Indiz dafür ist das Gezerre um die russische Schwarzmeerflotte, die noch immer in Sewastopol stationiert ist. 2017 läuft der Pachtvertrag aus, aber nicht wenige ukrainische Politiker möchten die fremde Militärbasis lieber heute als morgen verschwunden sehen. Die ethnischen Russen fordern indes noch viel mehr: Sie kämpfen um die Loslösung der Krim von der Ukraine und den Anschluss an Russland. Die Duma in Moskau ist dabei Strippenzieher und heizt die Stimmung an. Was beide slawische Nationen - Russen wie Ukrainer - wiederum zusammenschweißt, ist die Angst vor den Krimtataren, die in Zukunft einmal die Mehrheit der Bewohner stellen könnten.
In Sewastópol, gelegen an der Südwestspitze der Krim, ist auch die russische Schwarzmeerflotte stationiert – und damit im Ausland, denn die Krim gehört zur Ukraine. Laut Vertrag soll die Flotte noch für zehn Jahre bleiben, doch darüber herrscht erbitterter Streit. 2017 ist Schluss, heißt es aus dem pro-westlichen Lager in Kiew. Moskau hingegen will den Flottenstützpunkt auf jeden Fall halten. Und hat damit die Alten und Verlierer auf seiner Seite: Jene Sowjetnostalgiker, die mit dem sozialen und wirtschaftlichen Umbruch seit den 90er Jahren nicht zurechtkommen…
Rep 1 Jedem Matrosen seine Kappe: Die Schwarzmeerflotte als Jobmotor in Sewastopol
Die Werkstatt von Alexandr Mozul besteht aus einer kleinen Hütte am Rande eines Parkplatzes. Ein verstaubtes Radio, ein Wasserkocher und mitten drin die uralte Nähmaschine: Kaum zu glauben, dass hier ein Meister seines Faches arbeitet. Alexander Mozul näht Kappen für Marinesoldaten.
"Unter meinen Kunden sind Soldaten aller Schwarzmeer-Flotten, außerdem habe ich für baltische, englische, französische und sogar amerikanische Marineangehörige gearbeitet. Ich bin kein Abgeordneter und deshalb liegt es mir fern, mich selbst zu loben. Aber ich habe auch für viele Kommandeure genäht. Ich erkenne eine Kappe von mir auch aus der Ferne – meinen Stil, meinen Schnitt, mein Modell. "
Seit 1972 betreibt Alexandr Mozul seine Werkstatt hier, unweit des Hafens der russischen Schwarzmeerflotte. Einst arbeitete der heute 60-jährige als Elektroingenieur, aber dann wurde die Flotte Teil seines Lebens. Vor 35 Jahren lernte er eine Frau aus Sewastopol kennen, zog hierher und lernte das Handwerk. Jüdische Auswanderer brachten es ihm bei, bevor sie sich auf die Reise nach Israel machten. Sie überließen ihm auch die Nähmaschine.
Mit flinken Händen stopft Mozul Watte in den Rand einer künftigen Offizierskappe. Sie soll zu einem Kunden nach Petersburg gehen. Ob er für ukrainische, russische oder amerikanische Soldaten näht – das ist dem Handwerker egal. Aber auf den ukrainischen Staat ist er nicht gut zu sprechen. Denn er sieht sich als Opfer von dessen Muskelspielen gegenüber Russland.
"Ich war immer ein sehr ruhiger Mensch und für mich waren alle gleich. Aber wenn ich heute das Wort "Ukrainer" höre oder nur die ukrainische Sprache, dann koche ich schon. Diese Unabhängigkeit hilft nur einer Handvoll Menschen, die sich bereichern wollen. "
Seit 1991, dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ist Mozul selbständig. Das war zunächst kein Problem, die russische Flotte verpachtete ihm einfach das Gelände, auf dem seine Hütte steht. Aber vor einem Jahr verbot die Ukraine den Russen, die ja selbst nur Pächter sind, solche Geschäfte.
Mozuls Vertrag wurde gekündigt, jeden Tag befürchtet er die Zwangs-Räumung durch die Polizei.
"Wo soll ich jetzt hin? Es gibt mir doch keiner ein Stück Erde. Und selbst wenn, dann für eine so horrende Summe, dass sich das nur Banditen leisten können. Aber das Schicksal der einfachen Leute kümmert ja keinen bei uns. Wenn sie mir schon eine lächerliche Rente geben, von der ich nicht überleben kann, bitte ich nur um eins: Lasst mich in Ruhe mein Geld verdienen. 34 Jahre arbeite ich hier an dieser Stelle – ohne Probleme. Lasst mich einfach weiter in Ruhe!"
Alexandr Mozul macht kein Hehl daraus, dass er der Sowjetunion nachtrauert.
"Es war hundertmal, tausendmal besser als in dieser so genannten Demokratie. Vor allem Sicherheit hatten wir. Heute schlafen wir ein und wissen nicht, mit welchen neuen Problemen wir aufwachen. Ein Beispiel: Meine Frau hatte vor kurzem eine Blinddarmentzündung. Die erste Frage der Ärzte im Krankenhaus war: Haben Sie Geld? Umgerechnet 500 Dollar hab ich bezahlt. Und was, wenn ich das Geld nicht gehabt hätte? So etwas hätte es bei den Kommunisten nie gegeben."
Zwei russische Matrosen in Uniform betreten den Laden, beide nicht älter als 20 Jahre. Eine neue Hose würde sich der eine der beiden, ein Blondschopf, gerne kaufen, aber die Preise bei Alexandr Mozul sind ihm zu hoch. Letztendlich erwirbt er einen Aufnäher mit dem Stadtpanorama von Sewastopol für umgerechnet zwei Euro.
Wie Alexandr Mozul sind 60 Prozent der Menschen in dieser Stadt mit den hier stationierten Schwarzmeerflotten verbunden – entweder der ukrainischen oder der russischen. Viele pensionierte Soldaten sind in der Stadt geblieben, viele Frauen arbeiten als ziviles Personal bei den Militäreinrichtungen. Zu ihnen gehört auch die Tochter des Schneiders.
"Jetzt stellen wir uns doch einmal vor, die russische Flotte zieht ab. Wovon sollen die Menschen in Zukunft leben, die für sie gearbeitet haben? Daran denkt in Kiew keiner. Außerdem zahlt Russland der Ukraine viel Geld für die Stationierung der Flotte. Man muss doch ein kompletter Idiot sein, auf Geld zu verzichten, das praktisch wie vom Himmel fällt. Die Flotte abzuziehen, ist nicht schwer. Aber was wird aus den Menschen? Wohin sollen die?"
Alexandr Mozul stören an der neuen Zeit nicht nur Korruption und Unsicherheit. Er hält es insgesamt für einen Fehler, dass die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte. Bei einer Volksabstimmung stimmten damals landesweit 90 Prozent dafür, sich von Russland zu lösen. Auf der Krim lag die Zustimmung nur bei 54 Prozent – denn die meisten der zwei Millionen Einwohner bezeichnen sich als ethnische Russen.
Der Schneider Mozul ist jüdischer Abstammung. Dennoch beklagt er jetzt eine Ukrainisierung, wie er es nennt. Denn wenn er an seinem Radio dreht, dann findet er fast nur noch ukrainisch-sprachige Programme.
"Warum wollen sie mir mit meinen 60 Jahren noch die ukrainische Sprache beibringen? Auch alle offiziellen Dokumente sind auf ukrainisch. Nicht einmal eine Gerichtsverhandlung kann ich mehr verstehen! Wo bleiben da die westeuropäischen Werte? Schauen wir uns doch die Schweiz an: vier Staatssprachen gibt es dort. Aber bei uns nur ukrainisch. Diesen Nationalismus zwingt uns die Westukraine auf. "
Wenn Aleksandr Mozul jünger wäre, würde er das Land sofort verlassen. Eine positive Zukunft in der Ukraine kann er sich nicht vorstellen.
"Wenn meine Enkel groß werden, dann tue ich alles, damit sie nicht hier bleiben müssen. Wer in der Sowjetunion intelligent war, der konnte studieren. Aber heute? Heute müssen sie zahlen, egal wie viele Einser sie im Zeugnis haben. Nein, die Kleinen müssen auswandern. Nach Israel, Deutschland, Amerika oder Australien – ganz egal, nur weg von hier."
Olèch Tschornohúz ist 70 Jahre alt und stammt aus einem Dorf in der Westukraine. Zu Sowjetzeiten war er Verleger für ukrainische Literatur und Redakteur eines humoristischen Journals. Nach der Wende gründete er ein Satiremagazin und begann selbst zu schreiben. Tschornohuz kritisiert immer wieder, mit welchen Minderwertigkeitskomplexen die Ukrainer über ihre eigene Kultur sprechen, gerade den Russen gegenüber. Das schwierige Verhältnis beider Völker ist Thema in seiner Essaysammlung "Der ukrainische Zentaurus":
Die Ethik verpflichtet
Nein, wir Ukrainer sind wirklich die wohlerzogenste und verständigste Nation auf der Welt. Genau so sehen uns wenigstens unsere Brüder in der Religion – und zu einem unbeträchtlichen Teil auch im Blut – die Russen.
Aber urteilt selbst. Diese Tage habe ich einen Freund besucht. Einen Kommilitonen aus der Universität. Er ist – seinem Diplom nach – Jurist. Ich bin Journalist – meiner Berufung nach. Der Jurist also lud mich auf eine Tasse Kaffee nach Lemberger Art ein, gleichzeitig auch seinen Freund, einen Vertreter der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine. Der wurde bei uns geboren und wuchs auch hier auf.
Wir setzten uns an den Tisch. Vor dem Kaffee auf Lemberger Art tranken wir, wie es sich gehört, ein Gläschen. Der Freund war offenbar zu Geld gekommen, denn er hatte einen Hennessy mitgebracht. So kamen wir ins Erzählen. Ich auf ukrainisch, der Freund auf russisch. Ein Russischsprachiger spricht, selbstverständlich, nur russisch.
Wir tranken eine zweite Runde. Die Flasche gab auch noch ein drittes Mal her. Da sehe ich, dass mein Freund Flecken bekommt. Auf der Stirn, auf den Wangen, auf dem Hals. Der Jurist kam bald einem verbrühten Ferkel gleich, das gerade noch am Leben ist.
Die Ukraine war einmal die Kornkammer der Sowjetunion und zugleich ihr wichtigster Stahllieferant. So bemühen beide Seiten, Russen wie Ukrainer, bis heute das Bild vom Brudervolk, wenn sie übereinander reden. Tatsächlich aber ist das eine Farce, spätestens seit der Orangenen Revolution im Winter 2004. Kiew wandte sich vom Kreml ab und hin zum Westen. Lieber heute als morgen würde Präsident Juschtschenko die Ukraine nun in der EU und der Nato sehen. Das lässt vielen in Moskau die Haare zu Berge stehen. Die Krim steckt mitten drin in diesem Konflikt. Die große Mehrheit der ethnischen Russen knabbert bis heute daran, dass Nikita Chruschtschow die Krim einst seiner eigenen Heimatrepublik, der Ukraine zuteilte. Solange die Sowjetunion bestand, ging das gut. Heute aber will ein Gutteil der Krim-Russen die Loslösung von Kiew und den Anschluss an Russland. Strippenzieher in der Duma heizen die Stimmung zusätzlich an. Auch sonst ist Moskaus Arm lang: Sewastópol, die Bastion der Krim-Russen wäre ohne die finanzielle Unterstützung aus Russland kaum lebensfähig.
