit dem Schreiben versuche: Ich versuche, ihre Namen zu finden.
Granzin: Vielen Dank für das Gespräch.
Günday: Ich danke Ihnen.