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Halbwahrheiten über Europa

Nüchtern, ohne Kommentar und ohne Musik zeigt Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalters in seinem Film "Abendland" seinen Blick auf die Problembezirke Europas. Und erzählt dabei nur die halbe Wahrheit.

Von Christoph Schmitz | 22.12.2011
    Der Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter führt uns durch die Nacht in Europa. Überall macht er in der Dunkelheit Station, an der slowakisch-ukrainischen Grenze, an einem illegalen Einwanderercamp in Rom, in einem britischen Paketzentrum, einer Londoner Zentrale für Straßenüberwachung, in Diskotheken, Fernsehstudios, Flughäfen und bei der Telefonseelsorge. Geyrhalter will nichts Geringeres als ein Gegenwartsbild unserer abendländischen Lebensweise einfangen. Dafür entwickelt er nicht die eine große Geschichte, sondern er liefert ein Kaleidoskop von vielen kleinen Geschichten, nüchterne Impressionen, lose aneinandergefügt. Was sie verbindet, ist die vom künstlichen Licht der Neonröhren erhellte Nacht, die wie eine bedrohliche Ungewissheit über allem liegt. Eine irritierende Kraft liegt in jeder einzelnen der 21 Episoden, ganze Welten sind in ihnen komprimiert, sodass jede Material für eine abendfüllende Dokumentation ergäbe.

    Die Kamera wirft einen Panoramablick in einen bis zum Bersten gefüllten Saal beim Oktoberfest in München. Sie schaut in die Grillküche, wo Hunderte Hähnchen an Spießen brutzeln und folgt schließlich einer Kellnerin quer durch den Saal. Die Kellnerin, der Koch, die volltrunkenen Festbesucher, die von Sanitätern schließlich ins Erste-Hilfe-Zelt geschleppt werden – sie alle deuten ganze Lebensgeschichten an.
    O-Ton Polizeitraining:
    "Hallo, die Polizei, Personenkontrolle! Kommen Sie mal bitte da raus, wir hätten gern Ihren Personalausweis gesehen.
    Wisst Ihr, was Ihr kriegt von mir, Ihr kriegt von mir überhaupt nix.
    Wir hätten gern Ihren Personalausweis gesehen.
    Wisst Ihr, was Ihr von mir bekommt? (Pistolenschuss)"

    Die Polizei bei Schießübungen. Ein simulierter Einsatz. Auf der Videowand der Angreifer. Die latente Aggressivität unserer Gegenwart scheint hier auf, ebenso wie die ausgetüftelten Sicherheitsstrategien des Staates. Der Film enthält sich allerdings jeden Kommentars. Keine der Figuren spricht in die Kamera, keine Stimme aus dem Off gibt Erklärungen ab. So wie zu Beginn der Dokumentation eine elektronisch gesteuerte Infrarotkamera den osteuropäischen Grenzstreifen mechanisch abtastet, so kühl, fast unterkühlt und statisch zeigt Geyrhalter, was in Europa der Fall ist. Diese Distanz gehört zu den Stärken des streng komponierter Films. Welche Eindrücke bleiben nach seinen vielen Geschichten zurück? Zum einen, wie perfekt das öffentliche Leben in Europa organisiert ist, wie technisiert fast alle Bereiche sind, von der medizinischen Hightec-Maschinerie für frühgeborene Kinder, über die Altenpflege bis zu den fließbandmäßig funktionierenden Krematorien. Zum anderen, wie eine Vergnügungsindustrie für ganze Menschenmassen Freizeit und Spaß organisiert. Und schließlich, wie Europa seine Grenzen dichtgemacht, sich in einer Wagenburg förmlich verschanzt hat, um das Abendland aus Wohlstand und Sicherheit nicht zu gefährden. Der spanisch-marokkanische Grenzzaun von Melilla steht dafür am Schluss der Dokumentation symbolisch. Das freundliche Gespräch einer Schweizer Sozialarbeiterin mit einem Schwarzafrikaner, dessen Asylantrag abgelehnt wurde, bringt die Abwehr auf den Punkt.

    Die Frage ist, ob Geyrhalters Diagnosen stimmen. Mit seinem objektivistischen Erzählstil beansprucht der Dokumentarfilmer schließlich Objektivität. Die er aber letztlich nicht einlöst. Er zeigt eine geriatrische Pflegestation, aber nicht, wie viele alte Menschen von ihren Familien daheim umsorgt werden. Er zeigt Tausende bei einer stumpfsinnigen Technoparty, aber nicht die Hunderttausende, die in Kunstausstellungen, Museen, Philharmonien, Theater, Kirchen und Programmkinos gehen. Er zeigt die geschlossenen Grenzen, aber nicht die Millionen integrierten Einwanderer aus aller Welt. Geyrhalter erzählt nur die halbe Wahrheit und verkauft uns deswegen ein bisschen für dumm.