Die Jungen hält das trotzdem nicht. Abgeschreckt von Armut und Korruption macht sich die Jugend aus allen Teilen der Krim auf den Weg Richtung Westen. Nur einer schwimmt gegen den Strom: Stanislaw Karpenko, ein junger Student vom ukrainischen Festland. Er ist auf die Krim gekommen, damit die Russen gehen:
Rep 2 Kommen, damit die anderen gehen: Ein junger Student aus der Ukraine fordert den Abzug der Russen
Ein lauer Winterabend an der Uferpromenade in Sewastopol: Die Häuser im Stalinbarock mit ihren Säulen und wuchtigen Fassaden werden von unten angestrahlt, Palmen wiegen sich im Wind.
"Ich gehe hier sehr gern spazieren, auch wenn die Promenade betoniert ist. Aber das Meer, der Ausgang aus der Bucht dort hinten – das ist herrlich. Schauen Sie: Das Denkmal für die untergegangenen Schiffe, es erzählt von den Krimkriegen. Und ein paar Kilometer weiter, in Balaklawa, haben wir noch viel ältere Kultur-Denkmäler. Da steht eine Festung der Genueser. Sewastopol ist 223 Jahre alt, Balaklawa schon zweieinhalbtausend. Ich liebe das Meer, und ich mag Geschichte."
Stanislaw Karpenko hat sich Sewastopol als Wohnort ausgesucht: Der 21-jährige stammt aus Nikolajew im Süden der Ukraine und verliebte sich vor drei Jahren auf Anhieb in die Stadt auf der Krim. Er beschloss, hier Jura zu studieren. Sogar seine Freundin überredete er, mit nach Sewastopol zu ziehen. Inzwischen kennt Stanislaw auch die verborgenen Felstreppen zum Ufer hinunter und weiß, wo man abends noch Hotdogs mit hausgemachtem Senf bekommt.
Auf der anderen Seite der langgezogenen Bucht erreicht eine Geburtstags- oder vielleicht auch eine Betriebsfeier ihren Höhepunkt.
"Die Menschen hier sind einfach unbeschwerter als anderswo. Schauen Sie, dieses Motto steht auch auf meinem T-Shirt: Easy life, das leichte Leben. An solch einem Ort zu leben, das ist kein Alltag, das ist ein Vergnügen. Außerdem gefällt mir, dass die Leute in Sewastopol stolz sind auf ihre Stadt."
Die Lieblingskneipe von Stanislaw – das Potato House, nur hundert Meter von der Uferpromenade entfernt – ist rappelvoll. Die Jugendlichen sitzen auf Barhockern an Holztischen und trinken Bier. Nur Stanislaw verzichtet auf Alkohol, weil er ihm schlecht bekommt. Dafür raucht er eine Zigarette nach der anderen.
Zwei Mädchen interessieren sich sofort für Stanislaw. Mit seiner lebensfrohen Art kommt er gut an in Sewastopol – obwohl er anders denkt als die meisten hier. Er fühlt sich als Ukrainer und lehnt den Einfluss Russlands ab. Manchmal führt das auch zu Konflikten – zum Beispiel während der Zeit der orangefarbenen Revolution vor etwas über zwei Jahren. Damals unterstützte er die Revolution und den heutigen Präsidenten Viktor Juschtschenko.
"Meine Freundin und ich gingen in diesem Tagen die Balschaja-Marskaja-Straße entlang. Sie hatte eine orangefarbene Jacke an – und das passte ein paar Jugendlichen nicht. Ich habe ihnen gesagt, dass sie das einen Dreck angeht. So ist es zu einer Schlägerei gekommen – am hellichten Tag. Was für eine Idiotie! Na wenigstens habe ich bei der Rauferei nicht den Kürzeren gezogen."
Die Mutter ruft aus Nikolajew an, sie ist besorgt. Einige Stunden konnte sie Stanislaw nicht erreichen, weil der Akku seines Handys leer war. Jeden Tag telefoniert der Student mit den Eltern. Dabei spricht er russisch, weil er es durch seinen Umgang in Sewastopol so gewohnt ist.
"Ich habe Sehnsucht nach dem Ukrainischen, das ist meine Muttersprache. Manchmal verwende ich es, zum Beispiel, wenn ich mir irgendwo einen Tee bestelle. Die meisten sind einfach überrascht. Aber etwa die Hälfte der Leute reagiert negativ. "Sprich doch normal", sagen sie dann. Wenigstens meine Freunde kann ich überzeugen, dass sie ukrainisch lernen sollten. Schließlich achten sie mich – und deshalb auch meine Sprache."
Die Stadt Sewastopol liegt um und auf einem kleinen Hügel, er erstreckt sich vom Ufer weg steil in die Höhe. Ganz oben thront die weiß-blau-rote Flagge der Russischen Föderation. Denn dort ist das Stabsquartier der russischen Schwarzmeerflotte. Für Stanislaw Karpenko ein unerträglicher Zustand.
"Hier, vor diesem großen Eisentor des Stabsquartiers, fühle ich mich immer ein bisschen unwohl. Ich würde hier lieber ein großes Hotel sehen. Für mich ist das grundsätzlich nicht in Ordnung, dass die Armee eines anderen Staates bei uns stationiert ist. Und Russland ist nun mal ein anderer Staat. Wie sieht es da mit unseren militärischen Geheimnissen aus? Außerdem widerspricht diese Stationierung der ukrainischen Verfassung. "
Stanislaw redet nicht nur, er tut auch etwas: Im vergangenen Sommer schlug er mit Freunden ein Zeltlager direkt vor dem Eingang zum Stabsquartier auf. Kaum hatten die Demonstranten ihre große ukrainische Fahne aufgespannt, da tauschten die Russen ihre Flagge gegen eine noch größere aus.
Außerdem arbeitet Stanislaw ehrenamtlich bei einer Anwältin, die sich für Menschenrechte einsetzt.
Leicht wird er es nicht haben, wenn auch er nach seinem Studium als Anwalt den Kampf mit der ukrainischen Justiz aufnehmen möchte. Denn die ist korrupt, und die Rechte von Angeklagten werden oft mit Füßen getreten. Die Versuchung auszuwandern, ist deshalb auch für ihn groß.
"Viele wandern aus. Zwei Schulfreunde von mir arbeiten jetzt in Amerika, in Chicago. Sie verdienen dort gutes Geld. Aber einer von ihnen hat mir schon gesagt, dass er zurückkommen will. Er kommt mit der amerikanischen Mentalität nicht zurecht. Ich würde höchstens auswandern, um Geld zu verdienen und dann zurückzukehren. Aber eigentlich will ich in der Ukraine bleiben. Dieses Land hat es nicht einfach im Moment. Aber ich bin sicher, dass ich es noch blühend und reich erleben werde."
"Hör zu", sage ich zu ihm, "du hast ja eine Allergie gegen Import-Cognac. Da spürt man doch gleich den Patriotismus in deiner Seele. Ich sehe, du hältst es mit den einheimischen Produzenten... "Hej du", wende ich mich dann an den russischsprachigen Freund, "schenk dem bloß nichts mehr von deinem Importzeug ein. Ich hab hier bei mir, in der Tasche, zufällig noch einen heimischen. Einen 'Desna'. Soweit ich mich erinnere, hat Slawko letztes Jahr von unserm heimischen keine Flecken bekommen.
Der Freund saß da und wurde ganz weiß, wie die Wand einer Bauernhütte.
Slawko (so wurde mein Jurist getauft) springt nach diesen Worten auf. Ballt zuerst die Fäuste. Schlägt die Zähne aufeinander und lässt sie knirschen. Schließlich beginnt er zu schreien: "Das kommt nicht vom Cognac. Das kommt von deiner ukrainischen Ungezogenheit."
"Ich verstehe nicht", antworte ich ruhig, "was ist denn an mir so ungezogen?"
"Ja siehst du denn nicht: Ich habe einen Gast, und der spricht russisch."
"Na soll er doch. Ich werd's ihm nicht verbieten..."
"Ach so, du kannst wohl kein Russisch?"
"Natürlich kann ich", antworte ich, "aber dein Gast ist doch genauso wie ich in Kiew geboren. Er ist mit dir in eine ukrainische Schule gegangen."
"Ja, in Kiew. Wir haben in einer Straße gewohnt. Haben zusammen an der Schuljawka Tauben gejagt..."
"Was willst du dann von mir?", frage ich nach.
"Hast du dich jemals mit den Regeln der Etikette vertraut gemacht?", fragt mich der Jurist.
"Ja, in der Universität gab es so etwas..."
"Dann solltest du wissen, dass die Ethik verpflichtet..."
"Aha, die Ethik...", unterbreche ich ihn unethisch.
"Ja", nicht weniger unethisch schnitt auch er mir das Wort ab, "die Regeln der Ethik verpflichten..."
Slawko schlug unethisch den Teller auf den Tisch und ging hinaus in die Küche. Ich schlug unethisch mit der Gabel auf den Teller und stürzte hinaus auf die Straße. Der Russischsprachige versuchte, mich einzuholen und mir ethisch etwas auf russisch zu erklären... Ich habe seitdem weder von ihm noch von meinem Kommilitonen mehr etwas gehört.
Sie streiten um die Schwarzmeerflotte, um die Sprache, und um den Einfluss aus Moskau. Aber eines schweißt Russen und Ukrainer auf der Krim zusammen: Die gemeinsame Ablehnung der Krimtataren. Josef Stalin hatte sie 1944 aus ihrer Heimat vertrieben, wegen angeblicher, teils auch tatsächlicher Kollaboration mit den Deutschen. Aber seit der Perestroika kehren die Krimtataren zurück. Auf 12 Prozent ist die Minderheit inzwischen angewachsen, und je mehr kommen, desto aggressiver wird die Stimmung. Vor allem geht es um Land, das die Krimtataren zurückfordern. Vor ihrer Vertreibung waren sie an der Südküste zuhause. Eine warme, sonnige Gegend, in der ukrainische Oligarchen jetzt ihr Feriendomizil bauen. Die Forderung der Krimtataren nach Wohneigentum oder zumindest Baugrund erklärt sich aus der Situation der anderen Krimbewohner: Sie bekamen, sofern sie in der Stadt wohnten, die Wohnungen, die sie zu Sowjetzeiten mieteten, nach der Wende einfach geschenkt. Ähnlich bei den Bauern: Die Kolchosen verteilten – bevor sie sich auflösten – ihr Land unter den Mitgliedern. Die Ungleichbehandlung schafft Frustration. Und Gewalt: Schlägereien zwischen tatarischen und russischen Jugendlichen nehmen zu Letztes Jahr dann wurde ein Krimtatare von russischen Touristen erstochen.
