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Hamburg
Einzigartige Stadtführung per Telefon

Die Besucher von "Signs & Wunder" am Jungen Schauspielhaus in Hamburg müssen lediglich ihre Handynummer angeben. Dann ruft ein Unbekannter an und nimmt sie mit - auf eine Reise durch Altona. Dabei verschwinden die Grenzen zwischen Theater und Wirklichkeit.

Von Alexander Kohlmann |
    Grafitti in Hamburg-Altona
    Grafitti in Hamburg-Altona (picture alliance / dpa / Angelika Warmuth)
    Das Handy klingelt. Am anderen Ende der Leitung ist eine Stimme, die ich nicht kenne.
    "Schönen guten Tag, hier spricht Alexander. Ich führe dich heute ein bisschen durch Ottensen, um den Stadtteil ein bisschen mit anderen Augen zu sehen oder vielleicht auch mit denselben und anderen Einflüssen, wo befindest Du Dich denn gerade?"
    Ich bin mir nicht sicher, ob der Mensch am Telefon mich sehen kann. Aber ich folge seinen Anweisungen, fast eine Stunde lang. Vor mir liegt der Ausgang des Parkplatzes vor dem Jungen Schauspielhaus.
    "So ein riesengroßer Parkplatz würde ich mal sagen." - "Schon fast am Tor sind wir." - "Ah, da sind so Steine." - "Ja, da sind so Steine." - "Ah."
    Die Stimme am Telefon sagt, wo es langgeht. Ich gehe durch die Tore nach draußen. Und mache mich auf eine Reise durch einen Stadtteil, der typisch ist für attraktive Millionenstädte. Früher wohnten hier die Arbeiter, dann die Künstler. Inzwischen verdrängen Luxus-Bauprojekte die Alteingesessenen.
    "Und ich bitte Dich um noch etwas, und zwar, dass Du Dich schön langsam bewegst. Geh nicht schnell oder so. Geh gemächlich, geh ruhig, guck an, was Du siehst"
    Ob mein unbekannter Führer mich sieht oder nicht, er kennt sich gut aus. Während wir durch Altona laufen, verschwimmen die Grenzen zwischen Theater und Wirklichkeit. Die Grundschüler, die mich in einer Schule in der Gaußtraße erwarten, lesen mir aus ihren Lieblingskinderbücher vor. Sie sind echt, keine Frage. Genau wie die kleine verwunschene Tapas-Bar, die die Stimme am Telefon offenbar gut kennt.
    Mit dem neuen Standort vernetzen
    Wie auch das Geheimnis der Besitzerin. In einem für normale Besucher nicht erkennbaren Raum malt sie Bilder. Ein verstecktes Atelier, das ich ohne die Stimme am Telefon nie gesehen hätte. Aber der alte Mann auf der Bank am Rand der Straße? Ist das jetzt ein Schauspieler oder ein Bewohner? Kann die große, menschenleere Piazza mit dem Springbrunnen in der Mitte wirklich ernst gemeinte Architektur im einstigen Arbeiterviertel sein? Oder macht sich hier die Gentrifizierung über sich selber lustig? Mit dem Projekt "Sings & Wunder" will das Junge Schauspielhaus seinen neuen Standort an der Gaußstraße ganz unmittelbar mit Hamburg-Altona vernetzen.
    "Also jeder einzelne der Telefonisten hat sich sehr intensiv damit auseinandergesetzt, wie seine Route aussieht. Das heißt, das sind ganz persönliche Einblicke. Da heißt es nicht so die Navigation nach rechts und dann wieder gerade, sondern es gibt Details auf der Strecke, die interessant sind, die man finden kann, das kann ein überquellender Mülleimer sein, das können Graffitis an der Wand sein, also ganz unterschiedlich",
    erklärt Jürgen Salzmann vom Projekt "Stockholm Syndrom". Er will den Besuchern die Augen öffnen für ein Altona jenseits der digitalen Stadtpläne. Es gehe darum, die Bühne zu sprengen. Und sich dabei auch mit der Zukunft des Stadtteils auseinanderzusetzen, ergänzt Co-Projektleiter Martin Thamm.
    "Dieses Thema mit dem großen Wort Gentrifizierung, das ist uns dann auch immer wieder begegnet, das hier dieser Wandel stattfindet, das hier ein Wandel stattfindet, das wir einen Fotografen dabei haben, der eigentlich gerade sein Atelier verloren hat, weil ein, da muss ich jetzt ein bisschen vorsichtig sein, der eben aus seinem Atelier raus muss, weil jemand anderes das umgestaltet und er das nicht mehr bezahlen kann".
    13 verschiedene Stadtrundgänge sind so entstanden. 13 Wege, "to find a magic moment", wie es im Untertitel heißt. Die Stimme am Telefon ist bei meiner ganz persönlichen Entdeckungsreise immer dabei. Ich weiß immer noch nicht, ob er mich sehen kann, aber er weiß alles über die Fährten, auf denen ich mich bewege.
    Eine absurde Art von Identifizierung mit dem Schutzengel setzt während des Walks durch die Stadt ein - und Neugierde: Wird der Mensch am Telefon am Ende einfach auflegen, nachdem wir sogar über persönliche Dinge gesprochen haben. Oder werden wir uns zum Schluss der Performance kennenlernen? Und überhaupt: Wo sitzen diese Telefonisten, die ab Freitag Abend mindestens 30 Personen durch Altona lotsen. Haben sie Kameras? Große Stadtpläne? Eine Zentrale? Inzwischen taste ich mich durch einen menschenleeren Flur in einem einsamen Gebäude. Und frage mich, wo diese Reise enden wird.