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Hamburger Erklärung zur Leseförderung
"Das Lesen muss als eine nationale Aufgabe verstanden werden"

Knapp 20 Prozent der Zehnjährigen in Deutschland sind funktionale Analphabeten: Sie können Gelesenes nicht verstehen. Eine Gefahr für die Demokratie, sagte die Präsidentin des deutschen PEN-Zentrums Regula Venske im Dlf. Als Unterzeichnerin der Hamburger Erklärung fordert sie einen nationalen Lesepakt.

Regula Venske im Gespräch mit Michael Köhler |
    Kinder lachen in die Kamera. Sie halten ein Plakat vom Lese-Fest hoch.
    Die Hamburger Erklärung für bessere Leseförderung soll Kindern zugute kommen. (Berufsbildungswerk Leipzig / Christiane Fritsch)
    Michael Köhler: Im September hat die Kinderbuchautorin Kirsten Boie die Hamburger Erklärung veröffentlicht. "Jedes Kind muss lesen lernen", so die Forderung der Erstunterzeichner, zu denen auch Regula Venske, die Präsidentin der Schriftstellerorganisation PEN-Zentrum Deutschland, sowie viele andere gehören. Grundlage der Erklärung, die heute an Bundesbildungsministerin Anja Karliczek in Berlin überreicht wurde, ist die Tatsache, dass jeder fünfte Viertklässler nicht sinnentnehmend lesen kann.
    Ich habe Regula Venske gefragt, warum sie diese Hamburger Erklärung auch als Schriftstellerverband aufgesetzt haben und unterstützten.
    Lesen als Schlüssel zur Teilhabe
    Regula Venske: Der Anlass für Kirsten Boie, die das Ganze initiiert hat, war natürlich der Schock nach den neuesten Zahlen, wenn knapp ein Fünftel der zehnjährigen Kinder in diesem Land nicht sinnverstehend Lesen gelernt haben am Ende des vierten Schuljahres. Für uns als PEN-Zentrum gab es verschiedene Anlässe, um da mitzumachen. Natürlich wissen wir als Schriftsteller, wie wichtig fürs Leben eines jeden einzelnen Menschen das Lesen ist und die Lust am Lesen und auch die Freude an der Literatur und die ganze Welt, die einem dadurch eröffnet wird.
    Aber es ist auch ein politischer Hintergrund, der uns mit besorgt stimmt, denn das Lesen ist nun mal die Schlüsselqualifikation in unserer Gesellschaft, um teilzunehmen, um teilzuhaben an der Gesellschaft. Die Meinungsfreiheit basiert ja auf Informationsfreiheit und wer nicht sinnverstehend Lesen kann und nicht die Informationen wirklich verarbeiten kann, die es ja in der Welt gibt - sei es kulturell, sei es politisch, sei es auch wissenschaftlich, wenn das populär aufbereitet ist -, daran müssen doch viele Menschen teilnehmen, um sich dann auch in der Gesellschaft einbringen zu können und um fundiert eine Meinung sich zu bilden. Es gefährdet die Demokratie, wenn so ein großer Teil der Gesellschaft nicht mehr wirklich sich informiert bilden und auch eine Meinung bilden kann.
    Köhler: Sie haben den Bericht, die Petition an Bundesbildungsministerin Karliczek übergeben. Was sagt die dazu? Oder anders gefragt: Was erwarten Sie sich von der Bundespolitik? Denn das Ganze ist ja eine Sache, wenn ich Sie richtig verstanden habe, die schon auch im Vorschulischen, also vor der Grundschule schon greifen soll.
    "Vorlesen ist etwas Wunderbares"
    Venske: Im Grunde muss es einen Lesepakt geben, an dem alle beteiligten Akteure jetzt mit beteiligt sind, in der Politik, in der Kultur, in der Gesellschaft. Das Lesen muss als eine nationale Aufgabe verstanden werden. Wenn es einen Digitalpakt gibt, bei dem auch ein Grundgesetz geändert werden soll, dann kann das ja fürs Lesen genauso gelten. denn die schönste Digitalisierung in den Schulen wird nichts nützen, wenn die Schüler nicht lesen gelernt haben und sich dann auch die Inhalte entsprechend damit erarbeiten können.
    Sie haben recht: Das betrifft schon die vorschulische Bildung und Erziehung, wobei das ja noch ganz spielerisch sein kann. Das Vorlesen ist ja etwas Wunderbares. Das ist ja nicht mit Leistungsdruck verbunden. Und natürlich der Spracherwerb. Da sind die Kitas gefragt, da sind die Grundschulen gefragt, da ist die Lehrerausbildung gefragt, da sind ganz viele Akteure auf regionaler und auch auf Bundesebene gefragt. Es gibt ja schon sehr viel Forschung, es gibt sehr gute Konzepte. Wichtig ist aber doch, dass die jetzt einmal zusammengeführt werden und dann auch wirklich umgesetzt werden.
    Köhler: Frau Venske, man reibt sich ein bisschen die Augen, wie in einem Industrieland wie Deutschland, einem hochentwickelten, es eine Zahl gibt funktionaler Analphabeten von etwa sieben Millionen. Wir dachten lange, es sei nur eine Million; es sind sieben. Und die Dunkelziffer wird wahrscheinlich noch höher sein.
    Venske: Ja.
    Üben, üben, üben
    Köhler: Didaktiker erklären uns: Ein Problem sei auch die Heterogenität der Schüler, die unterschiedlichen sozialen Herkünfte. Und das in einem Land wie Deutschland, wo das Beschaffungsproblem von Büchern oder Materialien ja keines mehr ist – Bücher sind nicht mehr teuer; im Gegenteil: Ein Knopfdruck und man hat den ganzen "Faust" oder den ganzen "Goethe" präsent. Das kann es nicht sein. Wo liegt das Problem?
    Venske: Sie sagen es. Es ist natürlich ein wirklicher Skandal. Die wichtigste wirtschaftliche Ressource, die Deutschland hat, ist die Bildung der Bürger. Wo liegt das Problem? – Ich glaube, schon ein Teil des Problems ist, dass viele nicht verstehen, was sinnverstehendes Lesen bedeutet und funktionales Analphabetentum. Das kann ja sein, dass diese Kinder durchaus etwas vom Blatt lesen können, aber sie verstehen nicht, was sie da lesen. Lesen muss trainiert werden so wie Klavierspielen oder wie Basketball spielen, und das geht nur auch mit Üben, Üben, Üben und mit viel Training und dafür muss das Bewusstsein geschärft werden.
    Köhler: Was erwarten Sie sich von der Bundespolitik, wo ja doch die Bildung in Länderhoheit stattfindet?
    Venske: Ich erwarte mir, dass die Kultusminister, wenn sie jetzt hier tagen – sie haben ja gestern eine Fachtagung auch schon gehabt über Erwerb und Vermittlung basaler Sprachfertigkeiten im Lesen und Schreiben -, dass die Kultusminister sich darüber weiter austauschen und auch zu Kooperationen kommen. Denn es gibt tatsächlich gravierende Unterschiede zwischen den Bundesländern. In Hamburg zum Beispiel, obwohl Hamburg ein Stadtstaat ist, stehen wir recht gut da. Da sind es "nur" etwa 14 Prozent der Zehnjährigen, die nicht sinnverstehend Lesen können. In Berlin sind es 25 Prozent. Bremen liegt so bei 20. Da gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern und da sollte man doch dann von denen lernen, bei denen die Zahlen besser aussehen, und dagegen keine Abwehr haben. Kooperation ist da auf jeden Fall gefragt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.