Ein Besuch im Süden der Krim, bei zweien, die Wut haben:
Rep 3 Minderheit im eigenen Land: Die Krimtataren und ihr Kampf um Land und Anerkennung
Wenn es regnet, sind die Tage von Remsi Amirow und Arif Abibilker besonders trist. Das Feld um ihre kleines gemauertes Häuschen weicht auf und verwandelt sich in eine Schlammwüste. Dann müssen die beiden den ganzen Tag drinnen bleiben, im einzigen Raum, den ihr Häuschen bisher hat.
Der 25-jährige Arif legt Holz nach, wenigstens warm haben es die beiden Krimtataren hier.
"Dieser Ofen ist für uns Heizung und Herd in einem. Zustände wie vor dem Krieg sind das, ich weiß. Aber mehr als diesen einen Raum haben wir bisher nicht bauen können. Es sind ja nicht alle mit Geldkoffern auf die Krim zurückgekommen. Bauen ist teuer. Alle hier in der Siedlung bauen mit eigenen Händen und kaufen sich immer dann, wenn sie ein bisschen Geld haben, ein paar neue Steine."
Remsi und Arif sind Freunde. Sie bauen das Häuschen für ihre beiden Familien – allerdings ohne Genehmigung. Sie wollen dieses Land einfach in Besitz nehmen, an der Ausfallstraße 15 Kilometer südlich von Simferopol. Damit sind die beiden nicht alleine: Eine ganze Siedlung entsteht hier direkt neben dem Dörfchen Dobroje. "Samasachwat" nennen das die anderen Krimbewohner: die illegale Inbesitznahme von Land. Bei den Krimtataren allerdings heißt ihre Aktion "Samawozwrat" – womit gemeint ist: Sie holen sich das Land ihrer Väter zurück.
Remsi, 48 Jahre alt und Familienvater:
"Hier an der Straße will die Verwaltung uns keine Grundstücke geben. Sie wollen sie lieber an Firmen verkaufen und uns Land irgendwo in den Bergen zuweisen. Dort gibt es keine Wege, keinen Strom, kein Wasser. Bis die Kinder von dort in die Schule kommen, sind sie durchnässt, wenn es regnet. Deshalb nehmen wir uns dieses Gelände einfach. Wenn wir schon die Häuser, die sie unseren Vorfahren weggenommen haben, nicht zurückbekommen…"
Ein paar Nachbarn sind zum Teetrinken gekommen. Dazu gibt es belegte Brote mit Salami. Die meisten setzen sich auf das große Bett, das zwei Drittel des Raumes einnimmt.
Remsi und Arif gelten hier als alte Hasen. Ihre Familien sind schon vor über 15 Jahren zurück auf die Krim gekommen. In Usbekistan hielten sie es nicht mehr aus, nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war. Politiker und Gesellschaft verhielten sich zunehmend nationalistisch. Für Krimtataren wurde es schwer, eine gute Arbeit oder einen Studienplatz zu bekommen. Außerdem haben die Familien das Andenken an die alte Heimat am Schwarzen Meer wach gehalten, erzählt Remsi.
"Da haben wir nicht mehr lange überlegt und unsere Häuser in Usbekistan verkauft. Aber de facto haben wir sie verschenkt. Denn das Geld, das wir für sie bekommen haben, ist kurze Zeit später völlig entwertet worden. Mit nichts sind wir hier angekommen. Ja, wer Geld hat und die Beamten schmieren kann, der bekommt ein Grundstück zugewiesen. Aber das sind nur wenige. Den anderen bleibt nur der Protest."
Während die Familie von Arif bei Verwandten untergekommen ist, muss Remsi eine Wohnung in Simferopol mieten. Um Geld zu sparen, lebt seine vierköpfige Familie in einem einzigen Zimmer.
Arif macht einen Kontrollgang auf dem Gelände. Jeden Tag ist einer der Bewohner verantwortlich dafür aufzupassen. Schließlich haben die Krimtataren Feinde: allen voran die so genannten Kosaken-Vereine. Unter dem Deckmantel der Brauchtumspflege versammeln sich dort ukrainische und russische Nationalisten. Als die Krimtataren vor zwei Jahren Land an der Südküste besetzten, griffen diese Kosaken sie sogar an und rissen die dort errichteten Holzhäuser nieder.
Noch immer seien Vorurteile gegen Krimtataren weit verbreitet, sagt Arif.
"Nach dem Krieg haben die Sowjets den Menschen eingeredet, wir seien Handlanger der deutschen Besatzer gewesen. Das glauben manche heute noch. Dazu sind neue Stereotype gekommen. So wird uns nachgesagt, dass wir tschetschenischen Terroristen helfen. Ein Beispiel für die Diskriminierung im Alltag: Wenn ein krimtatarischer Busfahrer unseren Radiosender einstellt, dann beschweren sich die Fahrgäste meistens. Das geht dann nicht ohne Beleidigungen und Beschimpfungen ab."
Die Gesellschaft im Häuschen hat inzwischen den uralten Fernseher eingeschaltet, der ein grünstichiges Bild zeigt. Zum Aufwärmen gibt es für jeden ein Gläschen Wodka – mit den Gesetzen des Islam halten es viele Krimtataren nicht so genau. Dass sie trotzdem unter vielen Slawen Angst auslösen, liegt auch an ihren politischen Forderungen.
Remsi ist da ganz offen:
"Die Krim wird nur dann aufblühen, wenn wir hier die Oberhand gewinnen. Wenn wir regieren. Das hat man schon in Usbekistan gesehen: Da haben wir allein für Zivilisation gesorgt. Wir haben die besten Häuser gebaut und die Straßen asphaltiert. So auch hier: Wenn sie uns die Krim geben, dann werden wir aus ihr einen kleinen blühenden Staat machen."
In der Sprache des Medschlis, der inoffiziellen Regierung der Krimtataren, klingt das freilich etwas anders. Von einer "kulturellen Autonomie" ist da die Rede, vom Schutz der krimtatarischen Sprache und von der Wiedereinführung der alten Ortsbezeichnungen.
Bald könnte sich der Konflikt zwischen Krimtataren und Regierung zuspitzen. Das Parlament in Kiew hat ein Gesetz verabschiedet, das die illegale Inbesitznahme von Land ausdrücklich unter Strafe stellt.
Davon hat auch Remsi gehört.
"Bis zu sechs Jahre wollen sie uns einsperren. Aber das ist mir egal. Sollen sie nur diese Spezialeinheiten der Polizei vorbeischicken und von mir aus die Armee. Noch einmal lassen wir uns nicht vertreiben."
Die Konferenz von Yalta wurde 1945 mit einem Glas Krimsekt besiegelt. Roosevelt, so heißt es, war von dem Tropfen so hingerissen, dass er seinerzeit ankündigte, nach seiner Pensionierung eine zweite Karriere als Handelsreisender für Krimsekt zu beginnen. Der Amerikaner war nicht der erste, der ins Schwärmen kam. Sekt wird auf der Krim schon seit dem 18. Jahrhundert hergestellt. Der internationale Durchbruch kam 1900 bei der Weltausstellung in Paris. In den 60er Jahren entdeckten die vom Wirtschaftswunder verwöhnten Deutschen den edlen Tropfen. Der Export lief auf Hochtouren. In der ehemaligen Sowjetunion gehört Krimsekt bis heute zu jeder Feier dazu – soweit Frauen anwesend sind – andernfalls reicht Wodka. Dennoch ging es bergab in den 90ern: Mit dem politischen Um- kam der wirtschaftliche Einbruch. Heute sind die meisten ehemals staatlichen Sektkellereien und Weingüter auf der Krim verkauft und abgewickelt. Mit den üblichen Folgen: Die Privatisierungswelle hat manche Existenz gekostet. Die Produktionszahlen sanken, Mitarbeiter wurden entlassen. In vielen Sektkellereien sind die Eigentumsverhältnisse bis heute unklar, ukrainische Oligarchen haben ihre Finger im Spiel.
Eine Betrieb in Sewastópol will es nun besser machen: Mit mehr Transparenz, und mit Geld aus Deutschland:
Rep 4 Privatisieren und entlassen: Die Sektbranche auf der Krim
Rem Aktschurin ist erst 24 Jahre alt. Aber in der Sektkellerei von Sewastopol bewegt er sich schon wie der Juniorchef, obwohl er das offiziell noch gar nicht ist. Elegant, im Jackett, fragt er die Angestellten nach dem Stand der Produktion und berichtet über seine Pläne mit der Firma. Die Abfüllanlage, erklärt er, stammt aus Deutschland.
"Eigentlich kann diese Maschine auch die Folie, die über die Korken kommt, auf die Flaschen drücken. Aber wir haben keinen Spezialisten, der die Größe für unsere Flaschen entsprechend einstellen kann. Es kommt uns billiger, jemanden für diese Arbeit einzustellen, als einen Experten aus Deutschland kommen zu lassen, der unsere Mitarbeiter schult. Ich werde mich aber trotzdem dafür einsetzen, dass einer kommt. Wozu haben wir denn die Maschine? Insgesamt arbeiten in diesem Raum drei Leute, die man einsparen könnte. "
Rem zeigt die mit Grünschimmel überzogenen Fässer, in denen der Sekt vor der Abfüllung lagert. Die Sewastopoler Sektfabrik befindet sich in einem Stollen, der von der Seite in einen Berg getrieben wurde und bis zu 50 Meter unter der Erde liegt. Das Klima hier ist ideal mit seiner immer gleich bleibenden Temperatur bei rund 15 Grad plus. Und selbst der Grünschimmel im Gewölbe soll nützlich sein für die Gärung.
Rem ist stolz auf die Fabrik, obwohl das Unternehmen bisher noch staatlich und er eigentlich nur der Sohn des Direktors ist. Aber schon jetzt steht für ihn fest, dass er bald die rechte Hand seines Vaters werden wird. Immerhin investiert die Familie in Rem: Er studiert Weinbau an einer renommierten Fachhochschule in Geisenheim im Rheingau.
Im Stollen steht eine neue Maschine, die offenbar nicht benutzt wird. Rem ist empört. Er meint, dass sich die Mitarbeiter bei ihren 150 bis 200 Euro Gehalt im Monat nicht genug anstrengen.
Sascha, ein leitender Angestellter, widerspricht. Das neue Gerät für den Wärmeaustausch könne erst dann angeschlossen werden, wenn die Produktion für kurze Zeit still gelegt werde. Und dafür seien im Moment einfach zu viele Aufträge zu bewältigen.
Sechs Millionen Flaschen lieferte die Sektkellerei im vergangenen Jahr aus, in diesem Jahr soll es eine Million mehr werden. Der Firma geht es gut, denn 30 Prozent ihrer Produktion gehen in den Export, auch nach Deutschland. Bekannt ist die Sewastopoler Kellerei vor allem für ihren roten Sekt.
Das Herzstück der Sektherstellung, die Gärung, findet in Sewastopol in keramikverkleideten Tanks mit 10.000 oder mehr Litern statt. Denn der hohe Druck dort verringert die Gärungszeit auf einen Monat.
"In Deutschland habe ich die Gärung in Flaschen kennen gelernt. Diese alte Tradition will ich zurück nach Sewastopol bringen, wenn ich mein Studium beendet habe. Denn früher ist sie auch hier praktiziert worden. Natürlich wird daraus keine Massenproduktion, eher kleinere Mengen für unseren eigenen Gebrauch."
