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"Haltet den Dieb"

Der Streit um Plagiate ist wahrscheinlich so alt wie deren Original. Dabei ist vor allem ihre Entstehung interessant - und Vorlage für eine höchst originelle Literaturgeschichte.

Von Martin Ebel |
    Mit dem Plagiat verhält es sich einfach und kompliziert zugleich. Wenn jemand etwa die Novelle eines anderen unter seinem Namen veröffentlicht, dann ist das ein klarer Fall von Plagiat. Wie aber, wenn dieser Jemand nur die Hauptgestalten entlehnt - oder die Story, die Sprachbilder, einzelne Absätze? Dann befinden wir uns schon in einer Grauzone. Mit gutem Grund könnte der Dieb behaupten, auf dieses und jenes selbst gekommen zu sein, anderes, etwa bestimmte Metaphern oder Argumente, seien sprachliches oder gedankliches Allgemeingut, und niemand könne ihren Besitz beanspruchen.

    Die meisten Streitfälle um geistiges Eigentum liegen in dieser Grauzone; deshalb sind sie in den Medien so beliebt - endlich etwas im merkwürdigen Reich der Literatur, das sich skandalisieren lässt -, und deshalb verlaufen sie vor Gericht meist im Sande. Trotzdem versuchen es vermeintliche Vorläufer immer wieder. Je erfolgreicher ein Autor ist, desto sicherer kann er sein, früher oder später von einem literarischen Nobody des Plagiats bezichtigt zu werden; das haben sowohl Joanne K. Rowling wie Dan Brown erleben müssen, in Deutschland unter anderem Walter Kempowski und Frank Schätzing.

    Zum Plagiat, dekretiert der Zürcher Germanist Philipp Theisohn, gehört zwingend die Plagiatserzählung. Erst wenn einer auftritt und laut "Haltet den Dieb" schreit, wenn er Vergleichstexte als Beweis vorlegt und auf Entschädigung klagt - oder wenigstens auf die Anerkennung seines literarischen Erstgeburtsrechts: Erst dann kann man von Plagiat reden.

    Theisohn interessiert nicht der Skandal selbst; eine Geschichte des Plagiats von Aristophanes bis Wilkomirski hätte ihn gelangweilt; deshalb hat er sie auch nicht geschrieben. Er will wissen, was die Plagiatserzählung verrät: über die Vorstellung von literarischem Eigentum; über Originalität und deren Bewertung; ja über das, was Literatur überhaupt ausmacht. Entstanden ist aus diesem Ansatz eine höchst originelle Literaturgeschichte; dass er Autor sie selbst im Untertitel "eine unoriginelle Literaturgeschichte" nennt, ist eine hübsche Pointe.

    Schon die alten Griechen… nein, bei diesem Satz schalten Sie aus. Lieber gleich zu den Römern: Die bauten ihre ganze Kultur auf der griechischen auf. "Kein römischer Komödienschreiber, Philosoph, Historiker oder Rhetoriker macht einen Hehl daraus, dass er sich bei den Griechen bedient", schreibt Theisohn. Und niemand macht ihnen einen Vorwurf daraus, im Gegenteil: Ein griechischer Autor als Vorlage ist ein Garant für Qualität. Die qualitätsvolle Nachahmung nennen die römischen Theoretiker "imitatio", und als größter in dieser Kunst gilt ihnen Vergil. Der hat von Homer das Beste genommen und etwas eigenes daraus gemacht.

    Auch im Mittelalter war Originalität kein Ziel literarischer Arbeit. Hier strebt der Autor nichts anderes an als eine "Wiedererzählung" eines bekannten Stoffes, allerhöchstens angereichert mit eigenen Funden und Wendungen. Ursprung und Wahrheit sind ohnehin bei Gott, als dessen Feder sich ein Autor allerhöchstens begreifen darf; keinesfalls als Besitzer geistigen Eigentums.

    Die folgende Epoche ist dann ausgesprochen eigentumsbewusst. Das hat auch mit dem Buchdruck zu tun, der dem Text eine neue Materialität und Stabilität gibt, ihn aber auch der Schlamperei und dem Missbrauch aussetzt: Zahlreich sind die Klagen über fehlerhafte und illegitime Nachdrucke. Besonders heftig wettert Luther gegen das Nachdruck-Unwesen, und zwar als echter Protestant mit dem Argument, hier werde Arbeit gestohlen. Im 17. Jahrhundert spricht man dann gar von "Seelenraub"; kennt aber auch die lobenswerte Aneignung, ähnlich der römischen Imitatio, die ästhetisch hochstehende Kunstwerke hervorbringt. Von nun an wird die Auseinandersetzung um Originalität und Nachahmung differenzierter geführt.

