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Halbinsel Judatin

Der russische Schriftsteller Oleg Jurjew bewahrt Aspekte jüdischer Identität, indem er sie durch Sprache neu erschafft. In seinem Debütroman "Der Frankfurter Stier" von 1996 war das Inhaltsverzeichnis dem sechseckigen Davidstern oder dem Sechseck aus der Kabbala nachgebildet. Religiöse Gestalten wie der Golem und der Urmensch Adam Kadmon geleiteten beim Lesen um die sechs Ecken, eine Geometrie der Wunder entfaltend. Die poetische Qualität von Jurjews Sprache samt ihrem Reichtum an Bildern, Wendungen und Windungen läßt sich nur unzulänglich wiedergeben. Seine Phänomenologie hat ein eigenes, unverkennbares Muster.

Katrin Hillgruber | 03.02.2000
    Oleg Jurjew wurde 1959 im damaligen Leningrad als Sohn assimilierter russischer Juden geboren. Seit 1990 lebt er abwechselnd in Frankfurt am Main und in seiner Geburtsstadt. Die Stuttgarter Edition Solitude veröffentlichte 1992 seine "Leningrader Geschichten", ein Buch über "Bäume, Insekten, Frauen und natürlich über den Mond". 1993 erregte er mit der Aufführung seines Theaterstücks "Kleiner Pogrom am Bahnhofsbüffet" bei den Berliner Festwochen Aufsehen.

    Oleg Jurjews neues Buch "Halbinsel Judatin" wurde wie "Der "Frankfurter Stier" von Elke Erb und Sergej Gladkich in ein stupendes, quicklebendiges Deutsch gebracht. Der Roman besticht zunächst durch seine symmetrische Anlage. Es handelt sich um ein Zwitterwesen, ein doppeltes Buch, das sowohl vorwärts als auch rückwärts aufgeschlagen werden kann. Ist man lesend in der Mitte angelangt, dreht man den Band auf den Kopf und fängt mit der entgegengesetzten Geschichte an. Auch hier also wieder eine besondere äußere Form, ein ausgetüfteltes Ideengehäuse. Der Autor, ein autonomer Post-Avantgardist, weiß es auszufüllen.

    Eine Halbinsel oder Landzunge namens Judatin gibt es nicht. Die aus zwei inneren Monologen bestehende Handlung des Romans spielt sich an einem Küstenort bei Wyborg nahe der finnischen Grenze ab. Es ist der 5. und 6. April 1985, der Termin des jüdischen Osterfestes, unmittelbar nach der Ernennung Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU. Auf zwei Stockwerken eines "Packhauses", das unter Peter dem Großen auf der errichtet wurde, liegen zwei Dreizehnjährige fiebernd zu Bett. Sie lassen ihren Gedanken freien Lauf. Vom Judentum des jeweils anderen wissen sie nichts. Es kursiert das üble Gerücht, ein russischer Junge sei von Juden entführt worden, um für Pessach rituell geopfert zu werden. So sorgen sich beide um den anderen, den sie für einen Nichtjuden halten.

    Das eine Haus wird von zwei unterschiedlichen Traditionen des Judentums bevölkert, zwei gegensätzlichen Ideenwelten und den entsprechenden Idiomen. Im Dachgeschoss erholt sich der einheimische Sohn der Familie Judata von der rituellen Beschneidung. Im Alter von dreizehn Jahren ist er ein Bar Mizwa, ein hebräischer "Gesetzespflichtiger". Die Judatas sind sogenannte Marranen oder Kryptojuden. Das sind getaufte Juden, die im Zuge der sogenannten Jüdischen Häresie nach 1471 konvertieren mussten, ihren Glauben aber heimlich bewahrt haben. Aufgrund der Verfolgungen zogen sie sich in die Einöde zurück. Ihr Selbstverständnis ist das von Auserwählten, Übriggebliebenen, Hütern der Schrift.

    Rückzug steht gegen Weltoffenheit, Geborgenheit gegen eine nicht immer leichte Orientierung. Im Dachgeschoss werden die alten Mythen gepflegt und für das Jahr 2000 nicht der Kommunismus, sondern das Jüngste Gericht erwartet. Währenddessen tobt im Parterre das fröhliche Chaos der Agnostiker: Nicht die heilige Schrift, sondern Radio und Fernseher liefern die Trivialmythen. Hier ist die assimilierte jüdische Familie Jasytschnik aus Leningrad zu Gast: der erkältete Sohn, seine Schwester sowie deren Mann Jakow Markowitsch Permanent.

    Für den Jungen im Erdgeschoss bedeutet seine Zugehörigkeit zum Judentum etwas Abstraktes. "Hebräer" kennt er eigentlich nur aus dem Fernsehen, wo einer von ihnen die Sendung "Offensichtliches - Unwahrscheinliches" moderiert. Ihn beschäftigt weit mehr die politische Lage, das Interregnum nach Andropows und Tschernenkos Tod: Wird der Neue im Kreml den Personenkult wieder einführen? "Mag sich alles dort noch etwas zurechtrütteln", denkt sich der Ich-Erzähler, "wer kennt ihn, diesen Gorbatschow-Schmorbatschow, wer weiß, wo man dran ist bei ihm - immerhin Andropows Mann."

    Grell scheinen Versatzstücke der sowjetischen Alltagskultur auf. Sie verdichten sich zu einem urkomischen Potpourri aus der Sicht eines Heranwachsenden. Kaskaden von Namen, Adjektiven, behördlichen Bezeichnungen bringen ein kleines Universum in seinen Monolog. Allerdings befördert die Suada von Sinneseindrücken zugleich eine gewisse Künstlichkeit des Textes.

    Durch die raffinierte Doppelstruktur birgt "Halbinsel Judatin" ein modernes Museum des Judentums: Im einen Teil ist die weltliche Variante, im anderen eine aus der Zeit gefallene Tradition zu besichtigen. Nebenbei versendet dieser außergewöhnliche Roman Morsezeichen aus der Sowjetunion kurz vor ihrem Untergang, letzte Nachrichten aus dem sowjetischen Atlantis.