Im Verkaufsgebäude, einige hundert Meter vom Stollen entfernt, präsentiert Rem in einer Glasvitrine die Auszeichnungen, die der Sekt aus Sewastopol schon bekommen hat. In diesem Raum werden nur die besten Kunden bedient und in Sachen Sekt und Wein umfassend beraten. So vertreibt die Kellerei auch Weinschränke aus französischer Produktion, garantiert vibrationsfrei und richtig temperiert – Kostenpunkt 3.000 Euro aufwärts.
Schon mit 15 Jahren habe er sich zum Weinkenner entwickelt, erzählt Rem.
"Da habe ich zum ersten Mal gemeinsam mit meinem Opa getrunken. Die Familie saß am Tisch und mein Opa erhob sich zum Toast. Danach habe auch ich das Weinglas in die Hand genommen. Aber er hat mich zurechtgewiesen: Ich solle es am Stiel halten, nicht am Kelch. Einmal, damit die Hand den Wein nicht wärmt, und dann, damit es beim Anstoßen schöner klingt."
Aleksej Aktschurin, Rems Vater, hat nie woanders gearbeitet als in der Sewastopoler Sektkellerei. Zuerst als einfacher Arbeiter, später als Chefingenieur und seit über acht Jahren als Direktor. Der 49-jährige kann keine fünf Minuten erzählen, ohne dass sein Handy klingelt. Seinen Erfolg erklärt Aleksej Aktschurin vor allem mit seiner Liebe zum Produkt.
"Im Krimsekt spürt man die Sonne des Südens und den Wind, der vom Meer her weht. Das sind weiche Faktoren, die den Sekt lieblicher von mir aus auch süßer machen als zum Beispiel Champagner. Wir versuchen nicht, mit französischem Schaumwein zu konkurrieren, das wäre Unsinn. Der Charakter unserer Region muss im Sekt zum Ausdruck kommen, nur so können wir auch für ausländische Kunden interessant sein."
Aleksej Aktschurin hat große Pläne für die Sewastopoler Kellerei. Bisher wird der ganze Traubensaft eingekauft, aber zurzeit beginnt das Unternehmen mit einem eigenen Weinbau. So kann es genau die Trauen anbauen, die es für seinen Sekt braucht.
Außerdem soll die Kellerei bald privatisiert werden. Ein Investor aus Deutschland ist bereits gefunden, und auch Aleksej selbst will in das Unternehmen investieren. Die Mittel dafür hat er durch eigene, lizenzierte Patente für die Sektkellerei verdient.
"Dieses Geld habe ich nicht für eine Yacht oder für teure Autos ausgegeben, obwohl ich schon Lust dazu gehabt hätte. Ich habe lieber gespart und werde nun in mein eigenes Business investieren. Die Investoren werden uns auch dabei helfen, Kredite zu bekommen. Schließlich gibt es im Ausland da ganz andere Konditionen als in der Ukraine."
Gestern wurde ich ins Fernsehen eingeladen. "Eine Livesendung", haben sie mich gewarnt, "eine Liveschaltung mit den Zuschauern" und dass ich mich da ja ethisch benehmen solle. Ich trat auf, und auf mich fielen, wie durch ein Sieb geschüttelt, die Fragen der Zuschauer. Gesiebt wurden sie durch den Telefonempfang und kamen auf ukrainisch und auf russisch. Ich antwortete auf ukrainisch, schließlich befand ich mich in einem ukrainischen Fernsehsender. Die russischsprachigen Zuschauer ertrugen mich. Nicht einmal der Telefonempfang hatte etwas auszusetzen.
Aber dann plötzlich die Moderatorin, ukrainischsprachig und offenbar äußert wohlerzogen. "Entschuldigen Sie", begann sie sehr zivilisiert, "ich höre Ihnen sehr aufmerksam zu, und Sie antworten allen der Reihe nach stur auf ukrainisch. Im Handbuch für die Regeln der Ethik..."
Ich unterbrach sie unethisch und verließ das TV-Studio. Nun sitze ich da und überlege hin und her. Überlege und überlege und bin, so nehme ich an, zum richtigen Schluss gekommen: Wir Ukrainer sind eine wohlerzogene Nation. Wenn das so weiter geht mit der Ethik, dann werden wir alle bis auf den letzten polyglott.
Letzte Woche traf ich mich mit Michael (sprich: Maikl) von der amerikanischen Botschaft. Ich versuchte es auf englisch. Er unterbrach mich unethisch und sagte in unserer Sprache: "Quäl dich nicht. Ich gehe ja schon zum Ukrainischen über."
Ein ungezogener Typ ist das. Offenbar werden die Regeln der Ethik in den USA nicht gelehrt.
Putjówka heißt der Urlaubsschein, mit dem Partei und Gewerkschaften in der Sowjetunion allen Arbeitern winkten, die sich besonders hervorgetan hatten. Die Belohnung: Zwei Wochen Sonne im Ferienhaus auf der Krim. Die ganze Halbinsel war einmal eine Vorzeigeregion der Sowjets. Übrig geblieben ist davon heute die Trolleybuslinie von Simferópol nach Jalta – mit 86 Kilometern Länge und 2,5 Stunden Fahrzeit die längste der Welt. Und ein Beleg für Lenins alte Maxime: "Kommunismus ist gleich Rätemacht plus Elektrifizierung". Was fortschrittlich klingt, ist andernorts einfach nur hässlich: Die wunderschöne Bucht von Jalta wurde seit Kriegsende systematisch zubetoniert: Plattenbauten ringsum. Heute lockt das kaum einen Touristen mehr an, die Zahlen sind seit Jahren rückläufig. Ausgerechnet der Einzug des Kapitalismus hat dem Tourismusgeschäft nur Nachteile gebracht. Wohlhabende Russen fahren inzwischen lieber nach Ägypten oder in die Türkei. Die Krim hinkt mit überteuerten Preisen hinterher.
Am meisten ist der Umbruch der neuen Zeit in Yalta zu spüren. Schlange stehen die Touristen dort nur noch vor den Fastfoodrestaurants:
Rep 5 Perle mit Plattenbau: Jalta fehlen die Touristen
Die tiefstehende Sonne wirft ein warmes, rotes Licht auf den Betonstrand von Jalta. Einsam ist es hier, zwischen dem unruhigen Meer und dem beeindruckenden Bergpanorama landeinwärts. Ein Mann bemüht sich, Touristen für eine Spritztour auf seinem Motorboot zu gewinnen. Die Dame hinter dem Kartenschalter preist den nächsten Ausflugsdampfer an. Wahrscheinlich bleibt er wieder – wie schon am Morgen – im Hafen liegen, weil sich zu wenige Touristen angemeldet haben.
Für Jekaterina Njepomneschtschich, die Fremdenführerin, fällt damit ein kleines Zubrot weg. Aber das sei nicht das schlimmste, meint sie.
"Wir haben weniger Touristen auf der Krim. Dass Ferienhäuser im Winter zu machen, das gab es früher überhaupt nicht. Jetzt haben gerade mal drei von insgesamt 30 geöffnet. Außerdem haben sich die Touristen geändert. Sie interessieren sich nicht mehr so für Kultur. Für die Führungen hatten wir früher zwei Millionen Buchungen pro Jahr – von verschiedenen Büros. Heute ist es nur noch eine halbe Million. Die Touristen geben ihr Geld lieber in Restaurants oder anderen Vergnügungseinrichtungen aus. Das macht mich natürlich traurig. "
Jekaterina ist nicht irgendeine Fremdenführerin. Im vergangenen Jahr wurde eine ihrer Führungen von einer Regierungs-Kommission als beste in der Ukraine ausgezeichnet. In ihrem Büro betreibt sie wissenschaftliche Forschungen. So hat die 59-jährige auch ein Buch geschrieben – über die Felsenstädte der Krim.
"Ich habe die Krim nicht nur lieben gelernt, sondern sie studiert und bereist – von einem Ende zum anderen. Um den Besuchern etwas Interessantes zu erzählen, muss man selber erst einmal viel gesehen haben. Und man muss die Landschaft, die Geschichte auch mit dem Herzen aufnehmen. Eine feste Arbeitszeit gibt es deshalb für mich nicht. Ich führe ja nicht nur Exkursionen, sondern erarbeite sie auch für Kolleginnen – vom Inhalt und von der Methodik her."
Seit 1973 lebt Jekaterina in Jalta. Gleich nach ihrem Universitätsabschluss in Moskau zog sie hierher – der Natur und der Geschichte wegen und weil sie hier ihren Beruf ausüben wollte. Das Touristenbüro in Jalta erkannte ihr Talent und stellte sie sofort ein.
"Hier zu arbeiten, ist wunderbar. Es sind ja so viele Zaren-Paläste und Paläste von Fürsten erhalten. Außerdem ist die Landschaft an sich beeindruckend. Wir haben einen Berg, der wirklich aussieht wie ein Bär. Und einen anderen, der an eine Katze erinnert und von der anderen Seite einem Kamel ähnelt. Dann nicht weit von Jalta unser Grand Canyon, der ist kleiner als der am Colorado. versteht sich, aber nicht weniger malerisch. Auf der Krim findet man die Landschaften aller fünf Kontinente, sogar eine Art Mondlandschaft."
Jekaterina kennt den Gegenstand ihrer Exkursionen so genau, dass sie die Touristen beinahe blind führen kann. Das brachte sie einmal auch in eine peinliche Situation.
"Das war am Lewadja-Palast, wo 1945 die Jalta-Konferenz stattfand. Eine Ecke des Palastes ist mit einer Chimären-Figur geschmückt – genauso wie die Notre-Dame-Kirche in Paris. Ich näherte mich der Figur mit dem Rücken. Aber als ich sie zu beschreiben begann, da sahen mich die Touristen ganz komisch an. Kein Wunder: Am Tag davor hatte sich jemand auf die Figur gesetzt und sie zerstört. Jetzt steht dort nur noch eine Kopie. "
Die Krim liebt Jekaterina noch wie früher. Aber ihren Beruf kann sie nicht mehr so unbeschwert ausüben. Denn inzwischen herrscht Marktwirtschaft in der Ukraine, das Touristenbüro gehört den ehemaligen Angestellten und muss Gewinn abwerfen. Die Fremdenführerin spricht über Steuern und Mittelstandsförderung wie eine Unternehmerin. Umgerechnet 120 Euro Gehalt im Monat zahlen sich die Frauen aus. Nicht viel, aber wenigstens kann Jekaterina kostenlos in einem Wohnhaus leben, das das Touristenbüro einst kaufte. Eigentlich sollte daraus mal ein Hotel werden, bis die Wende diese Pläne durchkreuzte. Denn das Geld auf der Bank, das dafür vorgesehen war, war von einem Tag auf den anderen nichts mehr wert.
Vom einst mondänen Jalta ist am Strand, wenigstens auf den ersten Blick, nur noch wenig übrig. Mit dem Kapitalismus kam der Kommerz. Lärmende Kinder-Karusselle auf der einen, Fastfood-Ketten auf der anderen Seite der Promenade. Aber Jekaterina schaut über sowas hinweg. Für sie bleibt jenes alte Bild der Stadt lebendig, wie sie zur Zarenzeit ausgesehen haben muss.