    Philipp Theisohn verfügt über seinen Stoff mit der Souveränität eines Alten Hasen, obwohl er erst 35 Jahre alt ist. Es gibt nicht viele Germanisten seiner Generation, die vergleichbar flüssige und elegante Wissenschaftsprosa zustande bringen. Theisohn steigt tief in einzelne, für den Stand der Originalitätsdiskussion besonders stichhaltige Werke ein - in den Don Quijote und den Werther, in Novellen von Gottfried Keller oder Frischs "Stiller", ohne dafür mehr als zwei, drei Seiten zu benötigen. Theisohn tut sogar etwas, was gemeinhin als Todsünde gilt: Er hält mit seiner Sympathie für einen bestimmten Plagiatorentyp nicht hinter dem Berg. Mit Lessing macht er sich über all die Originalgenies lustig, die stolz darauf sind, nichts von anderen zu nehmen, und zitiert dessen Satz aus dem "Freigeist": "Abgeborgt, oder selbst erfunden: es ist gleich viel. Es muss ein kleiner Geist sein, der sich Wahrheiten zu borgen schämt." Nicht anders äußert sich Goethe, wenn er zu Eckermann sagt, seine eigentliche Gabe sei es gewesen, zu sehen und zu hören, zu sammeln und zu ernten, was Andere für ihn gesät hatten. Ebenso Heine, der den literarischen Diebstahl zum poetischen Recht erklärt. Der bekannteste Propagandist geistigen Diebstahls war bekanntlich Brecht, der ganz offen nach dem Motto verfuhr "Nimm, was du brauchst" und das Eigentumsrecht, auch das geistige, als bürgerliches Institut ohnehin für überholt hielt.

    Nie vergisst Theisohn, dass die Plagiatsdebatte nicht im luftigen Reich des Geistes ausgefochten wird, sondern auf dem harten Boden der Ökonomie. Er zeichnet auch die Entwicklung des Urheberrechts nach, das 1887 mit der Berner Konvention internationale Geltung erlangt. Lieber noch als bei dieser Materie verweilt er allerdings bei den kuriosen, ja krankhaften Fällen der Plagiatsgeschichte. Etwa bei dem Medizinprofessor Paul Albrecht, der 1890 sechs von zehn geplanten Bänden veröffentlichte, in denen er nichts anderes tat, als die Werke Lessings Vers für Vers mit vermeintlichen Vorlagen und unausgewiesenen Quellen zu vergleichen - ein absurdes Unternehmen. Noch vor seinem Abschluss beging der Verfasser Selbstmord. Ein Fall für den Arzt war auch der Rezitator Oskar Reichmann, ein Bekannter Kafkas, der in einem im Prager Tagblatt veröffentlichten Aufsatz sein eigenes Werk wiederzuerkennen glaubte - allerdings war er der einzige, der Ähnlichkeiten beider Texte bemerkte. Gerade die Abweichungen seien ja ein Beweis für die Perfidie des Plagiators, argumentierte Reichmann: Für Theisohn ein Zeichen, dass Plagiatsriecher immer einen leichten Hang zur Paranoia haben. Reichmann landete dann auch im Irrenhaus.

    In unsere Tage führen die abschließenden Bemerkungen zum "Copy-Paste"-Phänomen in Schule und Wissenschaft. Nicht so sehr empört den Autor dabei das juristische Delikt, sondern der Verlust an Qualität, der unvermeidlich entsteht, wenn Texte und Gedanken nicht mehr in den eigenen Kopf hinein und wieder heraus müssen, sondern nur noch digital hin- und hergeschoben werden. Studenten, lesen wir, entfalten in ihren Seminararbeiten keine Ideen mehr, sondern "geben eine Art Patchwork ab, einen Flickenteppich von Zitaten und aphoristischen Überlegungen." Diese Passage stammt nicht von Theisohn, sondern dem Bildungsforscher Gernot Böhme. Theisohn hat sie nicht gestohlen, sondern als Zitat ordentlich ausgewiesen. Mit Quellenangabe.

    Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte.
    Kröner, Stuttgart 2009. 577 S., 26.90 Euro.