"Die Bucht wurde ja schon immer mit der von Nizza verglichen – und Ende des 19. Jahrhunderts galt Jalta sogar als schöner als die französische Stadt. Die Gebäude an der Uferpromenade sind erhalten, aber schauen sie dort drüben, auf dem Hügel. Diese Hochhäuser stammen alle aus den 60er und 70er Jahren. Seitdem hat Jalta seinen Zauber leider ein bisschen verloren."
In Sewastópol, gelegen an der Südwestspitze der Krim, ist auch die russische Schwarzmeerflotte stationiert – und damit im Ausland, denn die Krim gehört zur Ukraine. Laut Vertrag soll die Flotte noch für zehn Jahre bleiben, doch darüber herrscht erbitterter Streit. 2017 ist Schluss, heißt es aus dem pro-westlichen Lager in Kiew. Moskau hingegen will den Flottenstützpunkt auf jeden Fall halten. Und hat damit die Alten und Verlierer auf seiner Seite: Jene Sowjetnostalgiker, die mit dem sozialen und wirtschaftlichen Umbruch seit den 90er Jahren nicht zurechtkommen…
Rep 1 Jedem Matrosen seine Kappe: Die Schwarzmeerflotte als Jobmotor in Sewastopol
Die Werkstatt von Alexandr Mozul besteht aus einer kleinen Hütte am Rande eines Parkplatzes. Ein verstaubtes Radio, ein Wasserkocher und mitten drin die uralte Nähmaschine: Kaum zu glauben, dass hier ein Meister seines Faches arbeitet. Alexander Mozul näht Kappen für Marinesoldaten.
"Unter meinen Kunden sind Soldaten aller Schwarzmeer-Flotten, außerdem habe ich für baltische, englische, französische und sogar amerikanische Marineangehörige gearbeitet. Ich bin kein Abgeordneter und deshalb liegt es mir fern, mich selbst zu loben. Aber ich habe auch für viele Kommandeure genäht. Ich erkenne eine Kappe von mir auch aus der Ferne – meinen Stil, meinen Schnitt, mein Modell. "
Seit 1972 betreibt Alexandr Mozul seine Werkstatt hier, unweit des Hafens der russischen Schwarzmeerflotte. Einst arbeitete der heute 60-jährige als Elektroingenieur, aber dann wurde die Flotte Teil seines Lebens. Vor 35 Jahren lernte er eine Frau aus Sewastopol kennen, zog hierher und lernte das Handwerk. Jüdische Auswanderer brachten es ihm bei, bevor sie sich auf die Reise nach Israel machten. Sie überließen ihm auch die Nähmaschine.
Mit flinken Händen stopft Mozul Watte in den Rand einer künftigen Offizierskappe. Sie soll zu einem Kunden nach Petersburg gehen. Ob er für ukrainische, russische oder amerikanische Soldaten näht – das ist dem Handwerker egal. Aber auf den ukrainischen Staat ist er nicht gut zu sprechen. Denn er sieht sich als Opfer von dessen Muskelspielen gegenüber Russland.
"Ich war immer ein sehr ruhiger Mensch und für mich waren alle gleich. Aber wenn ich heute das Wort "Ukrainer" höre oder nur die ukrainische Sprache, dann koche ich schon. Diese Unabhängigkeit hilft nur einer Handvoll Menschen, die sich bereichern wollen. "
Seit 1991, dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ist Mozul selbständig. Das war zunächst kein Problem, die russische Flotte verpachtete ihm einfach das Gelände, auf dem seine Hütte steht. Aber vor einem Jahr verbot die Ukraine den Russen, die ja selbst nur Pächter sind, solche Geschäfte.
Mozuls Vertrag wurde gekündigt, jeden Tag befürchtet er die Zwangs-Räumung durch die Polizei.
"Wo soll ich jetzt hin? Es gibt mir doch keiner ein Stück Erde. Und selbst wenn, dann für eine so horrende Summe, dass sich das nur Banditen leisten können. Aber das Schicksal der einfachen Leute kümmert ja keinen bei uns. Wenn sie mir schon eine lächerliche Rente geben, von der ich nicht überleben kann, bitte ich nur um eins: Lasst mich in Ruhe mein Geld verdienen. 34 Jahre arbeite ich hier an dieser Stelle – ohne Probleme. Lasst mich einfach weiter in Ruhe!"
Alexandr Mozul macht kein Hehl daraus, dass er der Sowjetunion nachtrauert.
"Es war hundertmal, tausendmal besser als in dieser so genannten Demokratie. Vor allem Sicherheit hatten wir. Heute schlafen wir ein und wissen nicht, mit welchen neuen Problemen wir aufwachen. Ein Beispiel: Meine Frau hatte vor kurzem eine Blinddarmentzündung. Die erste Frage der Ärzte im Krankenhaus war: Haben Sie Geld? Umgerechnet 500 Dollar hab ich bezahlt. Und was, wenn ich das Geld nicht gehabt hätte? So etwas hätte es bei den Kommunisten nie gegeben."
Zwei russische Matrosen in Uniform betreten den Laden, beide nicht älter als 20 Jahre. Eine neue Hose würde sich der eine der beiden, ein Blondschopf, gerne kaufen, aber die Preise bei Alexandr Mozul sind ihm zu hoch. Letztendlich erwirbt er einen Aufnäher mit dem Stadtpanorama von Sewastopol für umgerechnet zwei Euro.
Wie Alexandr Mozul sind 60 Prozent der Menschen in dieser Stadt mit den hier stationierten Schwarzmeerflotten verbunden – entweder der ukrainischen oder der russischen. Viele pensionierte Soldaten sind in der Stadt geblieben, viele Frauen arbeiten als ziviles Personal bei den Militäreinrichtungen. Zu ihnen gehört auch die Tochter des Schneiders.
"Jetzt stellen wir uns doch einmal vor, die russische Flotte zieht ab. Wovon sollen die Menschen in Zukunft leben, die für sie gearbeitet haben? Daran denkt in Kiew keiner. Außerdem zahlt Russland der Ukraine viel Geld für die Stationierung der Flotte. Man muss doch ein kompletter Idiot sein, auf Geld zu verzichten, das praktisch wie vom Himmel fällt. Die Flotte abzuziehen, ist nicht schwer. Aber was wird aus den Menschen? Wohin sollen die?"
Alexandr Mozul stören an der neuen Zeit nicht nur Korruption und Unsicherheit. Er hält es insgesamt für einen Fehler, dass die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte. Bei einer Volksabstimmung stimmten damals landesweit 90 Prozent dafür, sich von Russland zu lösen. Auf der Krim lag die Zustimmung nur bei 54 Prozent – denn die meisten der zwei Millionen Einwohner bezeichnen sich als ethnische Russen.
Der Schneider Mozul ist jüdischer Abstammung. Dennoch beklagt er jetzt eine Ukrainisierung, wie er es nennt. Denn wenn er an seinem Radio dreht, dann findet er fast nur noch ukrainisch-sprachige Programme.
"Warum wollen sie mir mit meinen 60 Jahren noch die ukrainische Sprache beibringen? Auch alle offiziellen Dokumente sind auf ukrainisch. Nicht einmal eine Gerichtsverhandlung kann ich mehr verstehen! Wo bleiben da die westeuropäischen Werte? Schauen wir uns doch die Schweiz an: vier Staatssprachen gibt es dort. Aber bei uns nur ukrainisch. Diesen Nationalismus zwingt uns die Westukraine auf. "
Wenn Aleksandr Mozul jünger wäre, würde er das Land sofort verlassen. Eine positive Zukunft in der Ukraine kann er sich nicht vorstellen.
"Wenn meine Enkel groß werden, dann tue ich alles, damit sie nicht hier bleiben müssen. Wer in der Sowjetunion intelligent war, der konnte studieren. Aber heute? Heute müssen sie zahlen, egal wie viele Einser sie im Zeugnis haben. Nein, die Kleinen müssen auswandern. Nach Israel, Deutschland, Amerika oder Australien – ganz egal, nur weg von hier."
Olèch Tschornohúz ist 70 Jahre alt und stammt aus einem Dorf in der Westukraine. Zu Sowjetzeiten war er Verleger für ukrainische Literatur und Redakteur eines humoristischen Journals. Nach der Wende gründete er ein Satiremagazin und begann selbst zu schreiben. Tschornohuz kritisiert immer wieder, mit welchen Minderwertigkeitskomplexen die Ukrainer über ihre eigene Kultur sprechen, gerade den Russen gegenüber. Das schwierige Verhältnis beider Völker ist Thema in seiner Essaysammlung "Der ukrainische Zentaurus":
Die Ethik verpflichtet
Nein, wir Ukrainer sind wirklich die wohlerzogenste und verständigste Nation auf der Welt. Genau so sehen uns wenigstens unsere Brüder in der Religion – und zu einem unbeträchtlichen Teil auch im Blut – die Russen.
Aber urteilt selbst. Diese Tage habe ich einen Freund besucht. Einen Kommilitonen aus der Universität. Er ist – seinem Diplom nach – Jurist. Ich bin Journalist – meiner Berufung nach. Der Jurist also lud mich auf eine Tasse Kaffee nach Lemberger Art ein, gleichzeitig auch seinen Freund, einen Vertreter der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine. Der wurde bei uns geboren und wuchs auch hier auf.
Wir setzten uns an den Tisch. Vor dem Kaffee auf Lemberger Art tranken wir, wie es sich gehört, ein Gläschen. Der Freund war offenbar zu Geld gekommen, denn er hatte einen Hennessy mitgebracht. So kamen wir ins Erzählen. Ich auf ukrainisch, der Freund auf russisch. Ein Russischsprachiger spricht, selbstverständlich, nur russisch.
Wir tranken eine zweite Runde. Die Flasche gab auch noch ein drittes Mal her. Da sehe ich, dass mein Freund Flecken bekommt. Auf der Stirn, auf den Wangen, auf dem Hals. Der Jurist kam bald einem verbrühten Ferkel gleich, das gerade noch am Leben ist.
Die Ukraine war einmal die Kornkammer der Sowjetunion und zugleich ihr wichtigster Stahllieferant. So bemühen beide Seiten, Russen wie Ukrainer, bis heute das Bild vom Brudervolk, wenn sie übereinander reden. Tatsächlich aber ist das eine Farce, spätestens seit der Orangenen Revolution im Winter 2004. Kiew wandte sich vom Kreml ab und hin zum Westen. Lieber heute als morgen würde Präsident Juschtschenko die Ukraine nun in der EU und der Nato sehen. Das lässt vielen in Moskau die Haare zu Berge stehen. Die Krim steckt mitten drin in diesem Konflikt. Die große Mehrheit der ethnischen Russen knabbert bis heute daran, dass Nikita Chruschtschow die Krim einst seiner eigenen Heimatrepublik, der Ukraine zuteilte. Solange die Sowjetunion bestand, ging das gut. Heute aber will ein Gutteil der Krim-Russen die Loslösung von Kiew und den Anschluss an Russland. Strippenzieher in der Duma heizen die Stimmung zusätzlich an. Auch sonst ist Moskaus Arm lang: Sewastópol, die Bastion der Krim-Russen wäre ohne die finanzielle Unterstützung aus Russland kaum lebensfähig.
Die Jungen hält das trotzdem nicht. Abgeschreckt von Armut und Korruption macht sich die Jugend aus allen Teilen der Krim auf den Weg Richtung Westen. Nur einer schwimmt gegen den Strom: Stanislaw Karpenko, ein junger Student vom ukrainischen Festland. Er ist auf die Krim gekommen, damit die Russen gehen:
Rep 2 Kommen, damit die anderen gehen: Ein junger Student aus der Ukraine fordert den Abzug der Russen
Ein lauer Winterabend an der Uferpromenade in Sewastopol: Die Häuser im Stalinbarock mit ihren Säulen und wuchtigen Fassaden werden von unten angestrahlt, Palmen wiegen sich im Wind.
"Ich gehe hier sehr gern spazieren, auch wenn die Promenade betoniert ist. Aber das Meer, der Ausgang aus der Bucht dort hinten – das ist herrlich. Schauen Sie: Das Denkmal für die untergegangenen Schiffe, es erzählt von den Krimkriegen. Und ein paar Kilometer weiter, in Balaklawa, haben wir noch viel ältere Kultur-Denkmäler. Da steht eine Festung der Genueser. Sewastopol ist 223 Jahre alt, Balaklawa schon zweieinhalbtausend. Ich liebe das Meer, und ich mag Geschichte."
Stanislaw Karpenko hat sich Sewastopol als Wohnort ausgesucht: Der 21-jährige stammt aus Nikolajew im Süden der Ukraine und verliebte sich vor drei Jahren auf Anhieb in die Stadt auf der Krim. Er beschloss, hier Jura zu studieren. Sogar seine Freundin überredete er, mit nach Sewastopol zu ziehen. Inzwischen kennt Stanislaw auch die verborgenen Felstreppen zum Ufer hinunter und weiß, wo man abends noch Hotdogs mit hausgemachtem Senf bekommt.
Auf der anderen Seite der langgezogenen Bucht erreicht eine Geburtstags- oder vielleicht auch eine Betriebsfeier ihren Höhepunkt.
"Die Menschen hier sind einfach unbeschwerter als anderswo. Schauen Sie, dieses Motto steht auch auf meinem T-Shirt: Easy life, das leichte Leben. An solch einem Ort zu leben, das ist kein Alltag, das ist ein Vergnügen. Außerdem gefällt mir, dass die Leute in Sewastopol stolz sind auf ihre Stadt."
Die Lieblingskneipe von Stanislaw – das Potato House, nur hundert Meter von der Uferpromenade entfernt – ist rappelvoll. Die Jugendlichen sitzen auf Barhockern an Holztischen und trinken Bier. Nur Stanislaw verzichtet auf Alkohol, weil er ihm schlecht bekommt. Dafür raucht er eine Zigarette nach der anderen.
Zwei Mädchen interessieren sich sofort für Stanislaw. Mit seiner lebensfrohen Art kommt er gut an in Sewastopol – obwohl er anders denkt als die meisten hier. Er fühlt sich als Ukrainer und lehnt den Einfluss Russlands ab. Manchmal führt das auch zu Konflikten – zum Beispiel während der Zeit der orangefarbenen Revolution vor etwas über zwei Jahren. Damals unterstützte er die Revolution und den heutigen Präsidenten Viktor Juschtschenko.
"Meine Freundin und ich gingen in diesem Tagen die Balschaja-Marskaja-Straße entlang. Sie hatte eine orangefarbene Jacke an – und das passte ein paar Jugendlichen nicht. Ich habe ihnen gesagt, dass sie das einen Dreck angeht. So ist es zu einer Schlägerei gekommen – am hellichten Tag. Was für eine Idiotie! Na wenigstens habe ich bei der Rauferei nicht den Kürzeren gezogen."
Die Mutter ruft aus Nikolajew an, sie ist besorgt. Einige Stunden konnte sie Stanislaw nicht erreichen, weil der Akku seines Handys leer war. Jeden Tag telefoniert der Student mit den Eltern. Dabei spricht er russisch, weil er es durch seinen Umgang in Sewastopol so gewohnt ist.
"Ich habe Sehnsucht nach dem Ukrainischen, das ist meine Muttersprache. Manchmal verwende ich es, zum Beispiel, wenn ich mir irgendwo einen Tee bestelle. Die meisten sind einfach überrascht. Aber etwa die Hälfte der Leute reagiert negativ. "Sprich doch normal", sagen sie dann. Wenigstens meine Freunde kann ich überzeugen, dass sie ukrainisch lernen sollten. Schließlich achten sie mich – und deshalb auch meine Sprache."
Die Stadt Sewastopol liegt um und auf einem kleinen Hügel, er erstreckt sich vom Ufer weg steil in die Höhe. Ganz oben thront die weiß-blau-rote Flagge der Russischen Föderation. Denn dort ist das Stabsquartier der russischen Schwarzmeerflotte. Für Stanislaw Karpenko ein unerträglicher Zustand.
"Hier, vor diesem großen Eisentor des Stabsquartiers, fühle ich mich immer ein bisschen unwohl. Ich würde hier lieber ein großes Hotel sehen. Für mich ist das grundsätzlich nicht in Ordnung, dass die Armee eines anderen Staates bei uns stationiert ist. Und Russland ist nun mal ein anderer Staat. Wie sieht es da mit unseren militärischen Geheimnissen aus? Außerdem widerspricht diese Stationierung der ukrainischen Verfassung. "
Stanislaw redet nicht nur, er tut auch etwas: Im vergangenen Sommer schlug er mit Freunden ein Zeltlager direkt vor dem Eingang zum Stabsquartier auf. Kaum hatten die Demonstranten ihre große ukrainische Fahne aufgespannt, da tauschten die Russen ihre Flagge gegen eine noch größere aus.
Außerdem arbeitet Stanislaw ehrenamtlich bei einer Anwältin, die sich für Menschenrechte einsetzt.
Leicht wird er es nicht haben, wenn auch er nach seinem Studium als Anwalt den Kampf mit der ukrainischen Justiz aufnehmen möchte. Denn die ist korrupt, und die Rechte von Angeklagten werden oft mit Füßen getreten. Die Versuchung auszuwandern, ist deshalb auch für ihn groß.
"Viele wandern aus. Zwei Schulfreunde von mir arbeiten jetzt in Amerika, in Chicago. Sie verdienen dort gutes Geld. Aber einer von ihnen hat mir schon gesagt, dass er zurückkommen will. Er kommt mit der amerikanischen Mentalität nicht zurecht. Ich würde höchstens auswandern, um Geld zu verdienen und dann zurückzukehren. Aber eigentlich will ich in der Ukraine bleiben. Dieses Land hat es nicht einfach im Moment. Aber ich bin sicher, dass ich es noch blühend und reich erleben werde."
"Hör zu", sage ich zu ihm, "du hast ja eine Allergie gegen Import-Cognac. Da spürt man doch gleich den Patriotismus in deiner Seele. Ich sehe, du hältst es mit den einheimischen Produzenten... "Hej du", wende ich mich dann an den russischsprachigen Freund, "schenk dem bloß nichts mehr von deinem Importzeug ein. Ich hab hier bei mir, in der Tasche, zufällig noch einen heimischen. Einen 'Desna'. Soweit ich mich erinnere, hat Slawko letztes Jahr von unserm heimischen keine Flecken bekommen.
Der Freund saß da und wurde ganz weiß, wie die Wand einer Bauernhütte.
Slawko (so wurde mein Jurist getauft) springt nach diesen Worten auf. Ballt zuerst die Fäuste. Schlägt die Zähne aufeinander und lässt sie knirschen. Schließlich beginnt er zu schreien: "Das kommt nicht vom Cognac. Das kommt von deiner ukrainischen Ungezogenheit."
"Ich verstehe nicht", antworte ich ruhig, "was ist denn an mir so ungezogen?"
"Ja siehst du denn nicht: Ich habe einen Gast, und der spricht russisch."
"Na soll er doch. Ich werd's ihm nicht verbieten..."
"Ach so, du kannst wohl kein Russisch?"
"Natürlich kann ich", antworte ich, "aber dein Gast ist doch genauso wie ich in Kiew geboren. Er ist mit dir in eine ukrainische Schule gegangen."
"Ja, in Kiew. Wir haben in einer Straße gewohnt. Haben zusammen an der Schuljawka Tauben gejagt..."
"Was willst du dann von mir?", frage ich nach.
"Hast du dich jemals mit den Regeln der Etikette vertraut gemacht?", fragt mich der Jurist.
"Ja, in der Universität gab es so etwas..."
"Dann solltest du wissen, dass die Ethik verpflichtet..."
"Aha, die Ethik...", unterbreche ich ihn unethisch.
"Ja", nicht weniger unethisch schnitt auch er mir das Wort ab, "die Regeln der Ethik verpflichten..."
Slawko schlug unethisch den Teller auf den Tisch und ging hinaus in die Küche. Ich schlug unethisch mit der Gabel auf den Teller und stürzte hinaus auf die Straße. Der Russischsprachige versuchte, mich einzuholen und mir ethisch etwas auf russisch zu erklären... Ich habe seitdem weder von ihm noch von meinem Kommilitonen mehr etwas gehört.
Sie streiten um die Schwarzmeerflotte, um die Sprache, und um den Einfluss aus Moskau. Aber eines schweißt Russen und Ukrainer auf der Krim zusammen: Die gemeinsame Ablehnung der Krimtataren. Josef Stalin hatte sie 1944 aus ihrer Heimat vertrieben, wegen angeblicher, teils auch tatsächlicher Kollaboration mit den Deutschen. Aber seit der Perestroika kehren die Krimtataren zurück. Auf 12 Prozent ist die Minderheit inzwischen angewachsen, und je mehr kommen, desto aggressiver wird die Stimmung. Vor allem geht es um Land, das die Krimtataren zurückfordern. Vor ihrer Vertreibung waren sie an der Südküste zuhause. Eine warme, sonnige Gegend, in der ukrainische Oligarchen jetzt ihr Feriendomizil bauen. Die Forderung der Krimtataren nach Wohneigentum oder zumindest Baugrund erklärt sich aus der Situation der anderen Krimbewohner: Sie bekamen, sofern sie in der Stadt wohnten, die Wohnungen, die sie zu Sowjetzeiten mieteten, nach der Wende einfach geschenkt. Ähnlich bei den Bauern: Die Kolchosen verteilten – bevor sie sich auflösten – ihr Land unter den Mitgliedern. Die Ungleichbehandlung schafft Frustration. Und Gewalt: Schlägereien zwischen tatarischen und russischen Jugendlichen nehmen zu Letztes Jahr dann wurde ein Krimtatare von russischen Touristen erstochen.
Ein Besuch im Süden der Krim, bei zweien, die Wut haben:
Rep 3 Minderheit im eigenen Land: Die Krimtataren und ihr Kampf um Land und Anerkennung
Wenn es regnet, sind die Tage von Remsi Amirow und Arif Abibilker besonders trist. Das Feld um ihre kleines gemauertes Häuschen weicht auf und verwandelt sich in eine Schlammwüste. Dann müssen die beiden den ganzen Tag drinnen bleiben, im einzigen Raum, den ihr Häuschen bisher hat.
Der 25-jährige Arif legt Holz nach, wenigstens warm haben es die beiden Krimtataren hier.
"Dieser Ofen ist für uns Heizung und Herd in einem. Zustände wie vor dem Krieg sind das, ich weiß. Aber mehr als diesen einen Raum haben wir bisher nicht bauen können. Es sind ja nicht alle mit Geldkoffern auf die Krim zurückgekommen. Bauen ist teuer. Alle hier in der Siedlung bauen mit eigenen Händen und kaufen sich immer dann, wenn sie ein bisschen Geld haben, ein paar neue Steine."
Remsi und Arif sind Freunde. Sie bauen das Häuschen für ihre beiden Familien – allerdings ohne Genehmigung. Sie wollen dieses Land einfach in Besitz nehmen, an der Ausfallstraße 15 Kilometer südlich von Simferopol. Damit sind die beiden nicht alleine: Eine ganze Siedlung entsteht hier direkt neben dem Dörfchen Dobroje. "Samasachwat" nennen das die anderen Krimbewohner: die illegale Inbesitznahme von Land. Bei den Krimtataren allerdings heißt ihre Aktion "Samawozwrat" – womit gemeint ist: Sie holen sich das Land ihrer Väter zurück.
Remsi, 48 Jahre alt und Familienvater:
"Hier an der Straße will die Verwaltung uns keine Grundstücke geben. Sie wollen sie lieber an Firmen verkaufen und uns Land irgendwo in den Bergen zuweisen. Dort gibt es keine Wege, keinen Strom, kein Wasser. Bis die Kinder von dort in die Schule kommen, sind sie durchnässt, wenn es regnet. Deshalb nehmen wir uns dieses Gelände einfach. Wenn wir schon die Häuser, die sie unseren Vorfahren weggenommen haben, nicht zurückbekommen…"
Ein paar Nachbarn sind zum Teetrinken gekommen. Dazu gibt es belegte Brote mit Salami. Die meisten setzen sich auf das große Bett, das zwei Drittel des Raumes einnimmt.
Remsi und Arif gelten hier als alte Hasen. Ihre Familien sind schon vor über 15 Jahren zurück auf die Krim gekommen. In Usbekistan hielten sie es nicht mehr aus, nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war. Politiker und Gesellschaft verhielten sich zunehmend nationalistisch. Für Krimtataren wurde es schwer, eine gute Arbeit oder einen Studienplatz zu bekommen. Außerdem haben die Familien das Andenken an die alte Heimat am Schwarzen Meer wach gehalten, erzählt Remsi.
"Da haben wir nicht mehr lange überlegt und unsere Häuser in Usbekistan verkauft. Aber de facto haben wir sie verschenkt. Denn das Geld, das wir für sie bekommen haben, ist kurze Zeit später völlig entwertet worden. Mit nichts sind wir hier angekommen. Ja, wer Geld hat und die Beamten schmieren kann, der bekommt ein Grundstück zugewiesen. Aber das sind nur wenige. Den anderen bleibt nur der Protest."
Während die Familie von Arif bei Verwandten untergekommen ist, muss Remsi eine Wohnung in Simferopol mieten. Um Geld zu sparen, lebt seine vierköpfige Familie in einem einzigen Zimmer.
Arif macht einen Kontrollgang auf dem Gelände. Jeden Tag ist einer der Bewohner verantwortlich dafür aufzupassen. Schließlich haben die Krimtataren Feinde: allen voran die so genannten Kosaken-Vereine. Unter dem Deckmantel der Brauchtumspflege versammeln sich dort ukrainische und russische Nationalisten. Als die Krimtataren vor zwei Jahren Land an der Südküste besetzten, griffen diese Kosaken sie sogar an und rissen die dort errichteten Holzhäuser nieder.
Noch immer seien Vorurteile gegen Krimtataren weit verbreitet, sagt Arif.
"Nach dem Krieg haben die Sowjets den Menschen eingeredet, wir seien Handlanger der deutschen Besatzer gewesen. Das glauben manche heute noch. Dazu sind neue Stereotype gekommen. So wird uns nachgesagt, dass wir tschetschenischen Terroristen helfen. Ein Beispiel für die Diskriminierung im Alltag: Wenn ein krimtatarischer Busfahrer unseren Radiosender einstellt, dann beschweren sich die Fahrgäste meistens. Das geht dann nicht ohne Beleidigungen und Beschimpfungen ab."
Die Gesellschaft im Häuschen hat inzwischen den uralten Fernseher eingeschaltet, der ein grünstichiges Bild zeigt. Zum Aufwärmen gibt es für jeden ein Gläschen Wodka – mit den Gesetzen des Islam halten es viele Krimtataren nicht so genau. Dass sie trotzdem unter vielen Slawen Angst auslösen, liegt auch an ihren politischen Forderungen.
Remsi ist da ganz offen:
"Die Krim wird nur dann aufblühen, wenn wir hier die Oberhand gewinnen. Wenn wir regieren. Das hat man schon in Usbekistan gesehen: Da haben wir allein für Zivilisation gesorgt. Wir haben die besten Häuser gebaut und die Straßen asphaltiert. So auch hier: Wenn sie uns die Krim geben, dann werden wir aus ihr einen kleinen blühenden Staat machen."
In der Sprache des Medschlis, der inoffiziellen Regierung der Krimtataren, klingt das freilich etwas anders. Von einer "kulturellen Autonomie" ist da die Rede, vom Schutz der krimtatarischen Sprache und von der Wiedereinführung der alten Ortsbezeichnungen.
Bald könnte sich der Konflikt zwischen Krimtataren und Regierung zuspitzen. Das Parlament in Kiew hat ein Gesetz verabschiedet, das die illegale Inbesitznahme von Land ausdrücklich unter Strafe stellt.
Davon hat auch Remsi gehört.
"Bis zu sechs Jahre wollen sie uns einsperren. Aber das ist mir egal. Sollen sie nur diese Spezialeinheiten der Polizei vorbeischicken und von mir aus die Armee. Noch einmal lassen wir uns nicht vertreiben."
Die Konferenz von Yalta wurde 1945 mit einem Glas Krimsekt besiegelt. Roosevelt, so heißt es, war von dem Tropfen so hingerissen, dass er seinerzeit ankündigte, nach seiner Pensionierung eine zweite Karriere als Handelsreisender für Krimsekt zu beginnen. Der Amerikaner war nicht der erste, der ins Schwärmen kam. Sekt wird auf der Krim schon seit dem 18. Jahrhundert hergestellt. Der internationale Durchbruch kam 1900 bei der Weltausstellung in Paris. In den 60er Jahren entdeckten die vom Wirtschaftswunder verwöhnten Deutschen den edlen Tropfen. Der Export lief auf Hochtouren. In der ehemaligen Sowjetunion gehört Krimsekt bis heute zu jeder Feier dazu – soweit Frauen anwesend sind – andernfalls reicht Wodka. Dennoch ging es bergab in den 90ern: Mit dem politischen Um- kam der wirtschaftliche Einbruch. Heute sind die meisten ehemals staatlichen Sektkellereien und Weingüter auf der Krim verkauft und abgewickelt. Mit den üblichen Folgen: Die Privatisierungswelle hat manche Existenz gekostet. Die Produktionszahlen sanken, Mitarbeiter wurden entlassen. In vielen Sektkellereien sind die Eigentumsverhältnisse bis heute unklar, ukrainische Oligarchen haben ihre Finger im Spiel.
Eine Betrieb in Sewastópol will es nun besser machen: Mit mehr Transparenz, und mit Geld aus Deutschland:
Rep 4 Privatisieren und entlassen: Die Sektbranche auf der Krim
Rem Aktschurin ist erst 24 Jahre alt. Aber in der Sektkellerei von Sewastopol bewegt er sich schon wie der Juniorchef, obwohl er das offiziell noch gar nicht ist. Elegant, im Jackett, fragt er die Angestellten nach dem Stand der Produktion und berichtet über seine Pläne mit der Firma. Die Abfüllanlage, erklärt er, stammt aus Deutschland.
"Eigentlich kann diese Maschine auch die Folie, die über die Korken kommt, auf die Flaschen drücken. Aber wir haben keinen Spezialisten, der die Größe für unsere Flaschen entsprechend einstellen kann. Es kommt uns billiger, jemanden für diese Arbeit einzustellen, als einen Experten aus Deutschland kommen zu lassen, der unsere Mitarbeiter schult. Ich werde mich aber trotzdem dafür einsetzen, dass einer kommt. Wozu haben wir denn die Maschine? Insgesamt arbeiten in diesem Raum drei Leute, die man einsparen könnte. "
Rem zeigt die mit Grünschimmel überzogenen Fässer, in denen der Sekt vor der Abfüllung lagert. Die Sewastopoler Sektfabrik befindet sich in einem Stollen, der von der Seite in einen Berg getrieben wurde und bis zu 50 Meter unter der Erde liegt. Das Klima hier ist ideal mit seiner immer gleich bleibenden Temperatur bei rund 15 Grad plus. Und selbst der Grünschimmel im Gewölbe soll nützlich sein für die Gärung.
Rem ist stolz auf die Fabrik, obwohl das Unternehmen bisher noch staatlich und er eigentlich nur der Sohn des Direktors ist. Aber schon jetzt steht für ihn fest, dass er bald die rechte Hand seines Vaters werden wird. Immerhin investiert die Familie in Rem: Er studiert Weinbau an einer renommierten Fachhochschule in Geisenheim im Rheingau.
Im Stollen steht eine neue Maschine, die offenbar nicht benutzt wird. Rem ist empört. Er meint, dass sich die Mitarbeiter bei ihren 150 bis 200 Euro Gehalt im Monat nicht genug anstrengen.
Sascha, ein leitender Angestellter, widerspricht. Das neue Gerät für den Wärmeaustausch könne erst dann angeschlossen werden, wenn die Produktion für kurze Zeit still gelegt werde. Und dafür seien im Moment einfach zu viele Aufträge zu bewältigen.
Sechs Millionen Flaschen lieferte die Sektkellerei im vergangenen Jahr aus, in diesem Jahr soll es eine Million mehr werden. Der Firma geht es gut, denn 30 Prozent ihrer Produktion gehen in den Export, auch nach Deutschland. Bekannt ist die Sewastopoler Kellerei vor allem für ihren roten Sekt.
Das Herzstück der Sektherstellung, die Gärung, findet in Sewastopol in keramikverkleideten Tanks mit 10.000 oder mehr Litern statt. Denn der hohe Druck dort verringert die Gärungszeit auf einen Monat.
"In Deutschland habe ich die Gärung in Flaschen kennen gelernt. Diese alte Tradition will ich zurück nach Sewastopol bringen, wenn ich mein Studium beendet habe. Denn früher ist sie auch hier praktiziert worden. Natürlich wird daraus keine Massenproduktion, eher kleinere Mengen für unseren eigenen Gebrauch."
Im Verkaufsgebäude, einige hundert Meter vom Stollen entfernt, präsentiert Rem in einer Glasvitrine die Auszeichnungen, die der Sekt aus Sewastopol schon bekommen hat. In diesem Raum werden nur die besten Kunden bedient und in Sachen Sekt und Wein umfassend beraten. So vertreibt die Kellerei auch Weinschränke aus französischer Produktion, garantiert vibrationsfrei und richtig temperiert – Kostenpunkt 3.000 Euro aufwärts.
Schon mit 15 Jahren habe er sich zum Weinkenner entwickelt, erzählt Rem.
"Da habe ich zum ersten Mal gemeinsam mit meinem Opa getrunken. Die Familie saß am Tisch und mein Opa erhob sich zum Toast. Danach habe auch ich das Weinglas in die Hand genommen. Aber er hat mich zurechtgewiesen: Ich solle es am Stiel halten, nicht am Kelch. Einmal, damit die Hand den Wein nicht wärmt, und dann, damit es beim Anstoßen schöner klingt."
Aleksej Aktschurin, Rems Vater, hat nie woanders gearbeitet als in der Sewastopoler Sektkellerei. Zuerst als einfacher Arbeiter, später als Chefingenieur und seit über acht Jahren als Direktor. Der 49-jährige kann keine fünf Minuten erzählen, ohne dass sein Handy klingelt. Seinen Erfolg erklärt Aleksej Aktschurin vor allem mit seiner Liebe zum Produkt.
"Im Krimsekt spürt man die Sonne des Südens und den Wind, der vom Meer her weht. Das sind weiche Faktoren, die den Sekt lieblicher von mir aus auch süßer machen als zum Beispiel Champagner. Wir versuchen nicht, mit französischem Schaumwein zu konkurrieren, das wäre Unsinn. Der Charakter unserer Region muss im Sekt zum Ausdruck kommen, nur so können wir auch für ausländische Kunden interessant sein."
Aleksej Aktschurin hat große Pläne für die Sewastopoler Kellerei. Bisher wird der ganze Traubensaft eingekauft, aber zurzeit beginnt das Unternehmen mit einem eigenen Weinbau. So kann es genau die Trauen anbauen, die es für seinen Sekt braucht.
Außerdem soll die Kellerei bald privatisiert werden. Ein Investor aus Deutschland ist bereits gefunden, und auch Aleksej selbst will in das Unternehmen investieren. Die Mittel dafür hat er durch eigene, lizenzierte Patente für die Sektkellerei verdient.
"Dieses Geld habe ich nicht für eine Yacht oder für teure Autos ausgegeben, obwohl ich schon Lust dazu gehabt hätte. Ich habe lieber gespart und werde nun in mein eigenes Business investieren. Die Investoren werden uns auch dabei helfen, Kredite zu bekommen. Schließlich gibt es im Ausland da ganz andere Konditionen als in der Ukraine."
Gestern wurde ich ins Fernsehen eingeladen. "Eine Livesendung", haben sie mich gewarnt, "eine Liveschaltung mit den Zuschauern" und dass ich mich da ja ethisch benehmen solle. Ich trat auf, und auf mich fielen, wie durch ein Sieb geschüttelt, die Fragen der Zuschauer. Gesiebt wurden sie durch den Telefonempfang und kamen auf ukrainisch und auf russisch. Ich antwortete auf ukrainisch, schließlich befand ich mich in einem ukrainischen Fernsehsender. Die russischsprachigen Zuschauer ertrugen mich. Nicht einmal der Telefonempfang hatte etwas auszusetzen.
Aber dann plötzlich die Moderatorin, ukrainischsprachig und offenbar äußert wohlerzogen. "Entschuldigen Sie", begann sie sehr zivilisiert, "ich höre Ihnen sehr aufmerksam zu, und Sie antworten allen der Reihe nach stur auf ukrainisch. Im Handbuch für die Regeln der Ethik..."
Ich unterbrach sie unethisch und verließ das TV-Studio. Nun sitze ich da und überlege hin und her. Überlege und überlege und bin, so nehme ich an, zum richtigen Schluss gekommen: Wir Ukrainer sind eine wohlerzogene Nation. Wenn das so weiter geht mit der Ethik, dann werden wir alle bis auf den letzten polyglott.
Letzte Woche traf ich mich mit Michael (sprich: Maikl) von der amerikanischen Botschaft. Ich versuchte es auf englisch. Er unterbrach mich unethisch und sagte in unserer Sprache: "Quäl dich nicht. Ich gehe ja schon zum Ukrainischen über."
Ein ungezogener Typ ist das. Offenbar werden die Regeln der Ethik in den USA nicht gelehrt.
Putjówka heißt der Urlaubsschein, mit dem Partei und Gewerkschaften in der Sowjetunion allen Arbeitern winkten, die sich besonders hervorgetan hatten. Die Belohnung: Zwei Wochen Sonne im Ferienhaus auf der Krim. Die ganze Halbinsel war einmal eine Vorzeigeregion der Sowjets. Übrig geblieben ist davon heute die Trolleybuslinie von Simferópol nach Jalta – mit 86 Kilometern Länge und 2,5 Stunden Fahrzeit die längste der Welt. Und ein Beleg für Lenins alte Maxime: "Kommunismus ist gleich Rätemacht plus Elektrifizierung". Was fortschrittlich klingt, ist andernorts einfach nur hässlich: Die wunderschöne Bucht von Jalta wurde seit Kriegsende systematisch zubetoniert: Plattenbauten ringsum. Heute lockt das kaum einen Touristen mehr an, die Zahlen sind seit Jahren rückläufig. Ausgerechnet der Einzug des Kapitalismus hat dem Tourismusgeschäft nur Nachteile gebracht. Wohlhabende Russen fahren inzwischen lieber nach Ägypten oder in die Türkei. Die Krim hinkt mit überteuerten Preisen hinterher.
Am meisten ist der Umbruch der neuen Zeit in Yalta zu spüren. Schlange stehen die Touristen dort nur noch vor den Fastfoodrestaurants:
Rep 5 Perle mit Plattenbau: Jalta fehlen die Touristen
Die tiefstehende Sonne wirft ein warmes, rotes Licht auf den Betonstrand von Jalta. Einsam ist es hier, zwischen dem unruhigen Meer und dem beeindruckenden Bergpanorama landeinwärts. Ein Mann bemüht sich, Touristen für eine Spritztour auf seinem Motorboot zu gewinnen. Die Dame hinter dem Kartenschalter preist den nächsten Ausflugsdampfer an. Wahrscheinlich bleibt er wieder – wie schon am Morgen – im Hafen liegen, weil sich zu wenige Touristen angemeldet haben.
Für Jekaterina Njepomneschtschich, die Fremdenführerin, fällt damit ein kleines Zubrot weg. Aber das sei nicht das schlimmste, meint sie.
"Wir haben weniger Touristen auf der Krim. Dass Ferienhäuser im Winter zu machen, das gab es früher überhaupt nicht. Jetzt haben gerade mal drei von insgesamt 30 geöffnet. Außerdem haben sich die Touristen geändert. Sie interessieren sich nicht mehr so für Kultur. Für die Führungen hatten wir früher zwei Millionen Buchungen pro Jahr – von verschiedenen Büros. Heute ist es nur noch eine halbe Million. Die Touristen geben ihr Geld lieber in Restaurants oder anderen Vergnügungseinrichtungen aus. Das macht mich natürlich traurig. "
Jekaterina ist nicht irgendeine Fremdenführerin. Im vergangenen Jahr wurde eine ihrer Führungen von einer Regierungs-Kommission als beste in der Ukraine ausgezeichnet. In ihrem Büro betreibt sie wissenschaftliche Forschungen. So hat die 59-jährige auch ein Buch geschrieben – über die Felsenstädte der Krim.
"Ich habe die Krim nicht nur lieben gelernt, sondern sie studiert und bereist – von einem Ende zum anderen. Um den Besuchern etwas Interessantes zu erzählen, muss man selber erst einmal viel gesehen haben. Und man muss die Landschaft, die Geschichte auch mit dem Herzen aufnehmen. Eine feste Arbeitszeit gibt es deshalb für mich nicht. Ich führe ja nicht nur Exkursionen, sondern erarbeite sie auch für Kolleginnen – vom Inhalt und von der Methodik her."
Seit 1973 lebt Jekaterina in Jalta. Gleich nach ihrem Universitätsabschluss in Moskau zog sie hierher – der Natur und der Geschichte wegen und weil sie hier ihren Beruf ausüben wollte. Das Touristenbüro in Jalta erkannte ihr Talent und stellte sie sofort ein.
"Hier zu arbeiten, ist wunderbar. Es sind ja so viele Zaren-Paläste und Paläste von Fürsten erhalten. Außerdem ist die Landschaft an sich beeindruckend. Wir haben einen Berg, der wirklich aussieht wie ein Bär. Und einen anderen, der an eine Katze erinnert und von der anderen Seite einem Kamel ähnelt. Dann nicht weit von Jalta unser Grand Canyon, der ist kleiner als der am Colorado. versteht sich, aber nicht weniger malerisch. Auf der Krim findet man die Landschaften aller fünf Kontinente, sogar eine Art Mondlandschaft."
Jekaterina kennt den Gegenstand ihrer Exkursionen so genau, dass sie die Touristen beinahe blind führen kann. Das brachte sie einmal auch in eine peinliche Situation.
"Das war am Lewadja-Palast, wo 1945 die Jalta-Konferenz stattfand. Eine Ecke des Palastes ist mit einer Chimären-Figur geschmückt – genauso wie die Notre-Dame-Kirche in Paris. Ich näherte mich der Figur mit dem Rücken. Aber als ich sie zu beschreiben begann, da sahen mich die Touristen ganz komisch an. Kein Wunder: Am Tag davor hatte sich jemand auf die Figur gesetzt und sie zerstört. Jetzt steht dort nur noch eine Kopie. "
Die Krim liebt Jekaterina noch wie früher. Aber ihren Beruf kann sie nicht mehr so unbeschwert ausüben. Denn inzwischen herrscht Marktwirtschaft in der Ukraine, das Touristenbüro gehört den ehemaligen Angestellten und muss Gewinn abwerfen. Die Fremdenführerin spricht über Steuern und Mittelstandsförderung wie eine Unternehmerin. Umgerechnet 120 Euro Gehalt im Monat zahlen sich die Frauen aus. Nicht viel, aber wenigstens kann Jekaterina kostenlos in einem Wohnhaus leben, das das Touristenbüro einst kaufte. Eigentlich sollte daraus mal ein Hotel werden, bis die Wende diese Pläne durchkreuzte. Denn das Geld auf der Bank, das dafür vorgesehen war, war von einem Tag auf den anderen nichts mehr wert.
Vom einst mondänen Jalta ist am Strand, wenigstens auf den ersten Blick, nur noch wenig übrig. Mit dem Kapitalismus kam der Kommerz. Lärmende Kinder-Karusselle auf der einen, Fastfood-Ketten auf der anderen Seite der Promenade. Aber Jekaterina schaut über sowas hinweg. Für sie bleibt jenes alte Bild der Stadt lebendig, wie sie zur Zarenzeit ausgesehen haben muss.
"Die Bucht wurde ja schon immer mit der von Nizza verglichen – und Ende des 19. Jahrhunderts galt Jalta sogar als schöner als die französische Stadt. Die Gebäude an der Uferpromenade sind erhalten, aber schauen sie dort drüben, auf dem Hügel. Diese Hochhäuser stammen alle aus den 60er und 70er Jahren. Seitdem hat Jalta seinen Zauber leider ein bisschen verloren."